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Ansprachen an die kompositorische Jugend

Untertitel
Adornos Kranichsteiner Vorlesungen in einer neuen Ausgabe mit Tondokumenten
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Musik und Philosophie gehen im Schaffen von Theodor W. Adorno eine einzigartige Verbindung ein – nicht nur im Sinne eines höchst intensiven musikphilosophischen und -publizistischen Werks, sondern auch im Sinne einer wohl nie endgültigen Entscheidung zwischen beiden Metiers. Adorno hatte ja Mitte der 20er-Jahre bei Alban Berg in Wien Kompositionsunterricht und plante für die Zeit nach seiner Emeritierung als Philosophie- und Soziologieprofessor in Frankfurt die Wiederaufnahme seiner Kompositionstätigkeit. Sein Tod 1969 verhinderte die Ausführung des Plans.

Einen besonders lebendigen Eindruck für die Verbindung von Musik und Philosophie bei Adorno vermitteln die nun erstmals im Zusammenhang erschienen Aufnahmen und Transkriptionen seiner „Kranichsteiner Vorlesungen“ aus dem Fundus des Internatio­nalen Musikinstituts Darmstadt. Adorno hielt sie zwischen 1955 und 1966 bei den Kranichsteiner – später Darmstädter – Ferienkursen für Neue Musik. Es sind veritable Ansprachen an die „kompositorische Jugend“ in der heroischen Zeit der Ferienkurse, in der diese ja als weltweites Mekka des musikalischen Avantgardismus galten. Und an vielen Stellen sind sie ein äußerst ambitioniertes musikästhetisches und kompositorisches Arbeitsprogramm.

Das Bewusstsein, hier an der „Front“ des musikalischen Fortschritts zu stehen, markiert die eminenten Ansprüche, die Adorno an das Komponieren stellt. Die Vorlesungen sind alles andere als wohlwollende Geleitworte an junge Tonsetzer auf dem Weg in eine kompositorische vita contemplativa. Hier geht es um die Abgründe und Aporien, die sich für Adorno mit jeder in der Neuen Musik gesetzten Note auftun, um ein Komponieren eher am Rande des Nervenzusammenbruchs denn auf der Seite des kreativ-kompositorischen Lustprinzips. Etwas von der Schwärze des von Adorno heftig bekämpften Existenzialismus schwebt immer auch über der Ästhetik der Kritischen Theorie – auch in den Kranichsteiner Vorlesungen.

Was der negativistischen Eindringlichkeit nur scheinbar widerspricht, ist Adornos gänzlich unheroische Vortragsweise. Es ist ein Glück, dass dem Band die Tonmitschnitte der fünf – mit stellenweisen Lücken – erhaltenen Vorlesungszyklen auf DVD beigegeben sind. Denn diese vermitteln sehr gut den Ges­tus, aus dem heraus gesprochen wird. Wir hören einen Adorno, der über weite Passagen frei vorträgt, oft nur auf Grundlage einiger weniger Stichworte – und dabei doch auf der Höhe seiner berühmten und mitunter berüchtigt komplexen Sprache ist. Doch wer hört, wie konzentriert und uneitel alles vonstatten geht, der wird Vorbehalte gegen diese Sprache schnell abbauen – und staunen über die Dichte einer Rede, die aus einem schier unglaublichen Wissensfundus schöpft. Wer sich in die vielen Stunden der Vorträge vertieft, erhält ein sehr plastisches Bild von der Denk- und Argumentationsweise eines der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts – der das, was er meint, im Übrigen auch Klavier spielend und singend verdeutlichen kann.

Der feinsinnige und kultivierte Vortrag geht dennoch heftig zur Sache – auch mit Blick auf viele in Darmstadt versammelte Protagonisten der Neuen Musik. Inhaltlicher Dreh- und Angelpunkt ist Adornos Kritik an den Unzulänglichkeiten eines strengen serialistischen Komponierens, die er zunächst 1954 im Rundfunkvortrag „Vom Altern der Neuen Musik“ äußerte und 1956 dann endgültig formulierte. Adorno kritisiert einen Serialismus, der die integrale Einheit des Kunstwerks opfert, indem er den Kompositionsvorgang gänzlich in die Generierung des Reihenmaterials auslagert und das Werk von dort her nur noch als mechanistisches Konstrukt anlegen kann.

