Leonard Bernstein zählt zweifellos zu den Genies des 20. Jahrhunderts. Die Vielfalt seines musikalisch-künstlerischen Schaffens war gesteuert durch eine besonders enge Verbindung von Intellekt, Empfindungskraft und Kommunikationsfähigkeit, je auf höchstem Niveau. Dabei war sein Wirken über ziemlich genau ein halbes Jahrhundert geprägt von drei ineinander verschlungenen Identitätsmerkmalen: Leonard Bernstein war Musiker, Amerikaner und Jude, vor allem aber war er, was amerikanische Juden häufig als deutsch-jiddischen Begriff verwenden, „Mensch“.
„Michael, he is not a Mensch!“, so charakterisierte er einmal mir gegenüber, sichtlich verstört, einen prominenten Dirigenten-Kollegen, der ihn unmittelbar vor dem Konzertauftritt überraschend aufgesucht hatte, um dann nur ganz Unwesentliches zu äußern. Leonard Bernstein lebte die Musik und in der Musik, der er sich gerade widmete und die er anderen Menschen nur in vollkommener Weise vermitteln wollte, sei es als Dirigent, Pianist, Komponist, Fernsehmoderator oder zugleich in mehreren dieser Funktionen.
Ich erlebte „Big Lenny“, wie er später im Kreis seiner Freunde und Verehrer häufig genannt wurde, zum ersten Mal im September 1960, als er – ein Geschenk der Ford Motor Company – mit den New Yorker Philharmonikern für drei Tage nach Berlin kam, um im Großen Sendesaal des SFB (heute rbb) zwei Konzerte im Rahmen der Berliner Festwochen sowie die Aufzeichnung einer Folge seiner berühmten TV-Serie für das US-Fernsehen zu absolvieren. Gleich das erste Konzert, eröffnet mit Bernsteins eigener fulminanter „Candide“-Ouvertüre, dem inzwischen am häufigsten aufgeführten oder gesendeten Orchesterwerk eines amerikanischen Komponisten, begeisterte das Publikum, mich eingeschlossen. Beim anschließenden Empfang bot sich mir die Gelegenheit, mit dem Maestro ins Gespräch zu kommen. Der Abend fand – mit einer größeren Gruppe der New Yorker Musiker – seine Fortsetzung in einer damals angesagten, zwielichtigen Bar nahe dem Kurfürstendamm mit live Rock ’n’ Roll – Bernstein: „They do it so badly!“ – und als man in den frühen Morgenstunden auseinander ging, bemerkte er, wir würden uns vielleicht bei der Fernseh-Aufzeichnung um 10 Uhr schon wieder treffen – „I hope you are coming!“.
Leonard Bernsteins jüngerer Bruder Burton, damals bei der Zeitschrift „The New Yorker“ tätig, hat Monate später im „Esquire“ Magazin sehr ausführlich über die Drei-Tage-Spritztour der New York Philharmonic nach Berlin berichtet und dabei ein Porträt seines bereits weltberühmten Bruders gezeichnet, ebenso liebevoll wie zutreffend und witzig. Daraus ging hervor, dass das Skript für die in Berlin aufzuzeichnende Fernseh-Show beim Nachtflug über den Atlantik erst im Rohzustand existierte. Was Bernstein vor allem bewegte, war der Termin: Der Berlin-Besuch würde ausgerechnet an den Feiertagen von Rosh Hashana, dem jüdischen Neujahrsfest, stattfinden und dem wollte er dadurch pointiert Rechnung tragen, dass er in seiner Moderation den Neujahrssegen auf Hebräisch sprach – jawohl, in Berlin! Bedenken einiger Mitarbeiter in seinem Team wies er zurück, er wollte es riskieren und war neugierig auf die Reaktion des bei den Aufzeichnungen überwiegend jugendlichen Publikums. So galt es, am Tag der Ankunft und dem Jetlag trotzend, sowohl eine kontroverse Redaktionsbesprechung abzuhalten als auch den ausführlichen Festgottesdienst in einer – zufällig orthodoxen – Synagoge zu besuchen. Am folgenden Tag fanden zwei TV-Proben statt mit einem amerikanisch-deutschen Produktions- und Technik-Team, bevor Bernstein vor das Berliner Festwochen-Publikum trat, dessen spontane Begeisterung bei ihm die Zufuhr frischer Kräfte bewirkte. Diese Kräfte wurden auch dringend benötigt, denn Bernstein musste am nächsten Morgen um 9 Uhr (3 Uhr in New York!) im Großen Sendesaal sein, fürs TV-Make-up und letzte Absprachen mit Produzent und Regisseur, vielleicht auch für ein paar Einspiel-Minuten am Klavier, denn an diesem Tag war er nicht nur als Dirigent sowie Fernsehmoderator gefordert, sondern hatte tatsächlich dreimal, für die Fernsehaufzeichnungen wie für die zweite Festwochen-Gala am Abend, Beethovens C-Dur-Klavierkonzert zu spielen.
Ich hatte von Leonard Bernsteins „Young People’s Concerts“ schon gehört, hatte aber keine Vorstellung von deren Gehalt und Präsentation. So war ich geradezu hingerissen von dem, was ich nun erlebte, von der künstlerischen Brillianz einschließlich pianistischer Feinfühligkeit, der Lockerheit seiner Sprache und Gestik, dem didaktischen Geschick, eben der unwiderstehlichen Suggestion, mit der dieser Superman „The Joy of Music“ vermittelte. Auch dass er in dieser TV-Show, die in den USA landesweit am nationalen Thanksgiving-Feiertag ausgestrahlt werden sollte, Berlin als Aufnahmeort erwähnte und mit dem jüdischen Neujahrsfest in Verbindung brachte, indem er seinen jungen deutschen Zuhörern auf Hebräisch den Segen sprach, berührte mich.
Nur zu gerne nahm ich deshalb die Gelegenheit wahr, am Nachmittag auch die zweite TV-Aufzeichnung mitzuerleben. Da gab es allerdings eine technische Panne, die eine Unterbrechung erforderte und damit das Verständnis der Moderation erschwerte, besonders die inhaltliche Verbindung zu Rosh Hashana. Dass Bernstein zunächst gerade deshalb diese Aufzeichnung als im Wesentlichen misslungen erachtete und darüber tief unglücklich war, konnte ich nicht ahnen, als ich mich wenig später in der Künstlergarderobe von ihm verabschiedete und ihn bat, den hebräischen Segensspruch zur Erinnerung in mein Programmheft zu schreiben.
Später, als es zu einer freundschaftlichen Korrespondenz, auch zu gelegentlichen Wiederbegegnungen gekommen war, nahm ich in Burton Bernsteins „Reportage“ wahr, dass Bruder Lenny diesen Eintrag in mein Programm samt Unterschrift als seinen persönlichen Friedensschluss mit dem „alten Feind“ erachtete. Die Überschrift im Esquire: „Leonard Bernstein’s separate Peace with Berlin“. Der damals „schlaksige junge Mann, Michael“ hält das Autograph dieses Friedensvertrags auch im reifen Alter noch in Ehren.