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www.beckmesser.de 2010/11

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Zukunftsunfähig?
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Durch Kunst vergewissert sich eine Gesellschaft ihrer Wurzeln und blickt zugleich in die Zukunft. Geht sie fahrlässig damit um, spricht das nicht gerade für geistigen Selbsterhaltungstrieb. Drei Beispiele in jüngster Zeit lassen Böses ahnen. In Hamburg, wo der Bau der Elbphilharmonie zur finanziellen Geisterfahrt geworden ist, soll im Zuge der allgemeinen Sparanstrengungen im nächsten Jahr auch die Kultur insgesamt 6,2 Millionen weniger bekommen. In Holland will die aufs Sparen eingeschworene Regierung einen bisher vom Rundfunk betriebenen Produktionsapparat fallen lassen. In Luzern steht ein einzigartiger Gebäudekomplex für experimentelle Kunst und Musik, die Salle modulable, zur Disposition, weil der Hauptmäzen verstorben ist.

Drei Fälle von Mittelentzug, wenn auch jedesmal anders. In Hamburg ist ein Element von unbedarftem Größenwahn unübersehbar – die lukrative Teilhabe am globalisierten Welthandel hat wohl einige Maßstäbe durcheinander gebracht und die staatliche Bürokratie ist dem spektakulären Projekt nicht gewachsen. Das gewaltig aufgeblähte Defizit versucht man nun mit willkürlichen Kürzungen im Kulturbereich zu kompensieren. In Holland geht es offenbar um ein Outsourcing der Musikproduktion aus dem Sender. Aber wohin damit? In Luzern wiederum wollte ein sehr reicher Mann, der sich vor dem deutschen Fiskus in die Schweiz gerettet hatte, 120 Millionen Franken in einen Konzertsaal der Zukunft investieren. Da hier die Realisierung solcher Projekte wegen Volksabstimmungen etwas länger dauert, sind nach dem Tod des Mäzens seine Erben nun scharf auf den Happen und wollen die Zusage rückgängig machen.

Die Fälle sind unterschiedlich, haben jedoch eine Gemeinsamkeit in der Mentalität. Zukunftsgerichtete Investitionen in die Kultur sind entweder nicht mehr erwünscht oder werden, wie in Hamburg, so dilettantisch angepackt, dass sie zu scheitern drohen. Für diese Art öffentlicher Zukunftsunfähigkeit ist Stuttgart 21 das weit herum sichtbare Fanal. Eine abgehobene Bürokratie geht mit konservativen Verweigerern eine unheilige Allianz ein; die einen können nicht und die andern wollen nicht. Für die private Zukunftsunfähigkeit steht die Gier der Jetset-erprobten Erben, die dem Privatspaß von heute den Vorrang geben vor dem kulturellen Engagement für morgen.

Politische Inkompetenz, gepaart mit privatem Hedonismus und Fortschrittsangst: die Krankheit der Gegenwart. Wir verfrühstücken unsere Zukunft. Am deutlichsten zeigt sich das bei den horrenden Staatsschulden und dem Rentenloch. Sie sollen einfach der nächsten Generation aufgebürdet werden – falls sich nicht vorher die im Kapitalüberfluss schwimmenden Chinesen als gnädige Retter in der Not erweisen und Westeuropa aufkaufen.

Konsum geht vor Investition, der Erhalt des Althergebrachten vor dem Wagnis für Neues. Kein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, die die nächsten Jahrzehnte überleben möchte. Und das Peinliche ist: Öffentlichkeitswirksame Spielwiese für diese Demonstration allgemeiner Impotenz ist die Kultur.

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