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Feiert am 23. Dezember seinen 70. Geburtstag: der Komponist Georges Aperghis. Foto: Xavier Lambours
Feiert am 23. Dezember seinen 70. Geburtstag: der Komponist Georges Aperghis. Foto: Xavier Lambours
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Arbeit, Alltag, Abenteuer

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Der Komponist Georges Aperghis nimmt sich die Zeit, aus den Zwängen des Betriebs auszubrechen
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Dazu fehlt im Theater meist die Zeit: sich zu begegnen, ohne dass man weiß, worauf es hinausläuft; eine Improvisation zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie ein brauchbares Ergebnis liefern wird – brauchbar im Sinne ihrer „Verwertbarkeit“ für eine Aufführung (und deren Wiederholung!), die allein den immensen zeitlichen Aufwand zu rechtfertigen scheint, den eine gemeinsame künstlerische Entdeckungsreise erfordern kann.

Als der griechisch-stämmige Komponist Georges Aperghis 1976 sein erstes eigenes Theater gründet, ist er nicht allein mit dem Wunsch auszubrechen aus den herrschenden Strukturen, wie sie der Theater- und Konzertbetrieb vorgibt. „Die Spezialisierung“ – Grundlage der industriellen Autofertigung ebenso wie eines auf Hochtouren laufenden Kulturbetriebs – „war uns ein Graus“, sagt Aperghis, der in seinen Theaterstücken abstrakten Tönen einen Körper verliehen und Körper zu Musik gemacht hat. „Wir haben nicht aus Geschmacksgründen experimentiert. Aber der künstlerische Kontext, in dem wir leben, erlaubt es nicht, dass eine Aufführung als Abenteuer entsteht! Wir wollen in unseren Stücken über den Alltag sprechen. Und wenn man über die Welt heute sprechen will, muss man sich auch darauf einlassen, Arbeitsweisen zu erfinden, Sprachen, Bezüge zwischen Tönen und Gesten, die dem entsprechen, worüber wir sprechen wollen.“

Mit seiner Musik spricht Georges Aperghis stets über die Gegenwart. Er tut dies nicht auf journalistisch-zeitgeis­tige Weise; er nähert sich dem Hier und Jetzt mit der forschenden Neugier des Archäologen. Der Blick des heute 69-Jährigen erkennt die Gegenwart als eine ruinierte – und treibt sein kindliches Spiel mit den Resten, die sich ihm entgegenstrecken.

Vielleicht ist diese Perspektive zwangsläufig für jemanden, der im Schatten der Akropolis aufwuchs: In Athen, in einer schmalen Gasse aus gestampfter Erde mit ihrem alltäglichen Straßentheater, untermalt von rhythmischen Hammerschlägen auf Bronze aus einem nahe gelegenen Bildhaueratelier – dort ist die akustische Urszene von Aperghis’ Komponistenbiografie anzusiedeln. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der Sohn einer Malerin und eines Skulpteurs die Vorgänge in seiner Straße mit leicht zusammengekniffenen Augen und weit geöffneten Ohren beobachtet, in sich aufsaugt und innerlich neu und anders zusammensetzt; wie sich die Laute aus den Höfen und Häusern zu einer außergewöhnlichen Polyphonie des Alltags verbinden.

Aperghis’ griechische Herkunft kann man heute allenfalls an der Härte erkennen, die er manchen Konsonanten verleiht, die wie kurze Schlagzeugeinsätze aus dem gemurmelten Strom seiner Rede herausstechen. Er selbst spricht seinen Namen inzwischen französisch aus – so wie die vielen Musiker und Theaterleute auf der ganzen Welt, die ihm als einem der wichtigsten Erneuerer des Musiktheaters ihre Bewunderung entgegenbringen.

Dass Georges Aperghis einem breiteren Publikum in Deutschland noch nicht bekannt ist, erklärt sich einzig und allein dadurch, dass er den Marsch durch die Institutionen anderen überlassen und sein musikalisches Theater abseits der großen Häuser entwickelt hat. Wie ein Bild, das seinen Rahmen stets bei sich haben muss, erfordern seine Werke einzigartige technische Setups, die nur äußerlich einfach sind. So wie die vier Projektionsflächen über den vier Frauen, die in „Machinations“ ein fesselndes Spiel entfachen an der Schnittstelle von Mensch und Maschine: Stimmen zwischen kindlichem Gebrabbel und sexueller Ekstase, technischer Manipulation und archaischem Urlaut.

