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Ästhetik, Musik, Theologie

Untertitel
Zu einem Projekt auf dem Kirchentag 1999
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Auch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend haben die großen abendländischen christlichen Kirchen die grundstürzende Krise, in die sie durch die Aufklärung geraten sind, nicht überwunden. Nicht theologische und nicht philosophische Denkbemühungen, keine politischen und im weitesten Sinne sozialen Impulse, keine künstlerischen Aktionen scheinen bisher geeignet zu sein, eine grundlegende und dauerhafte Konsolidierung, geschweige denn einen wirklichen Epochenschnitt herbeizuführen. Weder Säkularisierungs-Theorien, die eine epochenübergreifende Substanz der christlichen Welt und Kultur unter historisch veränderten Bedingungen festzuhalten versuchen, noch im reformatorischen oder fundamentalistischen Sinne erneuerte Theologien des Wortes Gottes haben daran mittel- oder gar langfristig etwas ändern können. Sing- und Orgelbewegung und Politische Theologien sind Episode geblieben. Das verstärkte, ja flächendeckende sozialdiakonische Engagement der Kirchen gerinnt zu – von einer breiten Öffentlichkeit immerhin zustimmend wahrgenommenen – Sozialkonzernen. Ein Großereignis wie der Kirchentag ist zwar nach wie vor ein Podium zur Fokussierung und Selbstdarstellung der Kräfteverhältnisse in unserem Land. Aber es strahlt kaum aus auf die Alltagswirklichkeit von Gemeinden und Landeskirchen oder gar darüber hinaus – am ehesten noch durch „neue“ Lieder, die gesungen werden und stilistisch überwiegend aus der Popularmusikszene kommen. Kann in diesen Zusammenhängen ein Projekt, das aus Hochschulen kommt, die – auch – Kirchenmusiker ausbilden, etwas anderes sein als ambitioniertes kulturelles Rahmenprogramm? Die Antwort lautet entschieden: Ja! Und die Brisanz, die in diesem Ja steckt, kulminiert in Ästhetiken, die nicht geistesgeschichtliche Prozesse initiieren oder metatheoretisch vollziehen. Solche Ästhetiken setzen vielmehr „etwas“ frei: Formen von Lebendigkeit, die nur bedingt einem Epochenschema zugeordnet werden können. Folgerichtig können solche Formen von Lebendigkeit nicht als in der Darstellung der Entwicklung einer allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte begründet gelten und nicht in einem unendlich erscheinenden Reservoir an Verhältnisbestimmungen und Entwicklungsmöglichkeiten zureichend beschrieben werden: Theologie und Vernunft, Musik und Liturgie, Glaube und Ethik, Kultur und soziale Verantwortung, ... und ..., ... und ... Eine solche „Dialektik der Aufklärung“ (Ludwig Marcuse) ist – trotz mannigfacher theologischer Rezeption – weder theologisch, noch künstlerisch ausgerichtet, sondern sozial(-philosophisch). Zugespitzt – als These – gesagt: sie kann letztlich als eine Variante der Darwinschen Evolutionstheorie auf dem Gebiet der Geistesgeschichte verstanden werden. Und der vorläufige Endpunkt dieser Geschichte zeigt sich im globalen Markt, der Kultur, Theologie, Kirchen längst erfaßt hat. Ist jeder ein Künstler? An zwei Komplexen zeigen sich demgegenüber Ästhetiken, die über Visionen von Zeit oder über Visionen menschlicher Identität Formen von Lebendigkeit freisetzen. Der erste Komplex gipfelt in Joseph Beuys’ Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Dieser Satz wurde aber erstmals von Friedrich D. E. Schleiermacher formuliert. Und – offensichtlich ohne dies zu wissen, schon gar nicht im Sinne eines geistesgeschichtlich ausgewiesenen Problembewußtseins – weist Beuys auf einen ähnlichen Zusammenhang wie Schleiermacher in seinen „Reden über die Religion“ (1799) hin. Jeder Mensch ist demnach insofern ein Künstler, als Aktionen, in denen er zu sich selber findet – durch