Als Manfred Eicher und Karl Egger im Jahre 1969 in München die Edition of Contemporary Music, kurz ECM, als Produktionsfirma und Schallplattenlabel gründeten, reagierten sie damit auch auf einen immer deutlicher sich abzeichnenden Bedarf, oder – anders formuliert – eine Lücke, die am Musikmarkt erkennbar geworden war.
Auch Andere reagierten um die gleiche Zeit – mit der Gründung der Musikproduktion Schwarzwald (MPS) unter dem Dach des Villinger Rundfunkgeräteherstellers SABA zum Beispiel oder mit der Gründung der Free Music Production in Berlin. MPS und FMP haben mittlerweile Abbrüche und Neuanfänge unter veränderten Vorzeichen hinter sich oder die Arbeit eingestellt. Dass unter diesen dreien lediglich ECM es geschafft hat, eine fünf Jahrzehnte währende Kontinuität aufrecht zu erhalten, hängt zum größten Teil mit der prägenden Produzenten-Persönlichkeit Manfred Eicher zusammen.
Die Lücke im Musikmarkt war entstanden, weil der aus der Neuen in die Alte Welt herübergewachsene Jazz in Europa längst tiefe Wurzeln geschlagen und viel Eigenes und Neues hervorgebracht hatte, aber die Versorgung mit Tonträgern immer noch von der anderen Seite des Atlantik geregelt wurde. Die verlegerischen Strategien der MPS, FMP und ECM behandelten Jazz von Anfang an nicht als amerikanisches Produkt mit europäischen Ablegern, sondern als transatlantisches Projekt mit europäischem Schwerpunkt.
Die erste Schallplatte der ECM war Anfang 1970 Mal Waldrons Trio-Einspielung „Free At Last“, aufgenommen im Tonstudio Bauer in Ludwigsburg, gepresst in einer Auflage von 500 Exemplaren. Es folgten zwei weitere Pressungen im gleichen Jahr, außerdem etwas ältere Aufnahmen mit Gary Peacock und Paul Bley. Im September 1970 entstand im Bendiksen Studio in Oslo die erste Aufnahme mit einem jungen norwegischen Saxophonisten namens Jan Garbarek, zu dessen Band Terje Rypdal, Arild Andersen und Jon Chris-tensen gehören. Manfred Eicher war Produzent, Toningenieur war Jan Erik Kongshaug. So bildet diese frühe Produktion also schon ein ordentliches Exposé für das, was in den folgenden Jahren bei ECM geschehen würde.
Als ein nicht ganz unwichtiger Faktor der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den frühen Jahren muss die Preisbindung auf dem Schallplattenmarkt genannt werden. Sie sorgte für einen – am durchschnittlichen Lebensstandard gemessen – vergleichsweise hohen Verbraucherpreis, dämpfte allerdings auch das Risiko für die Hersteller ein wenig und ermöglichte die seinerzeit beliebte und bewährte Repertoire-Politik der Firmen. Unter dem Stichwort der Quersubventionierung konnten weniger erfolgreiche Produktionen mit Hilfe von kommerziell erfolgreicheren Produkten möglich werden, so dass die künstlerisch ambitionierten Strategen der Branche die Chance hatten, mit ihren Veröffentlichungen Künstler-Karrieren systematisch zu begleiten und über kommerziell weniger ertragreiche Phasen hinweg zu fördern. Dieses Vorgehen war in den so genannten Major Companies gang und gäbe.
Mit dem Ende der Preisbindung und dem entsprechend sich erhöhenden Konkurrenz-, Kosten- und Rationalisierungsdruck im Tonträgermarkt allerdings versickerte bei den Major Companies recht schnell der künstlerisch verantwortungsvolle Aspekt der eigenen Arbeit. ECM gelingt es nach wie vor gleichwohl erstaunlich erfolgreich, an einer Publikationsstrategie festzuhalten, die sich an diesem Old-School-Vorbild orientiert; auch dies ist ein Moment von Kontinuität, das sich in der Marktnische, in der der Jazz zu Hause ist, erhalten hat. Wie lange noch, ist allerdings nicht absehbar.
