Keith Jarrett, der nunmehr Sechzigjährige, genießt als ein Jazzmusiker der besonderen Art hohes Ansehen. Seine Trio-Abende und mehr noch seine Solokonzerte, von denen zwölf auf zwanzig CDs festgehalten sind und die seinen legendären Ruhm befestigt haben, besitzen Kultstatus. Dieser heutzutage zu oft bemühte Begriff soll eine Ausnahmesituation suggerieren. In Wirklichkeit verschleiert er nur das Unvermögen unserer Zeit, Zustände und prozessuale Vorgänge angemessen erkennen zu wollen und zu können. Durch seine Anwendung werden – meist nur als Augenblicks-Einstellung – künstlerische Hervorbringungen grell beleuchtet und infolge kaum anders als oberflächlich wahrgenommen, statt substanziell erfasst zu werden. Der Eventcharakter absorbiert die ihnen zukommende Aufmerksamkeit, die damit in bestimmter Weise kanalisiert wird. So bleibt die Sicht auf Solidität beziehungsweise außergewöhnlichen Rang einer künstlerischen Leistung und auf das Verhältnis zwischen beiden verdeckt. Sie zusammen als das Eigentliche künstlerischer Produktivität verlieren damit, obwohl Grundpfeiler für jede Beurteilung, zunehmend an Einfluss.
Weil er überwiegend mit eventartigen Vorgaben und im Vergleich dazu weniger mit seinem musikalischen Potential zur Kenntnis genommen wird, wächst Keith Jarretts Ansehen weiter unter dem Aspekt des Kulthaften. Sein künstlerisches Gesamtbild ist freilich nur adäquat zu bewerten, wenn das, was er tut, differenziert und nicht pauschal-oberflächlich rezipiert wird. Er ist ein Jazzpianist von hohen Graden – das aber nicht ausschließlich. Er ist vielmehr Pianist im umfassenden Sinn und darüber hinaus ein universeller Musiker. Soweit zu sehen, ist Jarrett unter dieser Prämisse nie besonders gewürdigt worden. Allenfalls hat man seine Universalität als nicht zu leugnende Tatsache akzeptiert. (Manfred Eicher hat sie auf seinem Label ECM vielfältig dokumentiert.)
Man wird Keith Jarrett in seiner künstlerischen Gesamterscheinung nicht gerecht, wenn man die Einspielungen, die für ihn als klassischen Pianisten Zeugnis ablegen, übergeht. Er hat wesentliche Komplexe des Bach’schen Klavierwerks auf CD vorgelegt, Auszüge aus Händel-Suiten, die 24 Präludien und Fugen op. 87 von Schostakowitsch, und er hat sich auch einige Mozart-Klavierkonzerte (mit Dennis Russell Davies und dem Stuttgarter Kammerorchester als Partnern) vorgenommen. Mit ihnen forderte er die nicht durchweg vorurteilsfreie Kritik mit ihren Vorbehalten heraus. Mag man bei seinen Mozart-Interpretationen einige Angriffspunkte zulassen – von einem unreflektierten Herunterspielen der Soloparts zu sprechen, ist so übertrieben wie unrichtig. Stellenweise ist Jarrett für seine Mozart-Darstellungen in einer Weise abgefertigt worden, wie sie auch andere Pianisten der ersten Kategorie wie Rudolf Serkin oder Svjatoslav Richter in Bezug auf Mozart gelegentlich über sich ergehen lassen mussten.
Beim Bach-Spiel Keith Jarretts ist von unanfechtbarer Eigenständigkeit, partiell auch von Größe zu sprechen. Es lässt technisch keine Wünsche offen, ist musikalisch so sorgfältig wie individuell disponiert, klingt spontan im Zugriff und tendiert andererseits zum Introvertiert-Bedächtigen. Dass Jarrett vom Konzertflügel zum Cembalo wechselt – so innerhalb des „Wohltemperierten Klaviers“ vom ersten zum zweiten Teil –, dass er Kim Kashkashian in den drei Viola-da-Gamba-Sonaten Bachs auf dem Cembalo begleitet, die Händel-Suiten auf dem Klavier spielt, Bachs „Französische Suiten“ und dessen „Goldberg-Variationen“ wiederum auf dem Cembalo – das zeugt neben anderem von dezidierter Klangempfindlichkeit. Außerdem geht Jarrett mit diesem Instrumenten-Wechsel jedem konventionellen instrumentellen Zuordnungszwang der Musik aus dem Weg, ist als strikt individualistisch denkend und planend zu erkennen. Diese Haltung beglaubigt auch sein Darstellungsstil: Jarrett spielt die Barockmusik nicht unpersönlich-versachlicht, wohl aber wohltuend sachlich, was Offenheit herstellt für den Ausgleich zwischen Emotion und Objektivität. Wer sich so überlegt Bachs Musik als Interpret widmet, akzeptiert ihre maßstäbliche Vorbildhaftigkeit. Wie bei Jarrett zu konstatieren, muss die Initiative hinzukommen, Musik auf eine ihr zustehende Art zum Klingen zu bringen. Dazu bedarf es eines Zugangs, den nur intellektuelle Zuständigkeit erschließen kann. Mit Bach ist immer viel herumexperimentiert worden, und das daraus entspringende Grundverhalten heutiger, vor allem junger Pianisten, seine Kompositionen als eine Serie von Versuchsanordnungen vorzuführen, setzt sich – auch bei anderen, aber bei Bach auffallend – scheinbar ungebrochen fort.