Entfremdungen der politischen Geschichte hindurch – (überlebens-)notwendig erscheinen. Wobei für Schleiermacher eher „Entfremdungen“ des Denkens thematisiert sind, die sich freilich – auch – in Formen von Machtmißbrauch, also gewissermaßen politisch niederschlagen. Zugleich ist dem Denken der Punkt der Identität gleichzeitig ein Punkt von Transzendenz, mindestens aber von Begründet-Sein. Weshalb für Schleiermacher Kunst und Religion in ihrer Differenz und in ihrem Zusammenhang neben Wissenschaft und Ethik konstitutiv für Welt und Welterfahrung sind: gewissermaßen als Oszillation, als Pendelschlag alles Lebendigen. Folgerichtig benennt Beuys wiederum in Anlehnung an Rudolf Steiner den Pendelschlag des Lebendigen – scheinbar widersprüchlicherweise noch als Trias! – wohl in sozialen Zusammenhängen, aber als Behaust-Sein des Menschen: Freiheit im Geistesleben, Gleichheit vor dem Recht, Brüderlichkeit in der Wirtschaft. Oder von Beuys selber – unbewußterweise schleiermacherisch – formuliert: Der Mensch als Künstler bewegt sich im konstitutiven Zusammenhang von Denken, Fühlen und Wollen. (Spiegel-Gespräch vom 10. Mai 1984) Auch hier – gewissermaßen auf dem Boden sozialer Tatsachen – ist also im Sinne einer Oszillation, nicht einer Entwicklung des Lebendigen eine Trias und nicht eine Dialektik formuliert. Fühlen ist Katalysator: Räume eröffnende Kraft, nicht Entwicklungsprinzip, was Denken und Wollen für sich in ihrem dialektischen Zusammenhang wären. Phänomen der Zeit Der zweite Komplex gipfelt im zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach. Die systematische und erschöpfende Anordnung der Modi musikalischer Aktion verbleibt nicht einfach im „orthodoxen“ System musikalischen und theologischen Denkens und der dazugehörigen Inhalte, sondern generiert zugleich das Phänomen der Zeit und der Formulierung einer Vision ihres Vollzugs. Das heißt nicht, daß das System zeitbedingt gedacht wäre, wohl aber, daß das Ganze „nur“ in der Zeit in Erscheinung tritt. Eine gewissermaßen komplementäre Ästhetik formuliert John Cage, indem er das Bachsche Modell des Zusammenhangs von Substanz und Kontingenz gewissermaßen umkehrt und eine neue Qualität schafft: die Identität des Nicht-Identischen. Im Rahmen einer reinen Zeitorganisation wird die Gleich-Gültigkeit potentiell aller Klangereignisse postuliert. Unwägbarkeit und Scheitern scheinen nicht nur – real – vorprogrammiert, sondern methodisch als schöpferische Kraft installiert. Methodisch! Es geht um Durchdringung, nicht etwa um Erklärung oder gar Hypostasierungen des Ursymbols des Kreuzes. Sein und Nichts, die Frage nach der Konstitution des Lebendigen ist virulent, nicht – in letzter Konsequenz theologisch überhöhtes – Herrschaftswissen, das vorhandene Welten nur noch vermehrt. Dennoch: der Pendelschlag des Lebendigen pendelt nicht beliebig. Er wird dessen ansichtig, was das Lebendige zerstört. Nicht zu Unrecht prägen deshalb das ästhetische Denken der abendländischen Kirchen auch die Fragen nach Schuld und Sünde. Wobei es in einer langen Geschichte selten gelungen ist, Begriffe und Zuweisungen von Schuld und Sünde über den Status von Herrschaftswissen hinauszuführen. Um so erstaunlicher ist die Tatsache, daß auch das gegenläufige Phänomen bis in ästhetische Positionen dieses Jahrhunderts hinein hör- und sichtbar bleibt. In Peter Turrinis Stück „Tod und Teufel“ etwa sagt der Protagonist, ein durch den herrschenden Sündenbegriff der Kirche als gescheitert entlarvter Priester: „Der Himmel, ein gefallener Baldachin, liegt zertreten auf der Erde. Er muß noch einmal errichtet werden, die Sünde muß wieder benannt, die Vergebung wieder erfleht werden.