Geschichtsschreibung, so sagt man, fixiere die Lesart der Sieger. Sie ist kein fairer Prozess, und oft werden die kleineren, aber nicht minder wichtigen Momente – denen Stefan Zweig in den Sternstunden der Menschheit ein literarisches Denkmal setzte – zumeist von Militärstiefeln, die immer noch quer durch unsere Geschichtsbücher trampeln, niedergetreten.
Die Musikgeschichte ist nicht notgedrungen fairer in ihrer Historiographie. Wir alle kennen Namen von Komponisten – ohne Musiker wie Nielsen oder de Falla benennen zu wollen –, die aus oftmals unklaren Gründen in die zweite Reihe geschoben, als Phänomen von ausschließlich nationaler Tragweite suggeriert, aber (auch das ist political correctness) nur noch selten so öffentlich stigmatisiert werden.
Benjamin Britten (1913–1976), das sei offen gesagt, war gewiss für einige Zeit in dieser Gefahr; konkret, als eine Lokal-ausgabe von Schostakowitsch gehandelt zu werden. Im England der verträumt-folkloristischen Biedermeierlichkeit, die sich in so manchem zeitgleichen Werk findet, eckte Brittens Modernismus an; im Nachkriegseuropa wurde gerade seine Teilhabe an der Moderne hinterfragt. Beleg dafür schien nicht zuletzt Brittens innige Verbindung mit (und Abschottung in) seiner Heimat, der spröden Schönheit von Englands Ostküste.
Zugleich – und das darf heute offen benannt werden – waren weder sein sanfter, aber bestimmter Pazifismus im England von 1939/40, wo der Ausgang des Krieges zugunsten Nazideutschlands durchaus möglich schien, noch seine homoerotische, nahezu offen gelebte Partnerschaft mit Peter Pears einfach für die zeitgenössische Rezeption. Schnell wurde da die vorsichtige Distanz zu Abschotten und Isolationismus; die sehr menschliche Abhängigkeit von Netzwerken – in einer Zeit, als Homosexualität noch strafbar war und die gesellschaftlichen Zwänge zeitgleich den Mathematiker Alan Turing in den Selbstmord trieben – zu einer unterstellten Clique, die Aldeburgh regiere; und die Konzentration der durch den Krieg strapazierten Kräfte zunächst auf den Aufbau einer eigenen Moderne, daheim in England, zu künstlerischer Inselmentalität und Verweigerung vornnicht tonaler Musik.
Was in der Rezeption der 1950er- und 1960er-Jahre also durchaus für problematisch gehalten werden konnte, was tatsächlich Brittens Isolierung hätte nach sich ziehen können, hat schon seit geraumer Zeit begonnen sich in postmoderne Wohlgefälligkeit aufzulösen. Der unwahrscheinlichste aller Protagonisten konnte sich so zu einer Art englischem Kulturgut entwickeln. Britten wurde geadelt, sogar in den erblichen Adelsstand erhoben als Lord Britten; dazu trat die erste de facto Anerkennung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft durch die Queen, die Pears zum Tode Brittens 1976 kondolierte – das ist die außermusikalische Ebene.
Aber der intensivere Blick in Schriften und auf Noten legte auch Schichten an Britten frei, die das Bild eben über das eines Nationaldenkmals erheben: das frühe Studium bei Frank Bridge, der strenge Klassizität einforderte und den jugendlichen Britten disziplinierte, jede Note auf ihre strukturelle Notwendigkeit hin zu befragen und, wenn nötig, rigoros zu streichen. Sein von Bridge unterstützter – aber im Europa von 1934 nicht realisierbarer – Wunsch, bei Alban Berg zu studieren. Seine Skepsis gegenüber seriellen Techniken, die nun als eine Vorwegnahme postmoderner Haltung scheinen konnte; seine straffe, erweitert tonale Tonsprache und die Entwicklung der Kammeroper, die ihn neben Puccini und Richard Strauss zu dem am häufigsten aufgeführten Komponist des 20. Jahrhunderts werden ließ. Das von ihm mit Peter Pears und dem Regisseur und Librettisten Eric Crozier gegründete Aldeburgh Festival und seine klare Profilierung für eine (von Britten nicht unbedingt selbst ästhetisch vertretene, aber verstandene) emphatische Moderne: die Uraufführungen von Birtwistle, sein sehr früher Einsatz für elektronische Musik, für die Musique concrète, für die Musik von Schönberg und Berg, eine Aufführung von Stockhausen schon 1959... das alles lässt ihn mitnichten so weit von zeitgenössischen europäischen Entwicklungen entfernt scheinen, wie gängige (Vor-)Urteile glauben machten.
„I have learned so much from you“ 1
Über seine eigene Person hinaus ermisst sich Brittens musikalische Bedeutung aber auch an drei Wirkungslinien, die es lohnt im Detail nachzuzeichnen: seine Wirkung auf jüngere Komponisten, die er quasi als Mentor betreute und denen er zu Aufführungen bei seinem Festival verhalf; die Formalisierung dieser Arbeit in einem der ersten Programme für junge Künstler, einer Art von europäischer Antwort auf Tanglewood, dem Britten–Pears Young Artist Programme (zu Brittens Zeit noch „School for Advanced Musical Studies“); und schließlich die sehr bewusste – und sehr intensive – Einbeziehung seiner musikalischen Umwelt in seine künstlerische Arbeit – lange bevor Education oder El Sistema zu Schlagwörtern für gesellschaftliches Engagement von Kultur-einrichtungen wurden.