Es ist schwierig, die Geschichte von ECM anders zu schreiben denn als eine Erfolgsgeschichte. Bis zur Mitte der siebziger Jahre wurden entscheidende Wegmarken gesetzt, wurden ästhetische Maßstäbe definiert, wurde das Publikum erschlossen. Eine Auswahl der Langspielplatten, die während der ersten fünf Jahre der ECM erschienen sind, illustriert eindrucksvoll den Weg, den Manfred Eicher eingeschlagen hat. Chick Coreas Piano Improvisations I und II sowie die stilprägende „Return to Forever“ (die vom „Swing Journal“ zum einflussreichsten Album der 70er-Jahre erklärt wurde), das erste Soloalbum „Facing You“ von Keith Jarrett (für die eine kanadische Zeitschrift den Ausdruck „the most beautiful sound next to silence“ fand), das Album „Trios / Solos“ mit dem Gitarristen und Pianisten Ralph Towner und Mitgliedern der Band Oregon, Gary Burtons „Seven Songs for Quartet And Chamber Orchestra“, Terje Rypdals „When-ever I Seem To Be Far Away“, Eberhard Webers „Colors of Chloë“, „Timeless“ mit John Abercrombies Trio Gateway. Der unvermutete Höhepunkt des Jahres 1975 (und nicht nur dieses Jahres) aber wurde dann der sorgfältig produzierte Mitschnitt eines Auftritts des Pianisten Keith Jarrett in der Kölner Oper, das immer noch legendäre Album „The Köln Concert“. Es wurde zum wahrscheinlich bestverkauften Album in der Geschichte des Jazz.
Und das waren nur die ersten fünf Jahre, die Jahre, in denen mehrschichtige Suchbewegungen und eine stark akzentuierte stilistische Offenheit die Veröffentlichungs-Strategie der ECM bestimmte. Die ECM-Produktionen breiteten sich nicht einfach in einer einmal gefundenen Marktlücke aus, sie zeigten eher einem europäischen und sehr bald auch US-amerikanischen Jazz-Publikum, was es bis dato vermisst hatte. ECM negierte nicht die amerikanischen beziehungsweise afroamerikanischen Ursprünge des Jazz, sondern stellte sie in einen erweiterten und bereichernden Kontext.
Und wie das bei erfolgreichen Branding-Prozessen häufiger geschieht, bildete sich auch rund um die Publikationen der ECM eine Art Fan-Kreis dies- und jenseits des Atlantik – Musikhörer, die ECM-Alben kauften, ohne genauer zu wissen, was sie erwartete; eine stilistische Monokultur, das wussten sie immerhin sicher, war es nicht.
ECM ignorierte nicht die Elektrifizierung des Jazz und seine in den siebziger Jahren unüberhörbare Inspiration durch und Annäherung an die Rock-Musik, setzte aber zugleich auf eine kammermusikalisch oder folkloristisch beeinflusste Improvisationskultur und lehrte die Kundschaft das Zuhören. Swing war nicht länger das zentrale Schlüssel-Kriterium; ECM rückte den musikalischen Parameter Sound ins Zentrum seiner Produktionen. Hinzu kam, dass in die klangliche Qualität der Aufnahmen eine kompromisslose Produzenten-Sorgfalt investiert wurde.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ECM für eine ganze Generation von Musikhörern nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weit darüber hinaus das Verständnis von Jazz geprägt hat. Die ECM-Produktionen mit ihrer schon recht früh durchaus stilisierten Wiedererkennbarkeit bildeten zwar auch nur ein Segment auf dem Jazz-Schallplatten-Markt, aber eines, das inspirierend und normativ zu wirken begann und die Globalisierung des Jazz entscheidend begünstigte.
