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Glass Marcano und Gerard Aimontche mit dem Chineke-Jugendorchester auf dem Lucerne Festival. Foto: Patrick Hürlimann
Glass Marcano und Gerard Aimontche mit dem Chineke-Jugendorchester auf dem Lucerne Festival. Foto: Patrick Hürlimann
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Wann sind wir angekommen?

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Der weite Weg zur Diversität als Selbstverständnis im Klassikbetrieb
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Ein 46-sekündiger Clip als Intro auf einer Webseite. Man sieht Musiker, die sich einspielen, in der Garderobe vorbereiten oder aufgeschlossen den Betrachter*innen entgegenlächeln. Nach 20 Sekunden sind zwei Frauen zu sehen, danach wieder die männlichen Kollegen oder das Orchester in der Totalen. Von nicht-weißen Musiker*innen ist nichts zu sehen. Die Rede ist vom Image-Film der Wiener Philharmoniker, einem Orchester, das als Paradebeispiel für eine äußerst späte geschlechter-paritätische Entwicklung gilt. Ob dieses Haus auch in Sachen Diversität Jahrzehnte hinterherhinken wird, bleibt zu beobachten.

Im klassischen Konzertbetrieb ist aber durchaus auch eine Sensibilisierung für dieses Thema festzustellen. Das Lucerne Festival gibt dem diesjährigen Festival-Programm sogar den Titel „Diversity“, um einen Gegenentwurf zu einer rein europäisch homogenen Programmatik zu präsentieren (siehe das Interview auf Seite 17). Die Donaueschinger Musiktage riefen 2019 das Forschungsprojekt „Donaueschingen Global“ ins Leben, mit dem zeitgenössische und experimentelle Musik außerhalb des europäischen Kontextes erforscht und präsentiert wird. Die Komische Oper in Berlin ist Unterzeichnerin der Charta der Vielfalt und bezieht auf ihrer Webseite ausdrücklich Stellung zu diesem Thema.

Diversitätskompetenz vermitteln

Diversität ist in aller Munde, doch scheint der klassische Musikbetrieb noch nicht so recht zu wissen, wie man mit dem Thema und all den dazugehörigen Facetten umgehen soll: Dazu zählt der Umgang mit Komponist*innen der People of Colour, diversen Künstler*innen oder Komponistinnen, die Inklusion von Menschen mit Behinderung oder der Zugang für benachteiligte Gruppen. Und wenn es dann in diesem Zusammenhang zu Initiativen kommt, stellt sich sogleich die Frage, ob die Künstlerin, der Künstler trotz oder wegen seiner Herkunft, seinem Aussehen, seinem Hintergrund engagiert wurde …

„Diversity Arts Culture“ ist ein Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung und arbeitet mit einer Strategie, die sich DOE „Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung“ nennt. Kulturinstitutionen erhalten zunächst eine erstmalige Beratung von „Diversity Arts Culture“, danach werden sie an eine*n Trainer*in mit Diversitätskompetenz vermittelt, der oder die dann eine langfristigere Begleitung zu Fragen von Diversität bietet. Nima Ramezani ist Referent für diversitätssensible Förderung Musik bei „Diversity Arts Culture“. Bezugnehmend auf die titelgebende Frage „Wann sind wir angekommen?“, macht er zunächst deutlich, dass erst in zehn bis zwanzig Jahren „echte Resultate“ in allen Sparten und Bereichen der derzeitigen Diversitätsbewegung erreicht sein werden, in dem Sinne, dass Institutionen eine allumfassende Diversitäts-Politik betreiben. Erst dann könne man von Best-Practice-Beispielen reden und diese klar benennen. „Was oftmals als ‚Diversitätsstandard‘ in den meisten Einrichtungen und Häusern umgesetzt werden kann, nennt man PPPZ, was die Bereiche Personal, Programm, Publikum und Zugang meint. Es hat sich erfahrungsgemäß über die Jahre herausgestellt, dass man vor allem dort an den richtigen Stellschrauben drehen muss, um sich entsprechend diversitätsorientiert zu aktualisieren und anzupassen und diese strukturelle Veränderung auch herbeizuführen.“ Wichtig sei dann auch die Evaluation dieser Prozesse, um für eine entsprechende Wirkung und Nachhaltigkeit zu sorgen.