“ In lebendigen Aktionen der Menschen, nicht in vorgegebenen Mustern. Dasselbe Phänomen stellt sich in den Stücken „Die Liebe in Madagaskar“ und „Endlich Schluß“ nach einer Stuttgarter Inszenierung von Hans Ulrich Becker – gleichsam säkular – auch so dar: Wir sind in jenem Zeitalter, „in dem inzwischen alles sagbar geworden ist, aber nicht lebbar: Der eine hat keine Phantasie, und deshalb ist er nichts, der andere wiederum ist im Leben schon durch alles hindurchgegangen und bringt sich dann um, weil er erkennt, daß er nichts ist.“ Es ist die Frage nach dem Sein und nach dem Nichts: Wo sind die (ästhetischen) Strukturen, die den Pendelschlag des Lebendigen zu buchstabieren erlauben? Nicht im Rahmen der Begriffe der Geistesgeschichte, sondern im symbolischen Vollzug von Lebens-Räumen! Angesichts des zu Ende gehenden Millenniums versucht das Kirchentagsprojekt der Hochschulen an diese Frage anzuknüpfen: als übergreifende Struktur eines dreieinhalbtägigen zugleich musikalisch und theologisch ausgearbeiteten Zyklus wird die Struktur des Gedenkens dargestellt. Dies legt sich durch die Wahl der beiden Schauplätze des Geschehens nahe: durch den im ersten Weltkrieg nach Plänen von Paul Bonatz erbauten Stuttgarter Hauptbahnhof und durch die gotische Frauenkirche zu Esslingen/Neckar. Über dem Portal zur Haupthalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs gedenkt ein überdimensionaler Krieger der Opfer des Kriegs. Der (Welt-)Krieg hat noch nicht das Antlitz des Schreckens, und die Haltung des Kriegers gleicht der eines Engels. Welcher Namen „anderer“ Opfer wäre zu gedenken? Die Esslinger Frauenkirche gedenkt der Unwägbarkeit und des Scheiterns des Lebens Jesu und seiner Mutter, des Sohnes Gottes und der Menschentochter. Ein durch die Schauplätze gegebener Pendelschlag: die Frauenkirche auf der einen Seite, in der am Schluß des gesamten Zyklus eine musikalische Nacht dem Ordinarium der Messe entlang und mit einer einfachen Abendmahlsfeier begangen wird (mit Stücken von Ockeghem, Cage, Huber, Lachenmann, Ullmann, Bossert) als exemplarische finale Aktion. Die Haupthalle des Hauptbahnhofs auf der anderen Seite zeigt ein musikalisch, liturgisch, szenisch und medial gestaltetes Kontinuum, das sich alle sechs Stunden wiederholt. Das systematische Gerüst des ganzen Kontinuums vollzieht sich als Gesamtaufführung des zweiten Teils des Wohltemperierten Klaviers im Rahmen einer bestimmten Choreographie. Zwei Flügel mit je einem Spieler sind an den Außenpunkten eines „Korridors“ in der Haupthalle postiert und werden während des Spiels des Präludiums C-Dur zur Mitte des Korridors geschoben, wobei sich eine mehr oder weniger starke Asynchronizität und Koinzidenz der Schallereignisse ergibt. Mit Beginn des nächsten Präludiums erfolgt der umgekehrte Verlauf und so fort. Zu Beginn und in der Mitte eines sechsstündigen Zyklus findet eine Andacht statt. Weiter wird die Aufführung des Wohltemperierten Klaviers unterbrochen durch „Schritte“ und „Schnitte“. Schritte sind beispielsweise bestimmte andere Pendelschläge: ein Tischtennismatch; der Versuch, dazu mit verschiedenen Instrumenten zu improvisieren. Schnitte sind etwa die 13malige Durchschneidung von Bach, zwölf Präludien, mit Satie, Douze Petits Chorales; Ausschnitte aus Bachs Matthäuspassion; „stille“ Aktionen mit Choreographien, Lesungen, neuer Vokalmusik. Ist die so zugespitzte und präzisierte Frage nicht höchst bedenkenswert: Ist Kunst nicht wesentlich „theologisch“ konstituiert und Theologie – oder vielleicht besser – Weisheit letztlich – an der Schwelle zum Dritten Jahrtausend – nur als Ästhetik darzustellen? Nicht um die Agonie überholter Formen abendländischer Kirchlichkeit erneut – letztlich durch Versuchung zur Macht – am Leben zu erhalten! Sondern um der Lebendigkeit unserer Existenz willen?!!?

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