„Welche musikdramatischen Ausdrucksformen müssten erschaffen werden, damit es gelingt, neue Kräfte freizusetzen?“ Ein hochaktueller Kommentar – den Manos Tsangaris und Daniel Ott allerdings bereits Ende November 2019 bei ihrer Pressekonferenz äußerten: einer Zeit also, als ‚Corona‘ noch nichts weiter als mäßiges Bier oder für feinere Geister ein antiker Blumenkranz war.
Mit dieser heute fast prophetischen Frage untermauern die Macher der Münchener Biennale die Potentiale des neuen Musiktheaters – nun überführen sie das Festival-Motto unter den Vorzeichen der pandemischen Krise in die Realität: The Point of NEW return!
In der ursprünglichen Annotation beschworen Ott und Tsangaris „eine hoffnungsvolle Aussicht bezüglich der Zukunft“ – obwohl diese in Hörweite von Klimawandel, Migration und Neuer Rechten schon einmal bessere Zeiten erlebt hat. Wenn sie weiter vor „der Erosion sämtlicher existierender Gesellschaftsverträge“ warnten, gilt das umso mehr für die aktuellen Entwicklungen infolge der Corona-Pandemie. Ihr optimistischer Blick auf die Künste als „eine sehr besondere Fähigkeit des homo sapiens“ kann auch unter den aktuellen Bedingungen Hoffnung auf einen Point of NEW return machen: einen Wendepunkt also, der zu „Einkehr, Umkehr und vielleicht auch Rückkehr“ einlädt und „Einsichten, Durchsichten, Vorsichten sowie Nachsichten“ einfordert. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Manos Tsangaris und Daniel Ott in Hörweite der kulturellen Folgen von Corona – nämlich der Stilllegung nahezu aller Konzerte und Aufführungen – nicht die Flinte ins Korn werfen; stattdessen setzen sie auf eben jene Qualitäten, welche die pandemische Ausnahmesituation allen Menschen abverlangt: flexibel und dezentral organisiert, entzieht sich die Münchener Biennale 2020 der Flut von Absagen im Kulturleben und findet tatsächlich statt – als „dynamisches Festival“: Zum ersten werden „Uraufführungen, die nicht im Mai in München herauskommen können, andernorts oder zu anderer Zeit Premiere haben.“ Das heißt: Einige Produktionen werden bei Partnerinstitutionen wie dem Staatstheater Braunschweig, der Oper Halle oder Wien Modern ihre Premiere erleben, München wird später nachziehen.
Zweitens wird das Biennale-Programmbuch wie geplant im Mai 2020 veröffentlicht, und damit das gesamte Festival konzeptuell an den Start gebracht. Als ob die Festivalmacher die derzeitige Situation vorausgeahnt hätten, enthält der Katalog nichts Praktisches zu den Produktionen, sondern bildet mit Ausschnitten aus Partituren und Begleittexten den diskursiven Rahmen der Münchener Biennale – es ist „ein Dialog der Produktionen zwischen zwei Buchdeckeln“.
Zum „Curser der ‚dynamischen‘ Biennale“ werden drittens Live-Übertragungen vom Salon des Wunderns und der Sichten. Die von Tsangaris etablierte diskursive Plattform wird also „zum Nervenpunkt des ‚dynamischen Festivals‘“, bei dem über längere Zeit hinweg an verschiedenen Orten nicht nur künstlerische Einsichten zugespitzt, sondern auch die aktuellen Ereignisse in Echtzeit reflektiert werden. Auf künstlerischer Ebene werden schließlich viertens „neue Wege der Übersetzung gesucht.“ So sollen einige Produktionen zunächst mit alternativen Mitteln realisiert werden – etwa als Hörspiel oder Video-Version – bevor sie später auf der Bühne gezeigt werden, denn: „Grundsätzlich kann die Lösung kein einfacher Eins-zu-Eins-Stream sein – zum Musiktheater gehört leibliche Präsenz.“
Ästhetisch werden also umfassende Maßnahmen für einen „New Return“ ergriffen und auch auf sozialer Ebene wagt Daniel Ott einen zukunftsoptimistischen Blick: „Wenn das entschlossene Handeln der Politik auch in der Klimakrise oder gegen Fremdenhass erfolgt, sehe ich positiv in die Zukunft.“ Es müsse aber auch weitere Wendepunkte geben, fügt Manos Tsangaris hinzu: „Etwa im Kulturleben, das zeigt die momentane Situation, gilt es einiges zu überprüfen.“ Dank der dynamischen Dezentralisierung des Festivals ist immerhin die Existenz der bei der Münchener Biennale für neues Musiktheater beteiligten Künstler und Künstlerinnen gesichert.