Es war keine betuliche Huldigung, die der Dirigent Nikolaus Harnoncourt zur Eröffnung des Mozartjahres in Salzburg zum Besten gab. Vielmehr ein flammender Aufruf, diesen Geburtstag nicht als Beschwichtigung eines saturierten Publikums misszuverstehen. Die neue musikzeitung druckt Harnoncourts im Mozarteum gehaltene Rede leicht gekürzt ab. Nach einigen eröffnenden Kommentaren zur zuvor erklungenen Musik, der großen g-Moll-Sinfonie, kam der streitbare Musiker gleich zum Punkt:
Und jetzt, nach dieser unfassbaren Musik, wo jede Sprache arm wird, wo wir schweigen müssten, jetzt soll ich noch etwas über Mozart sagen und womöglich auch über dieses Jahr. Nein – zu dieser Musik passen keine Festreden. Wie kann ich da noch etwas über Mozart sagen? Niemand kann es; aber alle tun es jetzt. Österreich heißt in diesem Jahr Mozart. Aber, das hat nichts mit ihm zu tun, ich fürchte, mehr mit Geld und Geschäft. Eigentlich müssten wir uns ja genieren. Denn was Mozart von uns verlangt und seit mehr als 200 Jahren verlangt, wäre so einfach: Wir müssten ganz still und aufmerksam zuhören, und wenn wir seine wortlosen Beschwörungen und Plädoyers verstünden, dann müssten wir uns, wie schon gesagt, eigentlich eher genieren, als uns stolz zu brüsten.
Jetzt bejubeln wir ihn und das klingt fast so, als wollten wir uns selbst bejubeln. Wir haben aber überhaupt keinen Grund, auf irgendetwas stolz zu sein, was mit Mozart zusammenhängt. Schon seit damals, als er hier in Salzburg und in Wien lebte. Er verlangt etwas von uns mit der unerbittlichen Strenge des Genies und wir bieten ihm unsere Jubiläen mit ihren Umwegrentabilitäten und Geschäften und lassen seine Töne zerstückelt aus allen Werbekanälen tropfen. Das dürfte einfach nicht sein – das ist ein Skandal und eine Schande – wie kann man das tolerieren? Aber wenn so ein Besinnungsjahr trotz alledem einen Sinn haben soll, dann müssen wir hören – hören – hören – und können dann vielleicht einen kleinen Teil der Botschaft verstehen. Mozart braucht unsere Ehrungen nicht – wir brauchen ihn und seinen aufwühlenden Sturmwind. So ein Jahr ist in Wirklichkeit unsere Chance.
Was ist denn der Inhalt seines Plädoyers? Es ist die Kunst selbst, es ist die Musik, und wir haben Rechenschaft darüber abzulegen, was wir mit ihr gemacht haben und immer noch machen – und darüber, was wir versäumen und nicht machen. Die Kunst und mit ihr die Musik ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, sie ist uns geschenkt als Gegengewicht zum Praktischen, zum Nützlichen, zum Verwertbaren. Es leuchtet mir ein, was manche Philosophen sagen, dass es die Kunst und eben die Musik ist, die den Menschen zum Menschen macht. Sie ist ein unerklärliches Zaubergeschenk, eine magische Sprache.
Die letzten Generationen haben ihr Schwergewicht immer mehr und mehr auf das unmittelbar Verwertbare gelegt. Man meint wohl, die Glückserwartung scheine nur im Materiellen zu liegen: Glück wird mit Wohlstand und Wohlstand mit Besitz gleichgesetzt: Es geht mir besser, je mehr ich besitze. Und diese Einstellung wirkt sich bereits in der Erziehung und in den Lehrplänen der Schulen aus. Nach und nach wird alles Musische verdrängt, alles, was die Fantasie fördert und was unverzichtbar ist – fast müsste man schon sagen: wäre – für ein menschenwürdiges Leben.
Heute können hier die meisten Kinder nicht einmal mehr singen, weil sie nie dazu angeleitet wurden, sie wissen nicht, wie man die Töne formt, und sie kennen keine Lieder. Da fängt aber das Musik-Machen, das Musik-Verstehen an, mit drei, vier, fünf Jahren schon. Später überlässt man es sowieso dem Radio und dem Walkman. (…)
Es geht mir jetzt nicht so sehr um eine größere Beachtung der Kunst in ihrem erlauchten Spitzenbereich, es geht darum, dass diese höchsten Formen schließlich ins Leere rufen, wenn niemand mehr die Sprache versteht. Die Musik ist ja keineswegs die abgehobene Geheimsprache einer arroganten, selbstbewussten und privilegierten Minderheit, nein, jeder kann ihre Botschaft mitbekommen, kann teilnehmen an ihren Reichtümern, wenn die Antennen von klein auf richtig eingestellt werden.
Da die Kunst im Bereich der Fantasie zuhause ist, hat sie etwas Rätselhaftes, nicht Erklärbares, ihre unsichtbare Macht ist gewaltig und gefährlich, ihre Wirkung subversiv. Deshalb haben Machthaber immer wieder versucht, sich ihrer zu bedienen. Ohne Erfolg, denn Kunst ist stets oppositionell und souverän, sie lässt sich weder zähmen noch einverleiben. Die Musik ist eine Sprache des Unsagbaren – die aber manchen letzten Wahrheiten wohl eher nahe kommt als die Sprache der Worte, der Verständigung mit ihrer Logik, mit ihrer Eindeutigkeit, ihrem schrecklichen Ja oder Nein.
