Neun Musiker sitzen im Halbkreis auf der Bühne im großen Saal der Neuen Nationalbibliothek in Rabat, Marokko, in Frack und Abendgarderobe – wie man das eben gewohnt ist. Das Konzert ist gut besucht, auf dem Programm stehen Werke für gemischte kammermusikalische Besetzung von Mozart und Spohr. Etwas anders als bei einem Konzertbesuch in Deutschland ist vielleicht, dass es im Saal auch während des Konzerts noch recht hell ist, auch unruhig: Die ganze Zeit über kommen und gehen Besucher; zwischen dem ersten und zweiten Satz Mozart versteckt eine junge Frau noch schnell ein Tonbandgerät in einem Blumenarrangement auf der Bühne, und über alles wacht von einem lebensgroßen Portrait herab der König.
Nach dem ersten Stück allerdings wird der Kreis etwas vergrößert, drei Stühle werden in die Mitte gestellt, und darauf Platz nehmen drei Männer, gekleidet in weißem Kaftan und auf dem Kopf den orientalischen Fez. Es ist das marokkanische Trio Ibne Najja, das sich hier den Musikern des Polyphonia Ensembles Berlin anschließt, um gemeinsam traditionell andalusische Musik zu machen. Die ersten volkstümlichen Melodien erklingen, Khaloufi Abdesselam singt den ersten Refrain, und wie selbstverständlich fängt es im Saal an zu murmeln, zu summen, dann leise mitzusingen. Jeder hier kennt diese Weisen, aber sicher nicht in dieser Interpretation. Marokkanische Zither, Rohrflöte und Laute, dazu Geige und Cello, Oboe, Fagott, Horn und alle anderen klassischen Orchesterinstrumente der Polyphonia-Besetzung – eine eigentümliche Mischung.
Zu dieser musikalischen Begegnung kam es Ende Oktober während einer zweiteiligen Konzertreise des Berliner Ensembles nach Marokko und Algerien. Initiator war der Auslandsrundfunk „Deutsche Welle“, der die Musiker in Zusammenarbeit mit Partnern wie dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik, dem Goethe-Institut und der deutschen Botschaft in Marokko dazu einlud. Neben den Konzerten, die das Ensemble in Rabat, Casablanca und Algier bestritt, lag der Schwerpunkt der beiden Reisen vor allem auf musikalischen Vermittlungsprojekten, die die deutschen Instrumentalisten zusammen mit Orchestern in den gastgebenden Ländern durchführten.
Seit 2006 besteht die Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Welle und dem Berliner Ensemble. Damals schickte der Sender die Musiker auf Reisen nach Mazedonien und in den Kosovo. 2008 kam auf einer weiteren Konzertreise die albanische Hauptstadt Tirana hinzu, wo die Polyphonia zum ersten Mal neben ihren Konzertauftritten auch einen internationalen Kammermusik-Workshop für Studenten aus den drei von ihnen bereisten Balkanstaaten veranstaltete. Nun wurde dieses Engagement in den Reisen nach Marokko und Algerien fortgesetzt: Das Ensemble, das seit ungefähr zehn Jahren besteht und sich hauptsächlich aus Musikern des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin zusammensetzt, studierte in Workshops mit Mitgliedern des Königlichen Symphonieorchesters in Rabat sowie mit Nachwuchskünstlern der Musikakademie Algier klassische Kammermusikwerke ein. Wenn man weiß, dass die marokkanische Hauptstadt derzeit keine Musikhochschule und auch sonst kaum Möglichkeiten zur musikalischen Aus- oder Fortbildung auf professionellem Niveau vorzuweisen hat, wird die Bedeutung dieser Arbeit für die Musiker vor Ort deutlich.
Dennoch sahen sich die neun Berliner während der Kursarbeit ungern in der Rolle des Lehrers. Sie kämen als Kollegen, sagten sie, die mit ihren ausländischen Mitspielern gemeinsam etwas erarbeiten möchten. Dass eine solche Kooperation allerdings in anderen Kulturen möglicherweise nicht ganz unproblematisch sein kann, darauf stellten sie sich schon im Vorfeld ein. Die Befürchtungen, die überwiegend männlichen Mitglieder des Königlichen Orchesters in Rabat könnten Probleme damit haben, mit den beiden Frauen der deutschen Gruppe zusammenzuarbeiten, stellten sich zwar schnell als unbegründet heraus. Stattdessen kam unerwartet ein anderes Hindernis hinzu: der Wille des Königs. Denn in einer konstitutionellen Monarchie, wie sie in Marokko existiert, ist das Staatsorchester das königliche Orchester und in der Macht Mohammeds VI. liegt es nicht nur, zu verbieten, dass seine Musiker während der Probenarbeit fotografiert oder gefilmt werden, sondern auch, dass sie, wie ursprünglich geplant, zusammen mit dem Polyphonia Ensemble auftreten und die gemeinsam erarbeiteten Werke zur Aufführung bringen.
Also findet am Vortag des Konzerts in Rabat, in dem stattdessen das marokkanische Trio Ibne Bajja zusammen mit dem deutschen Ensemble auf der Bühne steht, eine kleine interne Präsentation der einstudierten Stücke statt. Nicht im großen Konzertsaal, den die Musiker des Königs offenbar mangels Anlass seit gut einem Jahr nicht mehr betreten haben, sondern im Probenraum des Orchesters, der im Kellergeschoss eines Wohnhauses liegt, mit niedrigen Decken und Neonlicht. In unterschiedlichen Besetzungen führen die Marokkaner hier nun Kammermusikwerke von Haydn, Mozart und Danzi auf und sind dabei trotz des überschaubaren Publikums so aufgeregt, dass es einem beinahe Leid tut. Die Deutschen Kollegen fiebern bei jeder schwierigen Stelle deutlich mit ihnen mit. Zum Schluss erklingen im vierstimmigen Hornsatz noch deutsche Ländler und „Der Mond ist aufgegangen“. Das klingt gerade in dieser Umgebung reichlich befremdlich, denn die Marokkaner kennen diese uns so vertraute Melodie nicht und improvisieren – positiv ausgedrückt – frei darüber. Der Dirigent des Königlichen Orchesters beweist sein Interesse an diesem für beide Gruppen beeindruckenden Projekt durch Abwesenheit. Aber immerhin lächelt auch hier im Keller von einem Portrait an der kahlen Wand hinter der kleinen Bühne huldvoll der König.