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Alexandre Guilmant an der Orgel. Foto: Wikimedia Commons
Alexandre Guilmant an der Orgel. Foto: Wikimedia Commons
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Die Rehabilitierung der vermeintlichen Orgel-Operette

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Ein Streifzug durch die französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts anlässlich einiger CD-Neuerscheinungen
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Die französische Orgelschule des 19. Jahrhunderts beruht auf einem beharrlich gepflegten Sonderstil. Dessen zunächst romantische, dann spätromantische Charakteristik hat sich bis ins 20. Jahrhundert behaupten können, zumindest in seinem Entstehungsland. Ausläufer erstrecken sich bis ins Schaffen Olivier Messiaens und anderer. Ziel war, in einem Ablösungsprozess von der bisherigen sakral eingebundenen Kirchenmusik eine weltliche Instrumentalmusik, in diesem Fall für die Orgel, zu entwickeln und durchzusetzen.

Realisiert wurde das vor der Hintergrundfolie der spätbarocken, überwiegend geistlichen Prämissen verpflichteten Hymnik Johann Sebastian Bachs. Bis in den Grund romantisch durchwirkt und orchestral-symphonisch gefasst, entstand eine klanglich neuempfundene, teilweise noch mystisch durchglühte Orgelmusik, wie sie der visionären Sicht der zweiten französischen Komponisten-Generation nach Bach vorschwebte.

Ergänzend wirkte sich der Einfluss Felix Mendelssohn Bartholdys aus. Über sein Hauptinstrument, das Klavier, hinausgreifend, entdeckte er für sich die Orgel und komponierte für sie Werke in einer von der Klaviermusik abgesetzten Art. Mendelssohns Ideal wurde in seiner Vorbildfunktion erkannt, aufgegriffen und von den Franzosen in ihre Arbeiten integriert.

Der neue Kompositionstypus der Franzosen gipfelte als einer von formal-ästhetischen musikgeschichtlichen Sonderwegen in der solistischen Orgelsinfonie. Quasi im Nachhall Bachs und im sorgsam ausgewerteten innovativen Schattenwurf der neudeutschen Schule Liszts entworfen, ist sie, nach relativ kurzer Existenz, bis heute als ein Nischenprodukt in Erinnerung. Der schon aus repräsentationstragenden Beweggründen naheliegende Gattungsbegriff „Orgelsinfonie“ mit seinem komplexen musikalischen Geist hatte die kompositorische Kreativität der Orgelvirtuosen aktiviert.

Als nicht unumstrittene Zeiterscheinungen machten Orgelsinfonien Furore, wurden aber auch bis in die 1950er Jahre, besonders außerhalb ihrer französischen Herkunfts- und Pflegestätten belächelt – also dort, wo die Beachtung strikter formaler und inhaltlicher Verbindlichkeiten eine geradezu moralische Verpflichtung bedeutete. Gelegentlich fiel in diesem Zusammenhang und ironisch zugespitzt der Begriff Orgel-Operette, mehr als Vorurteil denn als Argument gegen sie.

Der ausgefallene Stil der komponierenden französischen Organistenschaft des 19. Jahrhunderts hätte sich jedoch kaum ergeben, wenn nicht eine Wechselbeziehung mit einer instrumentaltechnischen Novität ausgelöst worden wäre. Man reagierte ab 1860/1870 mit einer den Instrumental-Sinfonien nachempfundenen, nicht ungern auch zum Monumentalen tendierenden Musik auf aktuell entstehende Kirchenorgeln der Epoche. Der geniale Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll (1811–1899) hatte sie entwickelt und in Kathedralen, nicht nur in Paris, architektonisch und akustisch stimmig eingepasst. Vornehmlich mit ihren klanggenerierenden Zungenstimmen und der verführerischen Schwelldynamik verbreiteten sie, wo und wann sie erklangen, eine extraordinäre Aura.

César Franck

César Franck (1822–1890), Begründer der französischen Orgelschule und deren Vorbild, hatte neben seiner hymnisch-getragenen, liturgiegebunden Orgelmusik immer auch den solistischen Konzertstil für sein Instrument konzeptionell mitgedacht. Er begründete für die Kirchenorgel schließlich den Status eines weltlichen Konzertinstruments und dessen Spielern ein solistisches Betätigungsfeld außerhalb klerikal gebundener Veranlassungen.

Kompositorisch nutzte Franck selbst diese Wende mit freien, zu Gruppen geordneten Orgelwerken. Deren Titel, auch wenn sie in drei berühmt gewordenen Fällen auf „Choral“ lauteten, zielten auf keine speziell engagierten Inhalte. Francks wegweisender Beitrag zu diesem Richtungswechsel ist die „Grande Pièce Symphonique“ op. 17 von 1863, ein großangelegtes einteiliges Orgelwerk in drei Abschnitten, das er selbst bis 1868 als Sinfonie bezeichnete. Das fast halbstündige Werk könnte als erste Orgelsinfonie gelten.