Die Rolle, die wir der Kunst zubilligen ist vielfach, sie uns dienstbar zu machen, sie zu zähmen, aber auch uns mit ihr zu brüsten. In unserem schönen, geförderten Musikleben sollen die Menschen nach aufreibender Arbeit Freude und Erholung finden, sollen wieder Kraft finden für den All-tagsstress. (…) Ein gefährlicher Schritt im langen und illegalen Prozess, Kunst „nutzbar“ zu machen.
Die Musik der großen Komponisten hat diesen Trend fast nie bedient, sie war schon immer viel mehr: nämlich sensible Reaktion auf die geistige Situation der Zeit. Sie war und ist ein Spiegel, der den Hörer sich selbst zu erkennen half, der ihn auch in Abgründe blicken ließ. Als man Mozarts g-Moll-Sinfonie zum ersten Mal hörte, wurde gefragt, ob derartige Erschütterungen zulässig seien. Diese Sinfonie ging ja für die Menschen damals bis in die Extreme der musikalischen Sprache. (…) Damals ist wohl keiner beruhigt nach Hause gegangen.
Durch die Kunst werden wir ja zu Erkenntnissen geführt, oft geradezu gestoßen: Sie ist der Spiegel, in den wir schauen müssen. Um dem zu entkommen, hat man eine bloß ästhetisierende, manche sagen „kulinarische“ Art, mit Kunst umzugehen, angenommen: Man hört „schöne“ Musik, man sieht „schöne“ Bilder – aber man lässt sich lieber nicht von ihr erschüttern, oder gar umkrempeln. (…)
Wie fast alle großen Künstler bleibt Mozart als Person rätselhaft, ja geradezu unheimlich. Man meint alles über ihn zu wissen – sein Leben ist ja bestens dokumentiert –, aber wenn man etwas über ihn sagen soll, bemerkt man, dass man ihn überhaupt nicht kennt. (…)
Wir werden die Wahrheit über Mozart nie erfahren. Es ist unser selbst gemachtes Bild, das wir dafür halten. Nur das Werk birgt die Wahrheit. Den Menschen zu verstehen scheint unmöglich – so gelangen wir, wie bei vielen Künstlern, zu einer Art Doppelgängersicht. Als gäbe es zwei Mozarts: das Wunderkind, den heiteren, extrovertierten jungen Mann, von dem seine Freunde sagten, er sei niemals mürrisch gewesen, der von Jugend an seine Briefe in einem geschliffenen Stil schrieb, gebildet, schlagfertig und sicher. Den Mozart der Biografien, mit seinen finanziellen, familiären und künstlerischen Krisen; war er reich oder arm? Zerkracht mit seinem Vater oder in liebevoller Harmonie? Wurde er kläglich verscharrt oder entsprach sein Begräbnis den damaligen Vorschriften? War er künstlerisch gescheitert nach dem Wiener Misserfolg von „Le Nozze di Figaro“?
Ich glaube kein Wort von alledem, denn wie Oswald Spengler sagt: „Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte soll man dichten“ – und das tat man über die Maßen.
Aber der andere Mozart ist der Eigentliche, ist ungreifbar und unbegreifbar. Wenn wir ihn erfassen wollen, müssen wir beschämt erkennen, dass unsere Elle nicht in sein Maßsystem passt. Er kommt von einem anderen Stern. Er lebt nur durch sein Werk – ernsthaft in jedem Augenblick, auch im Witz beklemmend: der „Musikalische Spaß“, ein ebenso dunkles Stück wie die gespenstische Lach-Arie in „Zaide“.
Was muss das für ein Schock gewesen sein im Hause Mozart, als der Vater im Kleinkind das Genie erkannte: Man meint ein herziges, gescheites Kind zu haben und sieht unvermittelt ein Krokodil. Ein Genie wie Mozart wird nicht, das ist, – paff – wie ein Meteor aus dem Universum. Kein spielendes Kind, eher ein spielender Erwachsener.
Es ist in der menschlichen Gesellschaft nicht vorgesehen, ein Genie großzuziehen, dafür gibt es keine Vorbilder. So ein dämonisches Wesen okkupiert selbstverständlich seine Umgebung, man kann es nicht „erziehen“, es ist ein geliebter und zugleich beängstigender Hausgenosse. Von seinen ersten musikalischen Äußerungen an ist Mozarts Weg als Künstler von einer Unbeirrbarkeit, von einer atemberaubenden Sicherheit – genau konträr zu seinem Lebensweg. Schon als Kind komponierte er Werke, deren emotionaler Inhalt weit über das hinaus geht, was er erlebt und erfahren haben konnte. So können wir von dem Jüngling, der er wohl immer war, die letzten und tiefsten Geheimnisse von Liebe und Tod, von Tragik, Schuld und Glück erfahren.
Er zwingt uns, in seelische Abgründe zu schauen und kurz darauf in den Himmel: vielleicht ein Griffel in der Hand Gottes.