Solche Prozesse haben immer auch Kehrseiten. Alles in allem führte die kompromisslose und bestimmende Qualität in der geneigten Öffentlichkeit auch zu der Entstehung des durchaus ambivalenten Topos vom „ECM-Sound“. Besonders in der politisch zur Aufgeregtheit tendierenden bundesdeutschen Szene wurden schon in den siebziger Jahren gelegentlich mäkelige Bemerkungen hörbar. Man dachte dabei nicht nur an Qualitätsmaßstäbe, sondern auch an den Verdacht einer Marketing-Strategie, die sich verband mit einem Anstrich von Feierlichkeit, mit der Kultivierung von eher leisen Tönen und einer klanglichen Sorgfalt, die zuweilen als Hang zum (oder zumindest zu unengagierte Abgrenzung gegen) Schönklang ausgelegt wurde und als marktgängige Sanftheit im optischen und akustischen Erscheinungsbild. War das nicht auch mangelnde Härte, Verweigerung von Rauheit und Unmittelbarkeit? Abkehr von der konstitutiven Individualität und Spontaneität des Jazz? Also letztlich Feigheit vor dem Feind?
Manfred Eichers intransigentes Qualitätsbewusstsein geriet gleichwohl nie ernsthaft in Gefahr, sich solchen letztlich musikfremden Vorhaltungen zu unterwerfen; schließlich fehlte es schon in den Anfängen nicht an Erfolgen. Das Magazin Stereo Review zeichnet 1974 Chick Coreas „Paris Concert“ als Album des Jahres aus, Alben von Keith Jarrett und Eberhard Weber werden von der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik 1975 mit dem Jahrespreis bedacht.
Die Differenzierungen und Diversifizierungen in der Produktions-Strategie der ECM schritt weiter fort. Die weitere Entwicklung war gekennzeichnet von einer Bestätigung und Verfestigung eingeschlagener Bewegungsrichtungen zwischen amerikanischen und europäischen Jazz-Entwicklungen sowie den Erweiterungen, die sich in der zeitgenössischen Musik insgesamt abzeichneten.
Wie ein Vorbote erschien 1978 Steve Reichs „Music for 18 Musicians“ bei ECM. Das war weder die fernöstlich inspirierte Musik aus dem Oregon-Kreis, noch hatte Steve Reich irgend einen Hauch von Jazz-Appeal. Es handelte sich auch nicht um Pop-Musik oder um idiomatische Improvisations-Musik. Es war etwas genau und streng Notiertes, das seine idiomatische Heimat aber nicht in der Neuen Musik fand, wie sie seit den fünfziger Jahren von Darmstadt, Köln und Donaueschingen aus die Definitionskompetenzen in ihrem Marktsegment an sich gezogen hatte. Es war einfach etwas, was sich jenseits von oder auch zwischen herkömmlichen Szenen, Gepflogenheiten und Stilen ansiedelte: minimal music.
Von heute aus gesehen, war die minimal music vielleicht nur eine Episode in der Entwicklung aktueller Musik nach der (und gegen die) Dominanz des Seriellen. In den späten siebziger Jahren aber war daran alles neu – ein Musikstil, der zunehmend seine legitime Platzierung im Segment der so genannten E-Musik behauptete, dabei aber jegliche Nötigung zur Dodekaphonie ablehnte und in seinen strukturellen Merkmalen, Einflüssen und Wirkungen eine Nähe zu asiatischen Idiomen und zur Popmusik nicht vermied.
Steve Reichs „Music For 18 Musicians“ war, mit anderen Worten, ideal, um etwas Neues zu beginnen und wurde bei ECM der Auftakt der „New Series“, einer ambitionierten und betont undogmatisch konzipierten Publikationsreihe mit neuer Musik – ohne das sonst obligatorische große N.
