„Da sitzt man im Marinskij-Theater, erwartet beste russische Tradition und dann muss man sich die Arbeit eines Castorf-Schülers ansehen“, stöhnte ein deutscher Besucher, als sich für Nikolai Rimski-Korsakows Oper „Aleko“ der Vorhang noch vor Musikbeginn öffnete und eine auf dem Hocker stehende Frau im Hemdchen zu erblicken war, eingezäunt von einem rot ausgeleuchteten Gefängnis. Aber Mariusz Trelinskis Inszenierung bietet nicht die Zertrümmerung, sondern eine musikalisch und textlich inkongruente, parallel geführte Bebilderung der originalen Dreieckgeschichte.
Der selten gespielte Operneinakter des 19-jährigen Komponisten ist nicht einmal in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters verzeichnet; er erweist sich als russischer Verismo-Beitrag, mit einer dramaturgisch wenig überzeugenden Reihung von Arien, sowie Chor zur Eröffnung und am Ende. Unverändert freiheitlich ist jedoch die Aussage von Vladimir Nemirovich-Danchenkos Libretto: die Zigeuner verurteilen Aleko, der sich ihnen aus Liebe zu Zemfira angeschlossen hatte, nicht, als er die Untreue und einen jungen Zigeuner, seinen Nebenbuhler, ermordet; aber sie schließen ihn aus ihrer Gemeinschaft aus und ziehen weiter.
Anstelle des besungenen, nächtlichen Zigeunerlagers, sorgen in der St. Petersburger Aufführung, bei einer Hochzeit mit Konfetti und Luftschlangen, Tröten wiederholt für harmoniefremde Töne. Und nachdem das erfolgreich blutbefleckte Laken der Hochzeitsnacht ausgestellt wurde, erstrahlt zum Liebesgesangs von Alekos Nebenbuhler ein Herz aus Glühbirnen.
Überzeugender gelingt Tschaikowskis einaktige Oper „Iolanta“. Der 22-köpfige Damenchor ist kostümiert in eine Ecke des Orchestergrabens gequetscht und erscheint nur in der Schlussszene auf der Bühne. Denn die Geschichte von der über ihre Blindheit uninformierten, weil vom Vater abgeschirmten Königstochter wird als Kammerspiel im Geviert einer Blockhütte auf der Drehbühne dargestellt. Zwischen einem animierten Rotwildjagd-Film am Anfang und einem kleinen Bühnenfeuerwerk am Ende, agieren die Freunde Graf Robert von Burgund (Vladimir Moroz) und Graf Vaudémont betont flapsig, während der nach gelungener Operation vollzogene Schritt Iolantas von der Blindheit zum Sehen ebenso marginal bleibt, wie das Wirken des islamischen Arztes Ibn-Hakia (Alexander Gergalow). Der in Schwarz-Weiß-Tönen gehaltene Bühnenraum von Boris Kudlicka unterschlägt das Bild des wilden Gartens, in dem sich die Liebenden nahe kommen: die verzweifelte Suche des Vaters König René (Mikhail Kit) und der Bediensteten nach Iolanta (Gelena Gaskarova), die hier in ihrem Zimmer verbleibt, wird damit unglaubhaft.
Die zumeist jungen Protagonisten singen imposant, aber mit Überdruck, was auf Kosten der Stimmschönheit und bisweilen auch der Intonation geht. Valery Gergiev wird zwar als Musikdirektor dieser mit Baden-Baden koproduzierten Doppelpremiere auf dem Programmzettel genannt, aber unter dem Subdirigenten Pavel Smelkov spielen die Streicher unsauber, und der von Leonid Teplyakov und Pavel Petrenko einstudierte Chor ist nicht zusammen.
Neben dem internationalen Aushängeschild jenes großen Opernhauses, das nach der sowjetischen Bezeichnung Kirow wieder den zaristischen Namen Marinskij angenommen hat, verfügt die Stadt mit der „St. Petersburg Opera“ seit 1987 über ein zweites stehendes Opernhaus, das sich im privaten, neobarocken Schlosstheater des Barons Sergey Pavlovich von Dervis, mit nur 180 Sitzplätzen etabliert hat. Obgleich pro Saison nur eine Neuproduktion erfolgt, verfügt dieses Haus mit 200 Beschäftigten nach 24 Jahren über ein beachtliches Spielplan-Repertoire an personalaufwändigen, groß inszenierten Opern von Donizetti, Verdi, Cilea, Puccini, Britten, Schostakowitsch und Mussorgski, inklusive „Boris Godunow“ in der Urfassung, sowie Siegfried Matthus’ „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Bläser und Schlagwerk des 45-köpfigen Orchesters sind unterhalb der Bühne, in einem sich an den Orchestergraben anschließenden Raum platziert, mit digitalem Sichtkontakt zum Dirigenten. Auch in szenischer Hinsicht sind deutliche Ansätze zu ungewöhnlichen Sichtweisen zu konstatieren.
