„… wesentlich … die Bewahrung der Frische“, sagt György Kurtág in einem Gespräch mit Bálint András Varga. Steckt darin nicht ein Widerspruch? Die Fortsetzung: „Ja, ich weiß, wie eine besondere Stelle sein muss, aber es funktioniert oft gerade deshalb nicht, weil ich es weiß“.
Kann Nicht-Wissen bewahrt werden? Im neunzigjährigen Leben eines Meisters? Diese letztere Bezeichnung möchte er vermutlich als Erstes weglassen, vergessen wollen, um an Anfängliches zu kommen, Frisches, um sich selbst zu überraschen. „Dieser Tage hat mir die Arbeit immer wieder große Freude bereitet: Unerwartet blieb die Musik abermals stehen. Márta lobte diese Stellen, wo die Worte ins Stocken geraten und dann weiterfließen.“
Anfängliches ist für Kurtág nicht einfach Material. Material? Dieser allgemeine Begriff wäre ihm vermutlich völlig fremd. Kein Masterplan leitet diesen Komponisten bei der Arbeit. Eine Vision mag da sein, aber auch sie trifft immer wieder auf Unerwartetes.
Alles ist ab ovo lebendig. Es gibt für ihn kein abstraktes Material zu organisieren. Wärme ist Voraussetzung von Anbeginn, also Energie.
Zu musikanalytischen Verfahren hat Kurtág erst recht kein Zutrauen. Wenn er, nicht ganz ohne Koketterie, sagt, dafür sei er „zu dumm“, so nimmt er vielleicht bloß die Stelle des Narren ein, der auf dem Theater eine doppeldeutige Wahrheit sagen darf.
„Bewahrung der Frische“ ist ein Paradoxon von der Art, die er mag. Beide Wörter stehen plötzlich auf dem Prüfstand. Bewahrung verliert ihre Ruhe, und Frische wird zur Herausforderung. Nicht das Gewusste, also Abgelegte ist zu bewahren, sondern Frisches; aber das ist nicht unbedingt Neues, sondern neu Gefundenes, frisch Gehörtes. Es bewahren heißt eher, es zu schützen vor voreiligem In-Betrieb-Setzen.
Kurtág liebt das objet trouvé. Das plötzliche Erkennen von etwas allzu Gewohntem. Er kann einen C-Dur-Dreiklang in der Quintlage so setzen, als ob er der Erste wäre, der das wagt. Seine verzauberten einfachen Tonleitern sind legendär. Selbst Cluster, zum Unrat ältlicher Moderne verkommen, werden frisch aus seinen Händen.
Zu den Intervallen pflegt Kurtág besonders intime Beziehungen. Im Opus 1, dem Streichquartett von 1959, lässt er durch den ganzen Schluss-Satz alle Intervalle von der None bis zum Einklang der Grösse nach vorbeiziehen. Nicht abstrakt, sondern jedes in eigener, charakteristischer Umgebung.
Dieses Opus 1 ist freilich nicht der Anfang seines gesamten Œuvres, sondern schon ein Neubeginn nach einer langen Reihe noch fast unbekannter Frühwerke, als Zeichen für etwas Besonderes (man denkt an Beethovens Klaviertrios op. 1). Es folgen neun wichtige Werke in zehn Jahren und wieder eine Zäsur. Der Neubeginn danach bringt zunächst nicht das repräsentative Opus, bloß Spiele für den Klavier-Unterricht, aber im Nachhinein ist man gewarnt: Hier finden sich Ansätze zu Vielem, was folgen wird. Auch ganz zentrale Kürzest-Kompositionen. Kurtág sagt dazu: „‚Játékok‘ sind … ein neues op. 1 geworden. Dort gibt es kein System, keine Chromatik, einzig ein C in der Mitte der Klaviatur, um das herum man nach Tönen suchen kann. Das macht den Weg auch in andere Richtungen frei.“
Darauf entsteht ab 1975 eine stolze Reihe bis op. 20, die auch größer besetzte Werke enthält, mit denen György Kurtágs Weltruhm einsetzt. Zum Beispiel „Die Botschaften des verstorbenen Fräulein Trussova op. 17“.
Interessanterweise erfolgt mit dem Weltruhm wieder eine Schaffenszäsur, endend erst mit den vierzig Sätzen der Kafka-Fragmente für Sopran und Violine, einem Schaffensrausch von zwei Spätsommermonaten 1985.
