Eine hohe, schmutzig angelaufene Betonmauer säumt den Fußweg, über den Besucher zur JVA Tegel gelangen. Wer die Schleuse passieren will, muss erst persönliche Gegenstände wie Geldbörse, Schlüssel und Handy in einem Schließfach deponieren. Die Justizvollzugsanstalt im Norden Berlins, eine der größten in Deutschland, ist zurzeit mit mehr als 800 männlichen Häftlingen und Sicherungsverwahrten belegt. Hinter den vergitterten Fenstern von Gebäuden, die teils noch aus der Kaiserzeit stammen, bewegen sich undeutliche Schatten. Man hört einzelne Rufe hinausschallen. Schließlich erreicht die Besuchergruppe die unter Denkmalschutz stehende Teilanstalt III, die seit 2013 wegen der unzumutbaren Enge ihrer Zellen nicht mehr genutzt werden darf.
In dieser unwirklich erscheinenden Parallelwelt hinter Stacheldraht führt das freie Berliner Theaterprojekt aufBruch mit einem Ensemble aus 17 Gefangenen unterschiedlicher Nationalitäten Beethovens einzige Oper „Fidelio“ auf. Textgrundlage ist ein sprachlich modernisiertes Libretto. Ausgewählte Arien und Chorsequenzen aus der Oper wechseln sich mit Instrumentalwerken des Komponisten ab. Vor und zwischen den zwei „Fidelio“-Akten tragen die Mitwirkenden außerdem aus Theaterstücken von Peter Weiss, Jean Genet und Rudolf Leonhard vor, die sie mit eigenen Gedanken ergänzt haben.
Nach „Parsifal“ im Jahr 2018 arbeitet aufBruch bei „Fidelio“ zum zweiten Mal mit dem Education-Programm der Berliner Philharmoniker zusammen. Das musikalische Konzept zu der Hommage an Beethoven und seine „Befreiungsoper“ stammt von dem philharmonischen Schlagzeuger Simon Rössler. Da das Orchester gerade auf Tournee ist, wird Rössler an dem Abend als Dirigent von seinem Assistenten Vsevolod Silkin vertreten. Mit einem Streichquartett, einer Klarinette und einem Klavier ist das vorzüglich musizierende Ensemble aus Stipendiaten der Karajan-Akademie und Studenten der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ übersichtlich besetzt.
In dem sternförmig angelegten leeren Gefängnistrakt, den die Wärter von einem zentralen Punkt aus vollständig überblicken konnten, wirkt das Schicksal des unschuldig eingekerkerten Florestan auf beklemmende Weise real. Rössler, der Regisseur Peter Atanassow und sein Dramaturg Hans-Dieter Schütt verlangen den Laien-Schauspielern einiges ab. Die meisten von ihnen waren noch nie in einem Opernhaus und kamen erst in der Haft mit dem Theaterspielen in Berührung. Während der knapp dreimonatigen Proben zu „Fidelio“ erhielten sie auch klassischen Gesangsunterricht. Schon im „Vorspiel“ nach Peter Weiss und Jean Genet, mit dem der Abend beginnt, setzen sie sich mit dem Haftalltag und Gedanken über Gut und Böse, Schuld und Gerechtigkeit auseinander. Einige von ihnen spielen Gefangene, andere schlüpfen in die Rollen eines Wärters oder Advokaten. In Rudolf Leonhards Tragödie „Geiseln“, die 1941 im französischen Internierungslager Le Vernet entstand, geht es um die Erschießung von zehn Geiseln durch die Nazis. Die Männer in der JVA Tegel versetzen sich hier in Täter und Opfer hinein. Zu den Klängen von Beethovens Fünfter Sinfonie führen zwei Männer namens Paul E. und Resul Tat einen „Schicksals-Rap“ auf. Die Musiker spielen außerdem Auszüge aus anderen Beethoven-Ohrwürmern wie der Bagatelle „Für Elise“, dem Trauermarsch aus der „Eroica“ oder der „Mondschein-Sonate“.
Im Laufe des Abends wechselt das Publikum mehrmals die Plätze und wandert durch das Gebäude. Mal sitzt es den Darstellern so nah gegenüber, dass direkter Blickkontakt möglich ist. Bei „Fidelio“ wird das historische Gefängnis mit seinen durch Treppen verbundenen offenen Galerien in verschiedenen Farben beleuchtet. Die Tatsache, dass hier ein Repräsentant des Staates Unrecht begeht, erscheint an diesem Ort als besondere Herausforderung. Leonore, die sich in Männerkleidung als Fidelio in den Kerker einschleust, um ihren zu Unrecht festgehaltenen Gatten zu retten, wird von einem Mann mit Glatze gespielt. Ein sehr muskulöser Häftling verkörpert Marzelline, die Tochter des Kerkermeisters Rocco, die sich in den Neuankömmling verliebt. Das Spiel mit den Geschlechterrollen lässt auch daran denken, dass Homosexualität, nicht zuletzt in einem reinen Männergefängnis, ein alltägliches Thema ist. Über Treue und Eifersucht wird während der Aufführung auf unterschiedlichen Ebenen nachgedacht, auch mit Blick auf Bezugspersonen, die die Gefangenen in der Welt draußen zurückgelassen haben. Als Bösewicht Don Pizarro beeindruckt ein Mann mit volltönender Baritonstimme und starker Bühnenpräsenz. Als aufBruch im vergangenen Jahr eine neue Version von William Shakespeares „Der Sturm“ auf die Bühne brachte, sang er darin Gustav Mahlers Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Den durch die Kerkerhaft gebrochenen Florestan spielt ein Häftling, der tatsächlich schon seit mehr als 30 Jahren in Tegel einsitzt. Als er am Ende mit Fidelio alias Leonore vereint wird, ist keine Befreiungseuphorie zu spüren. Über der Szenerie schwebt weiterhin ein bedrückender Schatten.
aufBruch arbeitet bereits seit 22 Jahren in der JVA Tegel. Ziel sei, „durch darstellerisches Handwerk den Gefangenen eine Sprache, eine Stimme und ein Gesicht zu verleihen“, beschreibt die Gruppe ihre Tätigkeit. Die Strafakten derjenigen, die mitmachen wollen, interessieren die Organisatoren nicht. In die engere Wahl kommen Kandidaten, die keine Konflikte mit anderen Insassen haben und überzeugendes Engagement für die intensiven Vorbereitungen zeigen. Nicht jeder ist in der Lage, einen langen Text auswendig zu lernen und Gesangspartien einzustudieren. Wer am Ende mitmachen darf, wird bei einem Casting entschieden. Mit Theater auf künstlerisch hohem Niveau will aufBruch eine „vorurteilsfreie Begegnung zwischen Draußen und Drinnen“ ermöglichen. Im Idealfall kann diese Erfahrung auch zur Resozialisierung beitragen. Dramaturg Hans-Dieter Schütt erklärt in einem Gespräch vor der „Fidelio“-Aufführung, es gehe bei der Theaterarbeit nicht darum, dass rechtmäßig verurteilte Straftäter die Gründe für ihre Haft in Frage stellen sollten. Bei „Fidelio“ beschäftigten sie sich mit Werten wie Treue und Liebe, deren Gültigkeit in unserer schnelllebigen Gegenwart immer wieder zweifelhaft erscheine – hinter Gittern ebenso wie in Freiheit.