„Karte gesucht!“ Der Mann, der dieses Schildchen vor sich hielt, stand nicht etwa für ein Konzert mit den Berliner Philharmonikern oder mit Claudio Abbado an, nein: für eine Aufführung von Pierre Boulez’ epochemachenden „Répons“, und er reichte, nachdem er eine Karte ergattern konnte, das Schild sogleich weiter, denn es gab noch andere Interessenten.
Das Bild muss Labsal für die Organisatoren des Lucerne Festival gewesen sein: Ziel erreicht! Zeitgenössische Musik ausverkauft! Gewiss haben wir es hier mit einem Meisterwerk der Neuen Musik und einem ihrer wichtigsten Exponenten zu tun. Dennoch: Es ist keine Ausnahme. Die Luzerner Konzerte mit zeitgenössischer Musik sind schon seit Jahren gut besucht. Das hat Methode. Konsequent haben Festivaldirektor Michael Haefliger und der für die Neue Musik verantwortliche Mark Sattler die Positition des Composer-in-Residence auf- und ausgebaut. Waren es früher die bekanntesten der Zunft (Rihm, Birtwistle, Carter, Holliger), so kommt in den letzten Jahren auch eine jüngere Generation zum Zug. Und es sind dabei keineswegs die bequemeren Komponisten, die besser ankommen: Der als so schwierig geltende Helmut Lachenmann hatte vor einigen Jahren geradezu eine Fangemeinde. Die Leute verstanden, dass in diesen ungewöhnlichen Klängen und Geräuschen eine ungemeine Konzentration und Sinnlichkeit steckt. Heuer waren mit der Finnin Kaija Saariaho und dem Deutschen Jörg Widmann gleich zwei bekannte Persönlichkeiten zu Gast. Ihre neuen Stücke wurden nun nicht etwa in Musica-Nova-Konzerten versteckt, sie erklangen in den populären Sinfoniekonzerten, zu denen auch die Prominenz kommt. Esa-Pekka Salonen führte mit dem Philharmonia Orchestra erstmals „Lumière et Pesanteur“ auf, eine ruhige, zwischen Helligkeit und Schwere sich bewegende Musik. Dahinter steckt ein Abschnitt aus Saariahos szenischem Oratorium „La Passion de Simone“, den sie auf Salonens Wunsch fürs großes Orchester umarrangiert hat. Simon Rattle brachte das wenige Tage zuvor mit den Berlinern uraufgeführte „Laterna Magica“ mit und fand damit nicht nur bei der Kritik Anklang. Jörg Widmann wiederum schrieb für Heinz Holliger ein neues Oboenkonzert, das dieser schon in den ersten Festivaltagen, als das Programm noch von Abbado geprägt war, uraufführte. Er brillierte nicht nur als Komponist, sondern auch auf der Klarinette und zog so den Bogen zu den anderen Interpretenstars, den „artistes-étoiles“ Magdalena Kožená und Yefim Bronfman, denen ebenfalls mehrere Konzerte gewidmet waren. Mit dieser Konzentration und einem Motto (in diesem Jahr: Natur) hat jeder Festivaljahrgang in Luzern sein Gesicht.
Gleich fünf der insgesamt elf Uraufführungen fielen auf ein Konzert, das Heinz Holliger, dem Dirigenten, Komponisten und Oboisten in dreifacher Funktion, gewidmet war. Mit dem SWR Vokalensemble führte er den eigenen Zyklus „Shir Shavur“ nach Texten des 1985 verstorbenen israelischen Dichters David Rokeah auf – dunkle, ja zum Teil fast enigmatische Stücke; außerdem das neue Chorwerk „Rosa Loui“, das auf Texten des Berner Pfarrers und Dichters Kurt Marti beruht. Mundartgedichte, die in der Schweiz mittlerweile zum Schulstoff gehören, wie die „hommage à rabelais“ („d’schöni / vo de wüeschte wörter / isch e brunne / i dr wüeschti / vo de schöne wörter“) erklangen dabei in gleich vier unterschiedlichen Vertonungen. Das zu hören war ein Ohrenspitzer – wo sind die Unterschiede? – aber es ist auch, als würde man das Gedicht mehrmals hintereinander und jeweils genauer lesen. Dazu passten die drei Bearbeitungen, die Clytus Gottwald nach Orchesterstücken von Haydn und Mahler für Chor geschaffen und mit einem neuen Text unterlegt hat. So kombinierte er einen Ausschnitt aus der Genesis-Übersetzung von Moses Mendelssohn mit dem Anfang von Haydns „Schöpfung“, und das beliebte Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie erklingt mit Eichendorffs Gedicht „Im Abendrot“. Das ging nicht immer ganz reibungslos auf, zuweilen musste Gottwald die Texte etwas umständlich verbiegen, um sie der Musik zu unterlegen, und doch