Es sind bis heute sowohl Komponisten, die das unvorhersehbar schillernde Erscheinungsbild der New Series prägen – Steve Reich und Arvo Pärt, Gavin Bryars und Dmitri Schos-takowitsch, Giya Kancheli und Alfred Schnittke, Meredith Monk und Sofia Gubaidulina, Heinz Holliger und Helmut Lachenmann, John Adams und Heiner Goebbels, Erkki-Sven Tüür, György Kurtág oder – jawohl! – Bach,
Beethoven und Schumann; es sind immer auch Interpreten, die in der notierten Musik ihre eigenen Maßstäbe setzen und sich darin Denkweisen und Interpretations-Konzepten annähern, die im Jazz seit je gang und gäbe sind: Thomas Demenga und Kim Kashkashian, Carolin Widmann, András Schiff, Gidon Kremer, Herbert Henck, Thomas Zehetmair, Anja Lechner und Andere.
Diese etwas wirre und willkürliche Aufzählung von Namen illustriert immerhin halbwegs, wie weit die Facetten der New Series einerseits in die so genannte klassische Musik hinein reichen und wie weit sie andererseits von der improvisierten Musik der letzten fünf Jahrzehnte geprägt ist. Wie es sich für die seit je grenzüberschreitenden Gewohnheiten gehört, die sich bei ECM gebildet und gehalten haben, sind auch die Abgrenzungen zwischen der, sagen wir, alten Serie und der „New Series“ fließend, wenn etwa Jan Garbareks Aufnahmen mit dem Hilliard Ensemble oder die Einspielungen des norwegischen Trio Mediæval in der New Series erscheinen.
Der erste Produktions-Strang der ECM, die internationale, vom Jazz ausgehende improvisierte Musik, ist seit den achtziger Jahren zunehmend von norwegischer Musik geprägt worden. Einerseits ist das eine konsequente Fortsetzung der früh begonnenen Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, Terje Rypdal, Arild Andersen und Jon Chris-tensen; andererseits führte Manfred Eichers Neigung zum Norden mit der Zeit auch zu einer Umbildung besonders der norwegischen, aber durchaus der erweiterten skandinavischen Musikszene. Bei ECM erschienen Alben von norwegischen Musikern der nachfolgenden Generation wie Jon Balke, Nils Petter Molvær, Trygve Seim oder Arve Henriksen, dazu von Bobo Stenson und Anders Jormin aus Schweden oder Iiro Haarla und Edward Vesala aus Finnland. ECM wird zum international wichtigen musikalischen Botschafter des Nordens. Diese Momentaufnahme, die auch schon wieder mindestens zwei Jahrzehnte alt ist, wäre zugleich der aktuelle Stand der Dinge nach fünf Jahrzehnten ECM. Auf der Marketing-Seite wäre allenfalls zu ergänzen, dass ECM seinerzeit den Schritt von der Langspielplatte zur CD widerstandslos vollzog, mittlerweile zweigleisig arbeitet und vor einem guten Jahr in die Vertriebsform des Streaming eingetreten ist.
Auch der Jazz bleibt nicht beharrlich und unverändert in seiner Nische, sondern spürt den Markt und folgt seinen technischen Entwicklungen. Inwiefern Streaming der überkommenen, an der Musik, am Künstler, am Hören und der Produzenten-Sorgfalt orientierten Produktionsweise schaden wird, bleibt abzuwarten.
Das zweite Problem, das sich abzuzeichnen beginnt, lässt sich in der Frage zusammenfassen, inwieweit ECM noch überlebensfähig sein kann, wenn nicht mehr Manfred Eichers nachhaltig die Entwicklung prägende Persönlichkeit die Definitionsmacht im Hause haben sollte. ECM ist nicht nur durch die große Zahl von Künstlern, die sich in großer, produktiver Freiwilligkeit an das Label gebunden haben, identifizierbar, sondern auch durch den Protagonisten Manfred Eicher. Seine Funktion für ECM ist alles andere als bloß symbolisch. In Gesprächen mit ECM-Künstlern fällt auffallend häufig und ohne ironische Beimengung das Wort vom Produzenten-Genie. Und Genies finden selten würdige Nachfolger.