Da öffnen sich für Kurtág auch die großen Orchesterpodien und Konzertsäle. Er beginnt sofort mit diesen Räumen zu spielen, in denen er die ausübenden Musiker verteilt, zum Beispiel in „What is the Word“ nach Beckett oder in „op. 27 Nr. 1“ und „op. 27 Nr. 2“, zwei konzertanten Werken, deren Opuszahlen sich auf die entsprechenden zwei Klaviersonaten von Beet-hoven beziehen. Es geht ihm dabei nicht um postmoderne Spiele mit Stilbrüchen und Zitaten, sondern um eine innere Zwiesprache mit einer Musik, die ihm sehr nahe ist.
Diese Doppelopus-Zahlenbegegnung ist bloß äußeres Zeichen für eine innere Geistergemeinschaft, die György Kurtág mit Komponisten der Vergangenheit verbindet. Vergangenheit aber nicht als historische, sondern gegenwärtig im Musikleben, nicht als bewahrtes Zeugnis einer anderen Zeit, sondern täglich frisch zu erschaffen.
Wer György Kurtág einmal zugeschaut und zugehört hat, wie er, meistens zusammen mit Márta Kurtág, junge Musikerinnen und Ensembles unterrichtet, wird nicht mehr vergessen, wie er Musik scheinbar vergangener Epochen nicht nur in die Gegenwart, sondern ins unmittelbare Jetzt holt. Wie wenn sie spielend noch einmal komponiert werden müsste.
Als gegen Ende der Achtzigerjahre auch in Ungarn eine lange Zeit mit schwierigen politischen Verhältnissen zu enden beginnt, schreibt Kurtág ein Werk, zu dessen Verständnis die Kenntnis der Geschichte seines Landes zwar nicht Voraussetzung ist, aber doch hilfreich sein kann: „Officium breve“, das dritte Streichquartett, in 15 Abschnitten, wird zu einem Zwiegespräch mit Anton Webern und Endre Szervánszky. Dabei übernimmt Kurtág direkt den vollständigen zwölftönig gearbeiteten Schluss-Satz von Weberns Zweiter Kantate (1943) und den Anfang des konsequent diatonischen Arioso aus Szervánszkys Streicherserenade von 1947. Die Sätze dazwischen schaffen durch auskomponierte Bezüge einen Kontakt zwischen zwei zunächst wie auf verschiedenen Planeten angesiedelten Kompositionen. Kurtág erinnert sich dabei nach vierzig Jahren an schwierige Diskussionen unter fortschrittlichen ungarischen Komponisten über die Frage, ob es nach den Forderungen nach einer volksnahen neuen Musik durch den sowjetischen Kulturfunktionär Schdanow noch möglich sei, auf dem Niveau eines Webern mit scheinbar einfacheren Mitteln eine gültige Musik zu schreiben, ohne Anbiederung an unfrische, abgelebte Formeln. Fünf Jahre später: „STELE“. Der Anfang, eine Schrecksekunde mit dem Anfang von Beethovens Leonore III. Berliner Philharmonie, auf dem Podium das sehr große Orchester. Die Oktave zersetzt sich sofort in schwankenden Intonationen. Mit leisesten Echotönen nehmen drei Klarinetten einen ersten Gesang auf. Das Folgende lässt sich hier nicht beschreiben. Es ist nie gehörte Orchestermusik. Ist das noch möglich?
Und wieder Einstimmiges: Hölderlin op. 35a (op. 35b noch immer offen, unpubliziert); Beckett, schon zum zweiten Mal. (Auf das dritte Mal, die Oper, dürfen wir heute warten. Sie ist weit gediehen und wächst täglich.)
Dies ist kein Überblick über György Kurtágs umfangreiches, großes Œuvre.
Wir kehren nochmals kurz zurück zum Anfang. Diesmal zur Schrift, zum Schreiben.
Ein musikalischer Gedanke ist von Anbeginn ein Lebewesen, das aber – nach europäischer Überlieferung – in Schriftlichkeit übersetzt werden muss. Für die Spielenden ergibt sich die Aufgabe, die Wärme des ursprünglichen Gedankens zu spüren, die ihm schon eigen war, bevor er aufgeschrieben wurde. Kurtág hat für seine eigene Musik besondere Notationsweisen gefunden, die scheinbar „ungenau“ sind, die nicht in einem komplizierten Notenbild eine Genauigkeit vortäuschen, welche nur in einer vorgelagerten Einfachheit zu finden wäre, im neu gehörten, frischen Gedanken.
Der Weg dahin kann Übenden lang scheinen, oder plötzlich auch ganz kurz.
Wahrheit in einem Moment. Ob die sich auch bewahren lässt? Wahrscheinlich muss sie ganz einfach immer wieder gefunden werden.