Im heutigen Kulturleben ist György Ligeti durchaus präsent: Viele seiner Kompositionen sind, teils mehrfach eingespielt, auf Tonträgern erhältlich. Schlüsselwerke haben den Sprung ins Repertoire geschafft und finden regelmäßig ihren Weg in Konzertprogramme. Mit Blick auf Werk und Person ist zudem längst eine von Einzelpersonen kaum noch zu überblickende Forschungsliteratur entstanden. Worauf aber gründet sich die Attraktivität Ligetis für die Gegenwart? Einige persönliche Gedanken zum einhundertsten Geburtstag des Komponisten.
Meine erste Begegnung mit der Musik György Ligetis vollzog sich nicht über einen klingenden, sondern über einen visuellen Eindruck, nämlich über die Abbildung einer Notentextseite im damaligen Musiklehrbuch der Sekundarstufe I. Zu sehen war da der Beginn des Cembalostücks „Continuum“ (1968): Die irritierende Anordnung von repetierten kleinen Terzen, über zwei Systeme hinweg in gegenläufiger Bewegung und rasendem Tempo aus beiden Händen geschüttelt, um dann zunächst in der rechten und gleich darauf in der linken Hand schrittweise zu differierenden Ketten von drei, vier und fünf Tönen anzuwachsen – all das wollte für den Zwölfjährigen keinen rechten Sinn ergeben. Als ich schließlich einige Zeit später die Gelegenheit hatte, das rätselhafte Stück zu hören, war ich ebenso schockiert wie verblüfft: Denn der Eindruck eines flächig ausgestreuten Klangbands, aus dem rhythmische Strukturen hervorzutreten beginnen, die sich ständig verändern und trotz gleichmäßiger Motorik agogisch zu fluktuieren scheinen, erschütterte meinen bisherigen musikalischen Erfahrungshorizont. Und so wurde Ligetis Spiel mit Illusionen zu einer Initialzündung, um in die Welt des zeitgenössischen Komponierens einzutauchen.
Körperlichkeit und Materialität
Diese Anekdote mag auf ein Phänomen verweisen, das in Ligetis Schaffen allenthalben eine Rolle spielt und zu den markantesten Eigenschaften seines Individualstils gehört: Immer wieder kreist die Musik um das Ausreizen von Grenzen, um den für Ausführende bisweilen körperlich wie mental extrem aufreibenden und bis zur Überforderung hin zugespitzten Prozess des Annäherns an Bereiche, in denen die spezifische Materialität des Komponierten in ungewohnte Wahrnehmungsqualitäten umschlägt. Der Perpetuum-mobile-Charakter beispielsweise, den Ligeti in „Continuum“ entfaltet, indem er verlangt, die Einzeltöne dürften „kaum mehr wahrzunehmen“ sein und müssten „zu einem Kontinuum verschmelzen“, zieht sich unabhängig von den jeweils verwendeten Besetzungen wie ein roter Faden durch das gesamte Schaffen. Er findet sich etwa im „Prestissimo con sordino“-Satz aus der Sonate für Viola solo (1991–94), wo sich aus der gleichmäßig dahinrasenden Bewegung, unterstützt durch polyrhythmische Akzentuierung in Verbindung mit dem differierenden Klangcharakter der einzelnen Saiten, fragmentarische Melodiegestalten herausschälen. Er findet sich aber auch im neunten Stück aus dem zweiten Band (1988–94) der „Études pour piano“, dessen Titel „Vertige“ (Schwindel) jenen illusionären musikalischen Raum umreißt, den Ligeti – wiederum im „Prestissimo“-Tempo – aus einer Übereinanderschichtung permanent abstürzender chromatischer Skalen drechselt, um seine Innenseite als Projektionsfläche für kurzzeitig aufscheinende melodische und harmonische Elemente zu nutzen.