Als illegaler Einwanderer erreicht Aperghis 1963 Paris, dort will er seine musikalische Ausbildung fortführen. Er verdingt sich als Pianist in Bars und Nachtclubs, aber auch in der Oper. Er schließt Bekanntschaften mit Schauspielern, Regisseuren, Autoren. Er entdeckt das Theater als Freiraum, der ganz andere Dinge zulässt als der Konzertbetrieb. Der Geist des Festivals von Avignon befeuert seine Suche nach neuen Ausdrucksweisen. „Wir haben uns in Avignon ein Fleckchen auf dem Feld gesucht oder am Wegesrand, um uns unseren Improvisationsübungen hinzugeben, in denen jeder, Musiker oder nicht, den anderen seine künstlerischen Bedürfnisse mitgeteilt hat, was ihn bewegt, was er an den Dingen liebt oder am Leben – auf eine originelle Weise. Diese Vorgehensweise, so primitiv sie – im existenziellen Wortsinne – sein mag, hatte zum Ziel, den Klängen einen Körper zu geben durch die Stimme und die Geste.“

Eine Hand durchbricht eine papierne Wand, eine Klarinette durchstößt sie an einer anderen Stelle. Knapp über dem Boden lugt ein Kopf aus einem Loch und beginnt zu sprechen. Zwei Menschen begegnen sich, fallen sich in die Arme, klopfen sich unablässig auf die Schultern und werfen sich emphatisch Begrüßungsformeln an die Köpfe, frenetisch, als hätten sie gerade ihre Sprache wiedergefunden. – Aperghis’ „Énumerations“ sind, wie überhaupt sein Théâtre Musical, eine Welt des permanenten Staunens: über das, was unsere Körper artikulieren können; darüber, wie die Dinge aussehen, trennt man sie von ihrem Körper ab; und nicht zuletzt darüber, was an Musik in den Dingen steckt, wenn beispielsweise Telefonbücher, Möbel und Wände den rituellen Soundtrack zu einer geheimnisvollen Verrichtung beisteuern, die der Arbeitswelt abgeschaut sein könnte oder einer uralten Zeremonie.
1988 sind die „Énumerations“ entstanden; der Komponist legte dem Stück zunächst Texte nordamerikanischer Indianer zugrunde. Doch ist von diesem Ausgangspunkt im Spektakel, wie es der Filmregisseur Hugo Santiago in einem Pariser Abbruchhaus für das Fernsehen festhielt, auf den ers­ten Blick nichts mehr sichtbar. Erhalten geblieben ist die aus dem Stoff resultierende Achtung, die dem Anderen, dem Fremden entgegengebracht wird: sei es das eigene Spiegelbild, sei es die Haut des Gegenübers, die mit Fingerspitzen abgetastet wird.

1976 gründete Georges Aperghis sein Atelier Théâtre et Musique, genannt ATEM, und im Deutschen erinnert bereits die Abkürzung daran, dass dieses Theater zum Leben möchte. Aperghis hat es bewusst im Banlieue, in den Randzonen und Vororten von Paris angesiedelt, fernab der Tummelplätze der Kaviar-Linken und der Bourgeoisie. Nicht nur Schauspieler und Musiker, auch Anwohner waren Teil der Truppe, mit der Aperghis bis 1997 über zwanzig Werke erarbeitet hat.

Doch ist das Théâtre Musical nur ein kleiner, wenn auch bedeutender Ausschnitt aus dem Schaffen von Georges Aperghis. Neben seiner Theaterarbeit hat er stets auch Partituren geschrieben, selten für Orchester, häufig für Ensembles und meistens für Künstler, die er persönlich gut kennt. So sind über die Jahrzehnte zahlreiche intime Porträts entstanden, von Instrumenten, aber auch von jenen, die sie spielen. Es sind vorsichtige, ja, zärtliche Erkundungen unbekannten Terrains, denen vor allem eines zu eigen ist: ihr sprechender Charakter. „Quasi parlando“, der Titel eines Stückes für Kontrabass, steht stellvertretend hierfür. Das jüngste große Ensemblewerk, das Aperghis für das Klangforum Wien schrieb, dehnt diese Arbeitsweise auf ein ganzes Ensemble aus, ein Gruppenbild entsteht aus 23 Einzelporträts: „Situations“ ist eine Feier der Gemeinschaft, die das Individuum ins Zentrum rückt. Und Feste, das wusste schon der Philosoph Hans-Georg Gadamer, haben ihre eigene Zeit. „Das Fest ist nur, indem es gefeiert wird.“ So viel Zeit muss sein.

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