Unter dem Titel „Philosophie des Jazz“ unternimmt der Berliner Jazzmusiker und Philosoph Daniel Martin Feige einen Versuch, den sogenannten „performative turn“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften am Beispiel des Jazz fruchtbar zu machen. Die Wende hin zum Performativen, die seinem Buch zugrundeliegt, ist eine praktische oder „praxeologische“. Sie stellt die kommunikativen, an die Aufführung und Darbietung gebundenen Aspekte von Kunst und Musik in den Mittelpunkt – nicht zuletzt auch gegenüber der „Textlastigkeit“ einer älteren poststrukturalistischen Theorie, die solche Aspekte mit ihren deutlich immanenter gehaltenen Werkzugängen vernachlässigte.
Als Paradigma für eine solche Wende ist der Jazz tatsächlich gut gewählt. Zumal sein Wesen ja im Improvisationsgeschehen liegt und kompositorische Vorgaben für ihn weit weniger Bedeutung haben als für die klassische europäische Kunstmusik. Die besondere Rolle der Improvisation macht den Jazz zu einem Modellfall, auch um interaktive Aspekte von Kunst zu beleuchten – den Dialog zwischen Künstlern, mit der Geschichte der Gattung, mit dem Publikum.
Mit einem Standbein im Jazz verflüssigt und historisiert Feige herkömmliche Werkbegriffe. Selbst Jazzstandards sind für ihn keine Werke im eigentlichen Sinne mehr, da keines ihrer Parameter – weder Tonhöhe noch Rhythmus noch Melodie oder Harmonie – sakrosankt ist und der improvisatorischen Veränderung entzogen bleibt. Auch das Werkverständnis einer historischen Aufführungspraxis bleibt nicht unhinterfragt, zumal dort, wo diese glaubt, mit der Reanimation alter Aufführungstraditionen „das Wesen des Werks in unverfälschter Weise“ wiedergeben zu können. Feige zeigt plastisch, dass Werke nicht abgetrennt für sich bestehen – als bloß gedruckte Partituren oder als Ideen in einem platonischen Ideenhimmel –, sondern stets von ihren performativen Kontexten her verstanden werden müssen, von ihren Aufführungsgeschichten, vor deren Hintergrund immer neu auszuhandeln ist, was hier und heute als angemessene und gelungene Interpretation gelten kann.
Wenig hilfreich für das Lesepublikum ist dagegen der Klappentext des Bandes. Es handelt sich hier nicht um „die erste philosophische Abhandlung ..., die sich dem Jazz widmet“. Und auch der einschränkenden Bemerkung des Autors im Buchtext, dass es zumindest im deutschsprachigen Raum bisher keine „Philosophie des Jazz“ gab, ist nicht ohne weiteres zuzustimmen. Es gab den Totalverriss des Jazz in Adornos Musikphilosophie, der von Feige erwähnt, aber nicht eingehender behandelt wird. Adornos Einlassungen erzielten zwar einen veritablen Wirkungstreffer, der die philosophische Befassung mit dem Thema lange auf die Bretter schickte – aber gerade deswegen sind sie ästhetikgeschichtlich nicht uninteressant.
Und auch die zarten Pflänzchen einer tiefergehenden Befassung mit dem Thema, die es dennoch gab – zum Beispiel mit den Reflexionen des viel zu früh verstorbenen Hamburger Jazzpublizisten Peter Niklas Wilson –, sollten nicht übergangen werden. Und unabhängig davon wäre auch eine Auseinandersetzung mit Adornos Materialästhetik lohnend, weil mit seiner Idee einer musikalischen Materialermüdung ja möglicherweise eine materialistische Ergänzung – oder Alternative? – zum Versuch Feiges gegeben wäre, gegen eine zu enge Textfixiertheit des Poststruktualismus eine performativ-kommunikative Geschichtlichkeit geltend zu machen.
Der Autor formuliert einen spannenden Ausgangspunkt, um sich mit aktuellen philosophischen Mitteln dem Jazz zu nähern. Allerdings liefert er mehr eine Reflexion über den Jazz als Paradigma einer performativen Ästhetik denn eine wirkliche „Philosophie des Jazz“. Trotz der komplexen Thematik bleibt das Buch verständlich, wobei allzu häufige Vor- und Rückblicke, Frage-Antwort-Sequenzen und relativ leere Globalverweise auf Hauptwerke der neueren Philosophie den Lese-„Flow“ nicht nur des Jazzfans unnötig hemmen. Wenn das Buch dabei hilft, eine breitere philosophische Debatte über den Jazz anzustoßen, wäre viel gewonnen.
Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz. Suhrkamp, Berlin 2014, 142 S.,
€ 14,40, ISBN 978-3-518-29696-7