Wie stark bei alldem die Physis der Ausführenden involviert und in die musikalischen Verläufe einkalkuliert ist, wird gleichfalls anhand der Klavieretüden deutlich. Mit der Bemerkung, er sei von der Idee einer „taktilen Form“ ausgegangen und habe daher im Kompositionsprozess die „Sukzession von Muskelspannungen“ (Gesammelte Schriften II, S. 289) mitbedacht, verweist Ligeti explizit auf die Verankerung seines musikalischen Denkens in der Körperlichkeit. Solche Verbindungen lassen sich weit zurückverfolgen: Sie bestimmen bereits den spezifischen Zugang zu den Stimmwerkzeugen, den der Komponist in den „Aventures“ (1962) und „Nouvelles Aventures“ für drei Sänger*innen und sieben Instrumentalisten (1962–65) suchte. Dort sind die Grenzen jedoch anders gezogen, denn es geht um die Erkundung vokalen Ausdrucks und emotionaler Gehalte, der sich Ligeti unter vollständigem Verzicht auf „die bedeutungstragende, rein semantische Schicht der menschlichen Sprache“ allein durch Befragung „der musikalischen und der affektiven Schicht der Sprache“ (Ges. Schriften II, S. 78) widmete. Die Theatralität, die sich in diesem Fall als Resultat eines engmaschigen Netzes von Vortragsanweisungen in Situationen scheinbaren Kommunizierens zwischen den Mitwirkenden in Form einer audiovisuellen Schicht entfaltet, ist kein Einzelfall in Ligetis Schaffen. Seine instrumentalen und vokalen Konzeptionen sind vielmehr generell von multimodalen Zusammenhängen geprägt, die sich in der Zurückgeworfenheit auf die eigene Körperlichkeit oder im Prozess der Kommunikation mit Anderen äußern, weshalb sich der musikalische Sinn nicht allein durch das Hören erschließt, sondern auch den Akt des Sehens, das Erlebnis in der Konzertsituation erfordert.
Befragung der Wahrnehmung
Dass solche Grenzsituationen nicht nur die Selbstwahrnehmung der Ausführenden, sondern in gleichem Maße auch die ästhetische Erfahrung des Publikums tangieren, hängt damit zusammen, wie Ligeti sie nutzte, um bestimmte Wahrnehmungsgewohnheiten zur Disposition zu stellen. Einschlägiges Beispiel hierfür ist die Arbeit mit mikropolyphonen Texturen in den beiden Orchesterstücken „Atmosphères“ (1961) und „Lontano“ (1967): Auf jeweils unterschiedliche Art arbeitete der Komponist eine Vielzahl von individuell gestalteten, melodischen Einzelstimmen aus, tilgte aber durch ihre kanonische Übereinanderschichtung jegliche Empfindung von Melos. An deren Stelle tritt nun die Wahrnehmung eines ununterbrochenen Klangflusses aus in sich bewegten Klangbändern und -flächen, der oft genug in Abbrüche und Umschwünge mündet und dem Publikum den Boden unter den Füßen wegzieht. Auf diese Weise wird der Klangkörper zum Hyperinstrument, mit dem sich der Umschlag einer kompositorischen Technik (Polyphonie) in eine unerwartete Wahrnehmungsdimension (Harmonik) und damit ein Verwirrspiel mit Hörerwartungen realisieren lässt.
Konsequent setzte Ligeti den damals eingeschlagenen Weg fort, indem er in immer neuen Anläufen die in westlicher Musik vorherrschenden rhythmisch-metrischen Strukturen und Stimmungssysteme hinterfragte, um so die Grenzen der musikalischen Diskurse neu auszuhandeln. Bereits in „Ramifications“ für zwölf Solostreicher (1968–69) strebte er beispielsweise danach, mittels Überlagerung gegeneinander verschobener Vierteltonstimmungen die Beschränkungen der gleichschwebend temperierten Chromatik zugunsten harmonisch vielfältigerer Bildungen aufzuheben. Die darüber hinausgehende Suche nach Alternativen zum temperierten System blieb für Ligetis gesamtes Komponieren bestimmend: Dem musikalischen Vexierspiel des Trios für Violine, Horn und Klavier (1982) legte er die Konfrontation von Klaviertemperierung, reiner Quintenstimmung der Violine und untemperierten Naturtönen im Horn zugrunde. Im Konzert für Violine und Orchester (1990–92) wiederum kombinierte er Naturtöne der Hörner mit davon abweichenden Naturtonspektren, die sich aus den leeren Saiten verstimmter Orchesterstreicher ergeben. Und der fremdartig wirkende Beginn des „Hamburgischen Konzerts“ für Horn und Orchester (1998–2002), in dem er die auf unterschiedlichen Grundtönen basierenden Klangspektren von Naturhörnern mit dem Solohorn zu einem Klanggemisch voller Schwebungen verwebte, verdeutlicht, welche unerhörten Ausdrucksqualitäten er solchen Verfahren abgewinnen konnte.