Die auch chronologisch wohl erste – und bei einem Komponisten naheliegende – Station ist das Interesse an Werken junger Kollegen. Zum Beispiel Hans Werner Henze. Britten war mit Prinz Ludwig von Hessen bekannt und lernte so den jüngeren Komponisten bei einem Besuch in Wolfsgarten 1956 kennen; hier entwickelte sich eine Freundschaft, die sich bis hin zu den von Henze und anderen Komponisten (über ein Thema von Britten) entwickelten Variationen zu Paul Sachers 70. Geburtstag spann – und darüber hinaus: In Henzes Schriften finden sich 1979 Gedanken an Benjamin Britten, die von persönlicher und musikalischer Nähe zeugen, die sich auch in Henzes Widmung der Kammermusik 1958 als „Danksagung für so viel Anregung, die mir aus seinen Werken zuteil geworden ist“ spiegeln. Britten hat übrigens dieses Kompliment durch die Widmung von „Children’s Crusade „(1969) an Henze zurückgegeben, hat aber auch mit der Möglichkeit zur Uraufführung von „El Cimarrón“ in Aldeburgh 1970 den Freund in dieser Phase ganz praktisch unterstützt.
Liest man durch den – vorbildlich in der Britten–Pears Foundation in Aldeburgh dokumentierten – Nachlass von Henzes Briefen an Britten zwischen 1956 und 1975, so bestätigt und vertieft sich dieser Eindruck von freundschaftlicher Nähe.2 Hier ist Henze ganz der junge Freund und Lernende, der die Tragweite etwa des „War Requiem“ begreift und daraus für sich Antworten auf technische wie ästhetische Fragen findet, der sein Lernen an The Turn of the Screw beschreibt und „for all your friendship“ dankt. Noch 1996 bekräftigte Henze diese Bindung an Britten und das Festival, als er dort die renommierte Hesse Lecture über den Zusammenhang von „Language, Music and Artistic Invention“ hielt.
Musik in der Gesellschaft
In der Tat ist das „pragmatische Musikdenken“, das Henze an Britten für vorbildhaft erkannte, immer eine wichtige Komponente in Brittens Arbeit gewesen. Zugängliche, leicht spiel- und singbare Musik für Kinder und Anfänger kennzeichnen eine ganze Reihe von Brittens Werken, etwa sein Versuch schulisches Singen mit den Friday Afternoons aufzufrischen oder der weithin bekannte „Young Person’s Guide to the Orchestra“. Dieses Engagement ging jedoch weiter.
So nutzte Britten seine persönliche Verbindung zu Prinzessin Margaret von Hessen, um ganz privat kulturellen Jugendaustausch zu betreiben. Schon im Mai 1954 kamen dadurch einige junge Künstler nach Deutschland; im Gegenzug wurde in Aldeburgh ein Stipendium für „Hesse Students“ beim Festival eingerichtet, das bis heute an Musik interessierten Jugendlichen einen Blick hinter die Kulissen, Tickets zu allen Konzerten sowie den Aufenthalt selbst ermöglicht.
Es war folglich nur logisch, dass sich Britten – gemeinsam mit Pears – auch für eine strukturierte, eigene Version der Förderung junger Musiker einsetzte. Die „School for Advanced Musical Studies“ war bewusst als Erweiterung der hochschulischen Ausbildung hin auf erste professionelle Erfahrungen angelegt. Konsequent wurden Aufführungsmöglichkeiten beim eigenen Festival genutzt und als einer der Schwerpunkte die professionelle Orchesterarbeit in den Vordergrund gerückt. Für die Leitung dieses Bereichs gewann Britten den Bratschisten des Melos Ensemble und damaligen Professor am Royal Northern College, Cecil Aronowitz, als Director of Strings. Nur Monate vor seinem Tod widmete Britten der Ausrichtung des „Young Musicians Orchestra Course“ seine Aufmerksamkeit und plante noch im Juli 1976 die nächsten Schritte, um dieses „very important project“ voranzutreiben: Indiz dafür, dass es Britten sehr ernst mit einem umfassenden Modell für Musik in der Gesellschaft war – er selbst sprach vom „Holy Triangle“, gebildet aus Komponist, Interpret und Zuhörer.3
Noch einmal zurück zu Hans Werner Henze. Dieser hat Britten so charakterisiert: „ein Mann der Praxis, ein moderner Musiker, Inspirator und Gründer“. Pointierter lässt sich die ganze Vielfalt von Brittens umfassender Bedeutung wohl nicht fassen.
Anmerkungen:
1 Hans-Werner Henze in einem Brief an Britten, 7. Mai 1958.
2 Der Britten–Pears Foundation in Aldeburgh sei ausdrücklich für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in Korrespondenz zwischen Britten und Cecil Aronowitz, Hans Werner Henze, Margaret von Hessen und dem Aspen Institute sowie Dokumente zur projektierten Uraufführung der Kammermusik 1958 gedankt.
3 Dazu näher Brittens Rede „On Receiving the First Aspen Award“ (London: Faber and Faber, 1964); aufschlussreich sind auch die bei Boydell & Brewer in Auswahl publizierten Briefe.
-
Das Britten Centenary wird von New York bis Moskau, von Aldeburgh bis Australien gefeiert – natürlich auch in Deutschland. Die Datenbank der Britten–Pears Foundation (www.britten100.org) orientiert näher.
-
Das von Britten gegründete Aldeburgh Music richtet ein ganzjähriges Programm zur Hundertjahrfeier in Aldeburgh aus. Mehr unter www.aldeburgh.co.uk/britten