Beim Namen Engelbert Humperdinck (1854–1921) spürt man fast immer etwas Behagliches. Man denkt an „Hänsel und Gretel“ und an freundliche Aufführungen der Oper zumal in der Weihnachtszeit. Gleichwohl ist das Werk dieses immens fleißigen Komponisten heute fast unbekannt. Humperdinck teilt das Schicksal vieler „Ein-Werk-Komponisten“ wie Max Bruch (g-moll-Violinkonzert) oder Ruggiero Leoncavallo („Bajazzo“); nur ein einziges Werk von diesen wird wieder und wieder gespielt, darüber hinaus kaum etwas.
Zu dem am 27. September begangenen 100. Todestag des im rheinischen Siegburg geborenen Engelbert Humperdinck hat der Musikwissenschaftler Matthias Corvin jetzt dessen Lebensgeschichte aufgezeichnet und mit Werkanalysen wichtiger Werke verbunden. Die höchst lesenswerte, vereinzelt etwas ausufernde Biografie lässt einen Komponisten lebendig werden, der in den Jahrzehnten vor und nach 1900 im Musikleben eine feste Größe war.
Aus einem kunstsinnigen Elternhaus kommend, begann er seine Ausbildung bei Ferdinand Hiller in Köln und Franz Lachner in München. Erste Erfolge hatte er bereits als Endzwanziger mit großen Chorballaden wie „Die Wallfahrt nach Kevlaar“ und „Das Glück von Edenhall“.
Nicht zu Unrecht galt und gilt Humperdinck als Wagnerianer. Die Begegnung mit Wagner im Jahr 1880 in Neapel wird zum Schlüsselerlebnis. Wagner bietet ihm eine Assistenz bei der Uraufführung des „Parsifal“ 1882 an. Auch nach Wagners Tod, der ihn geradezu verwaist zurücklässt, hält der herzliche Kontakt nach Bayreuth an. Allerdings kommt von dort keine materielle Hilfe, Humperdinck schlägt sich ein paar Jahre als Gesellschafter des alten Krupp (dieser wünschte sich einen Musiker „mit moralischer Reinheit“), als Dozent in Barcelona und auf Reisen in Italien und Frankreich durch.
Dabei hat er unablässig komponiert, zunächst beeinflusst von Wagner, dann mehr und mehr in ganz eigener musikalischer Sprache. Wohl auch unter dem Druck materieller Unsicherheit arbeitet er ein bereits erfolgreiches Singspiel nach dem Bechstein-Märchen (nicht nach Grimm!) „Hänsel und Gretel“ zur Oper aus. Corvin erzählt diese wohl aufregendste Phase in Humperdincks Leben sehr anschaulich. Sein Renommee war schon so groß, dass gleich mehrere Bühnen um die Uraufführung buhlten. Weimar hatte die Nase vorn, Richard Strauss dirigierte am 23. Dezember 1893 die Uraufführung und leitete damit einen beispiellosen Erfolg ein. Das Werk sei „für Erwachsene mit Kinderherzen“ soll Humperdinck gesagt haben.
Danach folgen für ihn gute Jahre. Er wird angesehener Kritiker bei der „Frankfurter Zeitung“ und beginnt schon bald sein nächstes Opernprojekt: „Die Königskinder“ erleben 1897 in München ihre Uraufführung; der erneut große Erfolg ist allerdings nicht von Dauer.
Im Jahr 1900 erhält Humperdinck einen Ruf auf eine Meisterklasse für Komposition an der Königlichen Akademie der Künste in Berlin. Hier weitet er sein Schaffen noch einmal bedeutend aus. Neben Opern wie „Die Heirat wider Willen“ schreibt er nahezu perfekte Theatermusiken. Kein Geringerer als Max Reinhardt holt ihn ans Deutsche Theater für mehrere Shakespeare-Inszenierungen. Den größten Clou – ein spektakuläres Event – inszeniert Reinhardt mit Humperdincks musikalischer Pantomime „Das Mirakel“ in London; 10.000 Zuschauer bejubeln in einer riesigen Arena Musik und Tanz von etwa 2.000 Mitwirkenden.
Der Erste Weltkrieg wird auch für Humperdinck zur Zeitenwende. Sein im Krieg offenkundiger penetranter Patriotismus stößt viele ab; als 1920 mit Franz Schreker ein neuer Leiter an die Berliner Hochschule kommt, muss der schon stark schwerhörige Humperdinck gehen. In Neustrelitz, wo er einer „Freischütz“-Inszenierung seines Sohnes Wolfram beiwohnt, stirbt er nach einem Schlaganfall.
Corvin hat seine Biographie um ungewöhnlich ausführliche Anhänge ergänzt: Ein Werkverzeichnis mit 124 Einträgen, eine genaue Bibliographie, vor allem aber eine umfassende Discographie seit Beginn der Tonaufzeichnungen, die zeigt, wie viele namhafte Dirigenten (Schuricht, Karajan, Thielemann) sowie Sängerinnen und Sänger sich immer wieder Humperdincks Musik angenommen haben.
Umso mehr wundert sich der Leser am Ende, warum dieser vielseitige Komponist, der gleichermaßen in Chorballade, Kantate, Lied, Singspiel, Oper, Melodram, Sinfonik, Pantomime und filmmusik-ähnlichen Arrangements bewandert war, so gänzlich aus dem musikalischen Kanon gefallen ist. Hier liegt vielleicht ein Schwachpunkt dieser Biografie; sie endet exakt mit Humperdincks Tod, gibt aber auf die sich unwillkürlich aufdrängende Frage nach dessen Fortwirkung keine Antwort. Corvin verweist nur kurz darauf, dass Deutschland schon 1911 ganz im Banne Richard Strauss’ stand (beide waren übrigens zeitlebens befreundet). War das ein Gegensatz? Der Berliner Kritiker Oskar Brie charakterisierte 1913 beide Komponisten als die „zwei Pole der modernen Musik“.
- Matthias Corvin: Märchenerzähler und Visionär. Der Komponist Engelbert Humperdinck. Sein Leben, seine Werke, Schott, Mainz 2021, 292 S., € 29,99, ISBN 978-3-95983-619-7