Jarrett hält, wie man sich überzeugen kann, nichts von solchen Experimenten, von den Schemata, ihn zu schnell oder zu langsam zu spielen, ihn übertrieben auszuartikulieren oder in überholter Manier altmodisch zu romantisieren, ihn mithin Modellen zu unterwerfen, um mit ihnen eine eigene Note zu generieren. Jarrett – das hört man seinen Aufnahmen klassischer Musik immer an, auch wenn einem das eine Beispiel näher stehen mag als ein anderes – ist weder einem Vorbild noch einer Methode verpflichtet. Er spielt sehr persönlich, prägt den zur Interpretation ausgewählten Kompositionen aber nicht die von vielen überschätzte sprichwörtliche persönliche Note auf, die meist nur als Wiedererkennungsmerkmal fungiert und funktioniert. (Auch die Mozart-Konzerte hat er eben gerade nicht eigenwillig zu sich herangezogen, sondern sie zu objektivieren versucht.)
So gewinnen seine Bach-Darstellungen durch ihre Beredtheit einen originär wirksamen Charakter. Und noch etwas macht Jarretts Stärke aus: Er entschließt sich, was seine Haltung als Interpret betrifft, immer zu eindeutigen Entscheidungen, die er in die pianistische Praxis umsetzt. Das schließt Spekulationen und Kompromisse – Gegensätze, zu denen manche Pianisten abschweifen – bei ihm aus. Bachs strukturales Geflecht, das bei aller Kühnheit der Stimmen-Kombinatorik stets durchsichtig bleibt, bietet dem verantwortungsbewussten Interpreten zwar sowieso keine alternative Annäherung. Aber umgangen wird die sich daraus ergebende Konsequenz für Interpreten laufend, wie einschlägige Erfahrungen lehren.
Um Keith Jarretts Lebensleistung zutreffend zu würdigen, müssen die von ihm behandelten Ebenen der so genannten Klassik und des Jazz zueinander in Bezug gebracht werden. Denn Jarretts grundlegende Erfahrung mit klassischer Klavierliteratur, vorab mit Bach, hat seinen in großbogigen Entwicklungssequenzen gehaltenen Stil als Jazzimprovisator und -komponist beeinflusst und mit der Zeit durchdrungen. Seine umfassenden Soli sind bestimmt von einer streng ausgewählten Materialquantität und deren penibler Verarbeitung im Detail. Sein „Köln Concert“ enthält derartige dichte Klangstrecken, wie sie sich vor Jarrett nur selten ereignet haben.
In dem neuen Doppelalbum „Radiance“, was „Glanz und Leuchten“ bedeutet, aber auch „Strahldichte“, hat sich demgegenüber doch wieder Neues ereignet. Eine musikalisch-strukturale Stringenz in den hier wiedergegebenen Mitschnitten zweier Konzerte (Osaka und Tokio, Oktober 2002) erfüllt seine Improvisationen mit der nicht überraschenden Spannung, vor allem aber mit einer sich geradezu anklammernden Präsenz: Sie mit ihren wie aus dem Nichts gehobenen, danach weit ausholenden und kataraktartig kumulierenden dynamischen Entwicklungen setzt beim Hören einen hoch qualifizierten Mitvollzug voraus.
Es gibt in diesem Programm Jarretts keine thematischen und melodischen Verbindlichkeiten, die zu Anhaltspunkten werden könnten, ausgenommen einige kürzere Nummern, die manchmal sogar wie Varianten von Evergreens wirken und als Atempausen fürs Publikum zu verstehen sein könnten. Der musikalische Fluss in Jarretts Improvisationen scheint immer wie in einem weiten Schweifflug begriffen, ohne je beliebig oder willkürlich zu wirken. Das würde ohnehin dem Bach’schen Prinzip der strengen Satzarbeit widersprechen, dem sich Jarrett – so behaupte ich – als Arbeitsgrundlage ganz offensichtlich verpflichtet sieht („es [also: sein Spiel] kommt mit dem aus, was unbedingt nötig ist“, hat er in einem Interview angemerkt). Jarrett beschwört in seinen Kompositionen – denn um solche handelt es sich – sozusagen das stabilisierende Gerippe und das Nervensystem, lässt nicht ab von der Vorstellung, konstruktivistisch in Musik zu denken und manches in diesem Prozess der ergänzungsfähigen Fantasie des eingebundenen Hörers abzuverlangen.
Es gibt Jazzmusiker, die sich bei der Entwicklung ihrer aus der Improvisation gewonnenen Kompositionsvorgänge harmonikaler, rhythmischer und formaler Absicherungen entledigen. Das führt häufiger, als es günstig erscheint, zu einer Orientierungslosigkeit im musikalischen Gelände. Nicht so bei Keith Jarrett. Sich auf Orientierungslosigkeit zu verlassen, wäre kein Weg für ihn. Denn zweifellos bedarf auch er Sicherheiten, um sich kreativ ausdrücken zu können. Aber als improvisierender Komponist bedarf er für seine Musik vorrangig eines Risikos, das freilich kalkulierbar sein muss.
Deshalb sind bei ihm Zielnahme und Ergebnis identisch, und sie begründen sich im technischen Vorgehen, das er selbst bestimmt. Von einer Musik an sich könnte bei seinen besten Improvisations-Kompositionen gesprochen werden. Die geistige Nähe zu Bach (wie sie auch die zu Debussy sein könnte, wenn er ihn spielte) scheint unverkennbar – zu dem Bach, dem zur Vergewisserung seiner selbst die strukturalistische Durchdringung der klanglichen Materie oberstes Gebot bedeutete.
: Keith Jarrett: Radiance
ECM 1960/61