Konventioneller gibt sich das Theater Musikalische Komödie. Doch auch der Spielplan dieses 1929 gegründeten Theaters verdient besondere Beachtung. Emmerich Kálmáns „Das Veilchen vom Montmatre“ sucht der Operettenliebhaber auf deutschen Spielplänen vergeblich. Im St. Petersburger Operettentheater stehen nicht nur Kálmáns „Czardasfürstin“, „Gräfin Maritza“ und „Der Vetter aus Dingsda“, sondern auch dessen „Bajadere“ und das 1930 in Wien uraufgeführte „Veilchen vom Montmatre“ auf dem Programm, letzteres als ein echter Dauerbrenner: die an „La Bohéme“ gemahnende Story dreier Künstler und ihrer Geliebten wurde hier 1933, 1944, 1953, 1958, 1976 soeben erneut in Szene gesetzt. Die Neuinszenierung durch Gastregisseur Muklov Sinemar aus Belgrad überblendet gerahmte Gemälde des Pariser Künstlerviertels mit grellbunten Videoprojektionen. Während deutsche Operettenproduktionen sich in der Regel unter weitestgehender Aussparung der Dialoge von Musiknummer zu Musiknummer retten, wird den Dialogen von Julius Brammer und Alfred Grünwald hier ungewöhnlich breiter Raum gegönnt, und auch der dritte Akt, mit gleich mehreren Komikern, sehr breit ausgespielt.
Die rollendeckenden Solisten singen beachtlich und tanzen auch ausnehmend gut. Und die Szene, in welcher der Musiker Florimond Hervé (Jean Korbimov) im Spiel in die Funktion des musikalischen Leiters schlüpft und sich hierfür möglichst elegant in den Orchestergraben hinab schwingt, ist ein echtes Kabinettstückchen.
Avantgardistisches Musiktheater mit neuen Stücken hat es offenbar schwerer. Im Museum für zeitgenössische Kunst Erarta gibt es im Rahmen der „Poltora Spektakla“ einen Abend über Ostrowski und die Futuristen. Zwei Schauspieler melodramatisieren mikrofonverstärkt zur Dauerbegleitung zweier Jazzmusiker. Sie schlüpfen in Kunstfiguren von Marguerite und Schlemmer, werden zu Don Quichotte und Hamlet und wühlen in Bergen von Briefen, während Videos das kommende Bersten der Technisierung signalisieren.
Zusammen mit Vertretern der russischen Musiktheater, deren Organisationsstruktur jener des Deutschen Bühnenvereins vergleichbar ist, tagte die Sektion Musiktheater des Internationalen Theater Instituts. Beim Thema „Russian musical theater NOW“ konstatierten die Teilnehmer aus Europa zunächst ein Missverständnis zwischen „musikalisch“ und der Gattung „Musical“.
Theaterkritiker Vladimir Dudin verwies darauf, dass neuartige szenische Mozart-Produktionen in Russland auch als zeitgenössische Musiktheater rezipiert würden.
Ein Großteil jener Stücke, die von russischen Theaterleuten vorgestellt wurden, fiel mehr unter den Begriff „Musical“ als unter einen musiktheatral innovativen Ansatz.
Den sucht Ilia Moshitsky, der Künstlerische Direktor der „Music-hall“, durch Circus-Effekte schwebender Tänzer in der in englischer Sprache gesungenen „Halloween Story“ oder Multimedia-Effekte in dem Musical über Gagarin, „Space Love“.
Alexandra Monachova, Projektmanagerin des musikalischen Theaters der Republik Karelia, stellte ein grell buntes Andersen-Märchen-Musical vor, mit einem Kinderstar, inmitten von Erwachsenen. Als ein Andrew Lloyd Webber von St. Petersburg erweist sich Alexander Pantykin, der ein Musical nach dem anderen komponiert und selbst produziert. „Nora im Internet“, mit einer Mischung von Pop- und Opernmusik, deutet er selbst als „light Opera“, als Mischung von Oper und Musical.
Deutlich innovative Strukturen finden sich hingehen bei Sergy Newski, der bei Jörg Herchet in Dresden studiert hat. In „Platforma“ mischt er Elemente von Gesualdo und Weill, Sprechchöre und Chorgesang mit Videosequenzen einer bekanten russischen Nachrichtensprecherin in der Rolle einer Psychologin.
Nico Schaaftsma, Chef der Musiktheaterabteilung im „Netherlands Fund for Performing Arts“ berichtete, wie durch ungewöhnliche Aufführungs-Orte und -Zeiten in den Niederlanden neue Zuhörerschaften entstünden, wobei auch die Kluft zwischen Profis und Amateuren merklich schwinde.
Theaterproduzent YueWai Wong berichtete Positives aus Hongkong, wo 90 Prozent des Kulturetats für Darstellende Künste ausgegeben würden und wo Theater-Neubauten zu den bisher bestehenden 11 Theatern des Landes entstünden. Im Gegensatz zur traditionellen chinesischen Oper – als einer Form des Volkstheaters –, zeige ein großes internationales Festival auch westliche Opern-Programme. Früher hätten die Besucher im Theater gegessen, getrunken und sich laut unterhalten; dies habe sich merklich geändert. Die Menschen in Hongkong seien offen für neue Formen von Musiktheater, die sie gleichwohl stets als Unterhaltung rezipieren würden.
Von zunehmend mehr Festivals für neues Musiktheater in Deutschland berichtete der deutsche Dramaturg und Produzent Roland Quitt, und Laura Berman, die langjährige Leiterin der „Kunst aus der Zeit“ bei den Bregenzer Festspielen, läutete einen neuen Wettbewerb von „Music theatre NOW“ ein, der im Rahmen der Schwedischen Biennale im May 2013 in Jönköping stattfinden wird.
Einen Theaterneubau in Schweden hat soeben der deutsche Architekt Axel Tangerding, künstlerischer Direktor des Münchner Meta-Theaters, vollendet.
Die Ausschreibung für den Wettbewerb „Music Theatre NOW“ ist im Internet zu finden unter http://mtnow.iti-germany.de/content/worldwide-competition