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50 Jahre Neue Musik in Nordrhein-Westfalen, Konzeption: Johannes Kalitzke: Kompositionen von Barlow, Becker, Birkenkötter, Blarr, Bouliane, Song-On Cho, Delás, Denhoff, Dimov, Eimert, Eötvös, Fritsch, Globokar, Henze, Höller, N. A. Huber, Humpert, Kagel, Kalitzke, Klebe, u.a.; diverse Interpreten
Koch/Schwann 3-5037-0/1/2/3/4
Wertung muß entfallen (hoher editorischer Wert!)
Es macht den Eindruck, als sei man zuerst einmal angetreten, um das, was sich in Nordrhein-Westfalen bezüglich Neuer Musik in den Jahren nach dem Krieg ereignete, einfach zu sichten. Und dann war man wohl selbst überrascht von Fülle und Qualität der Werke, die nahezu die ganze Nachkriegsmusikgeschichte zu schreiben in der Lage sind.
Wirklich ist es erstaunlich, wieviel an Qualität, an widersprüchlichen Ansätzen, an Aufbrüchen und Sicherung des Erarbeiteten sich im gesetzten Zeitraum ansammelte. Freilich bedarf es hierzu den Verstand und die Vernunft der Sichtung. Mit Johannes Kalitzke tat man einen Glücksgriff. 1959 geboren gehört er einer Generation an, die sich nicht in den ästhetischen Grabenkämpfen der 50er und 60er Jahre verhärten ließ, die aber genauso wenig postmodernistisch blinden Ausgrenzungsmechanismen unterliegt. Die Qualität und Eigenständigkeit des Ansatzes war ihm Kriterium, vielleicht sogar einziges.
Und es ergaben sich eine Fülle an Kompositionen, die sich, bisweilen wohl mit leichtem Nachdruck seitens der redaktionellen Verwaltung, zu Gruppen gesellten. Neue Musik – das gab den Überbegriff’ „Andere Welten“ vor; und dieser wurde anschaulich untergliedert in „Ausstrahlungen“, „Offene Welt“, „Zeitreisen“ „Klangvisionen“ und „Gegenwelten“. Man muß nicht bei jedem Werk nachfragen, warum es sich dieser oder jener Form von Welt zugesellte (oder zugesellt wurde). Dennoch wurde eine anschauliche, das Nachdenken in Gang setzende, Gliederung erstellt.
In den „Zeitreisen“ etwa begegnen wir Auseinandersetzungen mit alten Stilkriterien (von Krölls Perotin-Parodie bis zu Pintschers Rimbaud-Assoziationen), die „Offene Welt“ stellt globale musikalische Vernetzungen und die Reibeflächen mit ihren Denksystemen vor, die „Ausstrahlungen“ meinen ähnliche Hellhörigkeiten gegenüber dem anderen, von Stockhausens Hymnen bis zu Haiku-Annäherungen von Manfred Niehaus. Die „Klangvisionen“ meinen Elektronisches von Koenig und Eimert bis zu Höller und Obst. Und in den „Gegenwelten“ versammelt sich vieles, wohl Inkommensurables, das alles auf seine Weise eine musikalische Welt zu bauen versucht: Platz steht neben Stäbler und einer frühen Filmmusik von B. A. Zimmermann.
Man glaubt beim Durchhören der acht CDs nicht mehr in Nordrhein-Westfalen zu sein. Das ist nur noch der Ort des musikalischen Ereignisses. Wir sind mitten in einer ungestüm und unkontrolliert wuchernden Musikgeschichte. Nicht der Charakter eines Festivals, die Auslesekriterien eines Verlages oder einer anderen redaktionellen Verantwortung, nicht eine ästhetische Propädeutik, kein Verbands-Geklüngel haben diese Ereignisse gesteuert. Das gerade macht diese vom NRW-Landesmusikrat getragene Reihe zum stimmigen Prozeß. Daß man nicht mehr an Nordrhein-Westfalen denkt, ist kein Mangel, es weist auf den Reichtum der Region, der über diese hinausweist. Dies läßt Rückschlüsse auf andere Gebiete zu, die bislang noch nicht den Mut hatten, so konsequent und vorurteilsfrei ihre Schätze zu sichten. Das Beispiel existiert nun, Ausreden sind nicht mehr erlaubt. Freilich bedürfte es auch hier ähnlich behutsamer wie mutiger Näherung.
Es ist nicht nur ein „Wer vieles gibt, wird manchem etwas...“, es ist eine von profunder Sachkenntnis, von dokumentarischer Wollust getragene Tat. Eine Modell-Anthologie, ein An-thologie-Modell, Fundus ins Offene. Es ist ein wahrliches Vergnügen an einer Notwendigkeit.
Schön, daß es heute noch so etwas gibt.