Spiegel der Zeitgeschichte
Freilich sind es nicht nur die Eigenheiten der Musik, die zur Auseinandersetzung mit Ligeti reizen, sondern es sind auch der Status des Komponisten als Figur der Zeitgeschichte und als kritische Instanz innerhalb der mitteleuropäischen Avantgarde, die ihn zu einer bemerkenswerten Persönlichkeit machen. Vieles davon spiegelt sich in Schriften und Gesprächen, die über einen Zeitraum von gut sechs Jahrzehnten hinweg den Widerhall kultureller Debatten einfangen. Sei es die tastende Aufbruchsstimmung in den frühen Texten aus Ungarn, seien es die von Faszination und hoffnungsvoller Erwartung geprägten Theorieentwürfe aus der Zeit nach Ligetis Flucht in den Westen, oder seien es die autobiografischen, den Spuren der eigenen Identität nachforschenden Entwürfe späterer Jahre: Immer geben die Worte Aufschluss darüber, wie sich der Komponist vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens positionierte und beharrlich seinen Weg als Suchender verfolgte. Und nur so erschließt sich auch Ligetis eigenartige Doppelposition, einerseits eng mit den Protagonisten der Nachkriegsavantgarde vernetzt zu sein, andererseits aber aus der Distanz eines teilnehmenden Außenstehenden heraus deren Kompositionsverfahren zu kritisieren, um im Gegenzug einen individuellen Weg jenseits künstlerischer Ideologien zu beschreiten.
Auch von dem, was Ligeti über den Wirkungsbereich der eigenen Kunst hinaus fesselte, legen die gedruckten Quellen beredtes Zeugnis ab: Sie künden von der Faszination für bestimmte Musik der Vergangenheit und von der befruchtenden Auseinandersetzung mit nicht-westlichen Kulturen; sie dokumentieren das Interesse am Schaffen von Kollegen und komponierenden Außenseitern wie Harry Partch oder Conlon Nancarrow; sie geben Aufschluss über die Beschäftigung mit bildender Kunst und Architektur oder bieten Einblick in Themen aus Naturwissenschaft und Mathematik, denen Ligeti gleichfalls wesentliche Impulse für seine Arbeit verdankte. Die geradezu universalistisch anmutenden Strategien, sich komplexe Zusammenhänge zu erschließen, brachten es mit sich, dass der Komponist nie müde wurde, die Grundbedingungen seiner Ästhetik einer klärenden Diagnose zu unterziehen und nach Wegen zu forschen, um die Grenzen des einmal Erreichten erneut auszureizen und über sie hinauszugelangen. Damit verkörperte Ligeti eine Haltung, in der Wissensdrang, Lernen und vor allem Staunen eine zentrale Rolle spielen: eine Haltung, die heute mehr und mehr vom geschmacksbedingten Zugriff auf allzeit Vorhandenes verdrängt wird, obgleich doch die Entstehung jeglicher kritisch sich positionierenden Kunst auf ihr basiert.
Zum Nachhören
- The Ligeti Project. Ausgewählte Einspielungen wichtiger Komposition auf 5 CDs. Teldec (2008, einzeln erhältlich)
- György Ligeti: Works. Ausgewählte Einspielungen wichtiger Kompositionen auf 9 CDs. Sony (2010, einzeln erhältlich)
- György Ligeti: Orgelwerke. Dominik Susteck (Orgel). Wergo WER (2013)
- György Ligeti: Études pour Piano. Cathy Krier (Klavier). CAvi-music (2020)
- György Ligeti: Sämtliche Werke für Chor a cappella. SWR Vokalensemble, Leitung: Yuval Weinberg. SWR Classic (2023)
Zum Nachlesen
- Ulrich Dibelius: György Ligeti. Eine Monographie in Essays, Mainz: Schott 1994
- „Träumen Sie in Farbe?“ György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Wien: Zsolnay 2003
- György Ligeti: Gesammelte Schriften, hrsg. von Monika Lichtenfeld, 2 Bde., Mainz: Schott 2007
- Louise Duchesneau / Wolfgang Marx (Hrsg.): György Ligeti. Of Foreign Lands and Strange Sounds, Woodbridge: Boydell Press 2011
- Amy Bauer / Márton Kerékfy (Hrsg.): György Ligeti’s Cultural Identities, Abingdon: Routledge 2018