Beispiel Babylon Orchestra

Wenn Institutionen und Einrichtungen aus dem Klassischen Bereich „Diversity Arts Culture“ wegen Beratung aufsuchen, geht es oftmals um vereinzelte Themen, die diese jeweilige Einrichtung beschäftige, beispielsweise gendergerechte Sprache im Kollegium oder Barrierefreiheit. Allerdings würden aus dieser Sparte weniger Anfragen für eine komplette Diversitätsorganisationsentwicklung kommen. Ramezani zufolge ist es gerade im klassischen Bereich wichtig, neue Formate zu etablieren und die Angst zu überwinden, dass diese scheitern könnten. Und wenn doch, brauche es einen langen Atem, damit nach einiger Zeit das bisherige Publikum Interesse für Neues entwickelt und darüber hinaus dadurch auch neues Publikum akquiriert werden kann.

Als Beispiel für ein diverses Ensemble nennt Ramezani das „Babylon Orchestra“. Die Mitglieder setzen sich zum einen aus professionellen deutschen Musiker*innen mit Migrationshintergrund zusammen, die in Deutschland klassische Musik studiert haben. Andererseits spielen dort Musiker*innen, die aus Syrien, Iran oder Israel stammen und ihr Studium in ihren jeweiligen Heimatländern absolviert oder dort angefangen und es in Deutschland weitergeführt haben. Stilistisch bewegt sich das Ensemble in einer Fusion aus europäischer und nahöstlicher Musik und ist in dem Sinne kein Beispiel für Klassische Musik. Dennoch findet das „Babylon Orchestra“ auch Resonanz an renommierten Häusern der Klassik-Sparte, wie der Deutschen Oper Berlin, dem Dortmunder Konzerthaus, der Elbphilharmonie oder der Komischen Oper. Zudem wurden seit 2017 gemeinsam mit dem Konservatorium für Türkische Musik in Berlin (BTMK) mehrere künstlerische und pädagogische Projekte realisiert.

Es geht auch um Glaubwürdigkeit

Eine weitere Baustelle ist die Frage, wie man ein diverses Ensemble zusammenstellen kann. Auf die Frage, wie sinnvoll Quoten sind, antwortet Nima Ramezani: „Ich denke schon, dass Quoten eine entscheidende Rolle spielen können, um ein Abbild davon zu geben, ob die Veränderungsprozesse auch stattgefunden haben.“ Allerdings müsse so etwas immer auch im Kontext der jeweiligen Institution gesehen werden. Eine Quote allein reiche nicht aus, diese müsse mit einer Evaluation nachbereitet und an entsprechenden Resultaten festgemacht werden. Eine Quote, der lediglich eine Marketingstrategie zugrunde liegt, würde man allerdings durchschauen, so der Referent, da bei einer nicht ernsthaft gemeinten Wertschätzung diverser Mitglieder mit einer erhöhten Kündigungsrate zu rechnen sei und die Rückmeldung entsprechender Personen von rassistischen oder diskriminierenden Erfahrungen sprechen.

Es geht also auch um Glaubwürdigkeit. In diesem Zusammenhang kommt der Begriff „Tokenism“ ins Spiel. Er bezeichnet ein symbolisches Handeln, bei dem die Gleichberechtigung marginalisierter Gruppen lediglich kommuniziert oder versprochen, diese jedoch nur vordergründig und nicht in der Gänze von der Organisation oder Institution gelebt wird. Für Nima Ramezami ist es Tokenism, wenn Projekte eher kurzfristig angelegt sind und nicht auf eine nachhaltige Entwicklung einer Diversitätsstrategie abzielen. In anderen Fällen müsse man von Tokenism ausgehen, wenn mit den eingeladenen Künstler*innen nicht auf Augenhöhe gearbeitet werde oder Fördermittel ungerecht aufgeteilt seien. Es ist schon wichtig zu sagen, wer entscheidet, wer sitzt am langen Hebel, wer am Kurzen und wie kommt es letztlich zu Entscheidungen“, so Ramezami. „Wenn wir die Erfahrung haben, dass Tokenism entsteht und jemand mit dem Finger auf bestimmte Sachen zeigt, die nicht so gut gelaufen sind, dann hat man am Anfang nicht die Expertise dazu geholt, die notwendig gewesen wäre.“ Außerdem müsse von den Agierenden eine intrinsische Motivation kommen und sie nicht ausschließlich im Auftrag einer Institution handeln.