Die Kritik hat einige Berechtigung mit Blick auf Darmstädter Entwicklungen in den frühen 50er-Jahren. Doch war ihr Gegenstand zumindest bei den wichtigsten Vertretern der seriellen Schule schnell Geschichte – was dann auch Adorno eingestehen musste. Er hatte das Wappentier der Philosophie – die für die retrospektive Erkenntnis alt gewordener Weltgestalten zuständige Eule der Minerva – wohl etwas früh auf die jungen Komponisten losgelassen. Der Vorwurf des Veraltens richtete sich zu pauschal gegen die Arbeit einer Generation, die nicht am Alten hing, sondern – bei aller seriellen Strenge – die Lust am nie Gehörten auslebte und eine ausgedehnte Entdeckungsreise ins Innere der neuen Klangmöglichkeiten unternahm. Es kam zum heftigen Familienstreit, nicht zuletzt durch Heinz-Klaus Metzgers Replik, die schon in ihrem Titel „Vom Altern der Philosophie der Neuen Musik“ den Spieß umdrehte und fragte, ob es nicht eigentlich Adornos Musikphilosophie sei, die Alterungserscheinungen zeige. Diese Gemengelage bildet den Hintergrund der fünf Kranichsteiner Vorlesungszyklen. Und sie motiviert auch einen Lernprozess, der den Übergang des mittleren, wesentlich von der 1949 veröffentlichten „Philosophie der Neuen Musik“ bestimmten Adorno hin zu einer weiter gefassten Musikästhetik bestimmt.

In Adornos Vorlesung zum jungen Schönberg aus dem Jahr 1955 kommt seine Kritik an der Fetischisierung des Reihenprinzips mehr indirekt zum Zuge, indem er nämlich zeigt, dass wesentliche Neuerungen Schönbergs bereits in seinem frühen Werk enthalten sind, also lange vor seiner nunmehr überbewerteten Zwölfton-Phase. Der zweite und fünfte Zyklus, „Schönbergs Kontrapunkt“ (1956) sowie „Form und Farbe in der Musik“ (1966) durchmustern die genannten musikalischen Dimensionen mit Blick auf die Beiträge, die sie zur Integration des musikalischen Kunstwerks zu leisten vermögen – und zwar für jenen historischen Moment, in dem das lange tragende harmonische Fundament der Dur-Moll-Tonalität historisch weggebrochen ist und der streng präformierende Serialismus diese Einheit nicht wieder herstellen kann.

Besonders deutlich werden die Auswirkungen der Kontroverse im mittleren Zyklus „Kriterien der Neuen Musik“ (1957) sowie zu Beginn des zentralen vierten Zyklus’ „Vers une musique informelle“ (1961), wo Adorno – nunmehr besorgt, selbst auf die Position des Traditionalisten festgelegt zu werden – das Publikum zu konzedieren bittet, „dass auch ein Musiker, dessen eigene Voraussetzungen … hinter diesen jüngsten in gewisser Weise zurück liegen, deshalb keineswegs so von der adäquaten Erfahrung ausgeschlossen ist, wie man vielleicht meint“ (S. 385). Adorno erörtert dann ganz direkt die Möglichkeiten und Aufgaben zeitgenössischen Komponierens, die ihm vorschweben – von einem zeitgemäßen Wiederaufnahme der freien Atonalität bis zu einem Komponieren, das die Einheit des Kunstwerks aus der komplexistischen und netzwerkartigen Verschränkung seiner Dimensionen gewinnt. Hier finden sich wichtige Momente für Adorno späteres musikästhetisches Denken mit einigem kompositionspraktischen Potential.

Die Kranichsteiner Vorlesungen bringen keinen gänzlich neuen und unbekannten Adorno, zumal die drei mittleren Zyklen bereits von Adorno selbst in überbearbeiteter Aufsatzform veröffentlicht wurden und der Zyklus zur Musikfarbe in transkribierter Fassung erstmals 1999 erschien. Wer aber die musikästhetische Entwicklung des späteren Adorno in Details nachvollziehen und in den dafür sehr wichtigen Kranichsteiner Zusammenhang hörend und lesend eintauchen will, ist bei der nun erschienenen Ausgabe bestens aufgehoben.

Theodor W. Adorno: Kranichsteiner Vorlesungen, hrsg. v. Klaus Reichert und Michael Schwarz (Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 17), Suhrkamp, Berlin 2014, 600 S., DVD, € 59,95, ISBN 978-3-518-58597-9

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