wurden durch dieses vielschichtige, zuweilen verblüffende Verfahren neue Schichten der Musik freigelegt. Auch das gleichsam ein Wiederlesen und eine komponierte Interpretation. Zwischen den Chorsätzen standen außerdem zwei neue Oboenquartette, die für Holliger geschrieben wurden und die er nun zusammen mit der Geigerin Esther Hoppe, dem Bratschisten Jürg Dähler und dem Cellisten Daniel Haefliger erstmals öffentlich spielte. Der Brite Harrison Birtwistle schrieb in „Of Sweet Disorder and the Carefully Careless“ wie so oft eine rhythmisch kräftige, ja zupackende Musik. Der Basler Rudolf Kelterborn zog neben der Oboe auch das Englisch Horn bei und erweiterte so das Klangspektrum in die Tiefe. Entstanden ist ein Stück von zuweilen herber, ja verquerer und geheimnisvoller Schönheit, bei der Widerborstigkeit und Unruhe auf ganz unprätentiöse Weise gewahrt bleiben. Gewiss: Das Experiment hat in Luzern wenig Platz. Für ungewöhnliche Raumprojekte, Installationen et cetera geht man besser an das kleine, aber feine Festival von Rümlingen im Kanton Baselland, und die unbekannte Avantgarde kommt eher bei den Tagen für Neue Musik Zürich im November zum Zug. Aber es kann nicht das Ziel Luzerns sein, mit einer Werkstatt wie Donaueschingen konkurrieren zu wollen. Hier wird vermittelt – und das für ein breiteres Publikum, aber auch für eine jüngere Musikgeneration. Das ist das Anliegen der Lucerne Festival Academy. Pierre Boulez hat damit eine einzigartige Unterrichtsstätte für zeitgenössische Musik aufgebaut.
Mitglieder dieser Academy waren es nämlich, die unter seiner Leitung „Répons“ aufführten (gleich zweimal hintereinander). Sie spielten unter seiner Leitung in der vorausgehenden Woche außerdem ein Konzert mit Janácek, Varèse und Berg (Kammerkonzert mit Bronfman und Hae-Sun Kang) sowie in der folgenden eines mit Boulez (Notations), Debussy (Jeux) und Berio (Sinfonia). Ein happiges Programm also, zu dem noch weitere kleinere Konzerte kamen. Dafür eigens sind 130 junge, höchstens 28 Jahre alte Musikerinnen und Musiker aus dreißig Ländern nach Luzern gekommen. Während drei Wochen arbeiteten sie, sie probten, hörten Vorträge, knüpften Beziehungen, genossen sicher auch die Schweiz und übten und übten. 400 bis 500 bewarben sich für die Teilnahme. Die Dozenten, Mitglieder des Ensemble Intercontemporain aus Paris, wählten die Teilnehmer aus und bereiteten sie in Luzern fürs Orchester vor. Mit dieser Academy, so sagt die Projektleiterin Katharina Rengger, wollte man etwas Einzigartiges schaffen. Meisterkurse, wie sie früher jeweils während der Luzerner Festwochen stattfanden, gibt es mittlerweile überall. Wo aber konnte man in der Moderne, dem Schwerpunkt des Lucerne Festival, Erfahrungen sammeln, mit Spezialisten arbeiten und einfach einmal erleben, wie es ist, eine Uraufführung, zu der es kaum eine Tradition und noch keine Aufnahme gibt, von Grund auf zu erarbeiten. Seit 2004 besteht die Academy. Pierre Boulez war von dieser Idee sofort begeistert. Er kann hier gleichsam an seinem Erbe arbeiten.
Der 84-Jährige gibt der Enkelgeneration etwas von seinen maßstabsetzenden Interpretationen weiter, nicht nur in eigenen Stücken, sondern auch anhand von Debussy, Varèse, Strawinsky, der Wiener Schule und den Schlüsselwerken der Avantgarde. Bereits kann man auf die älteren Academy-Jahrgänge zurückgreifen. Frühere Studierende übernahmen die Solopartien in „Répons“. Anhand dieses Werks wurden außerdem zwei junge Dirigenten ausgebildet. Sie saßen im Saal, hörten zu, beobachteten, nahmen auf und wurden dann selber aufgefordert, das Erlebte umzusetzen. Es ist eine Arbeit für die Zukunft. Nächstes Jahr setzt das Lucerne Festival auf den bereits renommierten Schweizer Dieter Ammann als Composer-in-Residence. Außerdem führt der Schweizerische Tonkünstlerverein (der Verband für die Komponisten, Interpreten und Musikforscher im Bereich Neue Musik) sein alljährliches Fest innerhalb des Lucerne Festival durch, und dabei sollen mehr als zwanzig helvetische Uraufführungen erklingen. Es gibt noch weitere Ziele zu erreichen.