Auf die Frage hin, wie man Formate wie „Donaueschingen Global“ bewerten könne, gibt Ramezani zu bedenken, dass man dabei darauf achten müsse, wer an dem Projekt betei-ligt sei und ob auch mit außereuropäischen Musiker*innen oder außereuropäischen Expert*innen für Musik gesprochen wurde, oder nur über sie. Das Projekt müsse entsprechend transparent machen, wie die Abläufe waren und ob eine entsprechend notwendige Expertise von außen eingeholt wurde.

Recherchiert man auf der Webseite von Donaueschingen Global, so heißt es dort, dass seit 2019 vier Expert*innen für globale Kunstmusik in verschiedene ländliche und urbane Regionen Südamerikas, Afrikas, Asiens und des Nahen Ostens gereist sind, um zeitgenössische Musiken außerhalb bekannter Netzwerke und Institutionen zu erforschen und zu diskutieren. Auf SWR 2 erfährt man von der Koordinatorin des Projekts Katja Heldt, dass zudem ein weiteres Kurationsteam mit Künstlerinnen und Komponistinnen aus afrikanischen Ländern zusammengestellt wurde.  Die Forscher*innen scheinen also mit Expert*innen vor Ort in Kontakt getreten zu sein, um Diversität von südamerikanischer, afrikanischer, asiatischer und nahöstlicher Seite zu betrachten und vor diesem Hintergrund mit und über ihre Kunst zu sprechen.

Einfach mal anfangen

Häuser und Organisationen sollten sich jedoch ob des Ausmaßes, welches das Thema Diversität mit sich bringen kann, nicht entmutigen lassen, so Nima Ramezani: „Trotzdem ist mir wichtig zu sagen, dass man keine Angst haben sollte Fehler zu machen. Es gibt, selbst wenn man alles richtig macht, keine Gewähr dafür, dass die Presse oder auch die Öffentlichkeit nicht sagt ‚Wir haben das jetzt nicht so lesen können, wir empfinden das so, dass Diversität eingesetzt wurde, um das Image dieser Einrichtung besser darzustellen.‘ Das kann man nicht von vornherein ausschließen. Man sollte an dieser Stelle mutig genug sein, es zu wagen, weil es sozusagen nicht die eine richtige Strategie gibt, bei der man von vornherein jedes Risiko ausschließen kann. Aber am Ende des Tages, wenn man mutig genug war, diese Entscheidung zu fällen und das eben auch nicht eine einmalige Entscheidung ist, bringt das auch Glaubwürdigkeit mit sich, was dann auch von der Szene, der Community und von der Öffentlichkeit  entsprechend wahrgenommen wird.“

Wichtig sei es, so der Referent, einige wenige Punkte herauszusuchen, die der entsprechenden Institution am Herzen liegen und auf diese einzugehen. Alle Aspekte, die Diversität betreffen, aufgreifen zu wollen wäre zu viel. Außerdem können sich Häuser auch mit anderen Institutionen zusammenschließen und sich über deren Erfahrungen austauschen. In einer sogenannten Peer-to-Peer-Beratung können sie sich zusätzlich zu anderen Beratungsangeboten einfach niedrigschwellig an andere Institutionen wenden, die entsprechende Erfahrungen haben.

Wann sind wir also angekommen? Ziel ist es, dass Besucher eines Konzertes der Pianistin Isata Kanneh-Mason nicht mehr fragen, woher sie denn „eigentlich“ käme, wenn sie sich mit der Antwort „aus Großbritannien“ nicht zufriedengeben. Das Ziel ist es, ein Selbstverständnis dafür herzustellen, dass nicht nur weiße und asiatische Menschen professionelle Musiker*innen der klassischen Musik sein können. Ziel ist es auch, Quoten nicht erfüllen zu müssen, um die Zuschauer aus ihren homogenen Erfahrungen herauszulocken. Ziel ist es einfach, eine gerechte Normalität anzustreben, auch wenn sich diese erst in zehn bis zwanzig Jahren einstellen wird.

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