Hans-Eberhardt Roß, Organist der St. Martin-Kirche in Memmingen, hat vor zehn Jahren Francks umfangreiches Orgelwerk aufgenommen, seit 2012 liegt es als Kassette mit sechs CDs und einer vorzüglichen Einführung im Booklet vor (audite 21.413). Roß’ interpretatorische Entscheidung für Franck lag nahe: „seine“ Memminger Kirche verfügt seit 1998 über ein für das französische Repertoire prädestiniertes Instrument aus der Luzerner Firma Goll, deren Orgeln, ihr technisches Innenleben mal ausgenommen, der klanglichen Außenwirkung nach an die französischen Cavaillé-Coll-Orgeln erinnern.

Alexandre Guilmant

Alexandre Guilmant (1837–1911), fünfzehn Jahre jünger als Franck und wie er ein international gefragter Orgel-Großmeister der Epoche, bereitete dem Genre Orgelsinfonie den Weg, nannte entsprechende Werk-Beispiele aber noch Orgelsonaten. Ab 1874 bis fünf Jahre vor seinem Tod legte er acht in jeder Beziehung tiefgründende Beispiele vor.

Im Kern fußen sie auf der tradierten dreisätzigen Form, die er in vieren prototypisch verwendet hat. In den anderen erweiterte er sie durch Charakterstücke, so dass die Satzanzahl auf vier, sechs und zweimal auf fünf stieg. Neben klassischen Sonatenhauptsätzen erscheinen, als vertraute Ergänzungssätze, verhaltene Liedsätze, Scherzi (mit zwei Trios) und immer wieder Fugen oder, satzintern, Fugati. Die Sonaten zwei und drei sind nach Mendelssohns Vorbild durchsichtig-klassizistisch disponiert. In den anderen wird die orchestrale Faktur mit der aus ihr resultierenden Ausdruckswucht zum durchgehend bevorzugten Charakteristikum.

Bei den Sonaten 1 und 8 hat Guilmant später den sinfonischen Aspekt durch notengetreue Übertragungen zu „Sinfonien für Orgel und Orchester“ (nicht als „Orgelsinfonien“) überhöht (vgl. die Einspielung von Edgar Krapp mit den Bamberger Symphonikern, Arts Music 47662-2, 2003). Diese Kombinationen von Orgel und Orchester, für die sich auch wohl die siebte Sonate geeignet haben würde, bleiben hinter dem Originaleindruck der Sonaten zurück, zumal in ihnen das Orchester über Strecken dominiert (siehe etwa das Scherzo der achten Sonate), die Orgel fast nur noch „mitgeht“.

In Guilmants betont weltlichen Konzert-Sonaten können Interpreten ihre Kompetenz ins rechte Licht rücken. Adriano Falcioni hat sie 2013/14 auf der Orgel von Carlo Vegezzi-Bossi von 1897 in Cuneo/Italien aufgenommen. Er nutzt sie, in des Wortes Bedeutung, kraftvoll, überzeugt dabei aber nicht durchgehend. Er gibt, was angebracht erscheint, einer für die Darstellung dieser Musik zu bevorzugenden Agogik Raum. Darüber aber gerät er in seinem Vortrag, besonders der schnellen Sätze, zu recht unausgeglichenen Tempoführungen. Das ergibt Ungenauigkeiten und unklare Stimmenverläufe. Auch verlieren die Pedalbässe an Grundkraft, weil sich deutliche Verzögerungen in der präzisen Klangansprache ergeben.

Falcioni gibt sich als Vortragender überzeugt davon, dass man Guilmants Sonaten, wenn man sie üppig in Szene setzt, gerecht wird. Das kann man so sehen, aber die Wiedergabewirkung der tonsetzerischen Grundordnung sollte nicht, was bei ihm der Fall ist, in die sich einschleichende Gefahr der Banalisierung geraten, nicht den Wiedergabewert der Musik schmälern.

In Ben van Oostens Aufnahme dieser Werkgruppe ist auch mancher melodisch-thematische Verlauf nicht restlos durchhörbar zu verfolgen. Aber im ganzen steht seine Sicht auf diese ausgewählt klangschönen Kompositionen auf solideren Fundamenten. Seine rhythmischen Durchführungen sind immer stabil, sein Klangempfinden schließt allen aufgesetzten Bombast aus. Die Einspielungen, schon 1989 erschienen, haben sich ihren Stellenwert durch die Jahrzehnte bewahrt. Wahrscheinlich würde Oosten heute manches anders angehen, aber vor allem die langsamen Sätze sind mit einer Gelassenheit, Ruhe, einer reflektierten Abmessung vorgetragen, dass allein schon sie die Wertbeständigkeit dieser Edition über die Zeiten hin bestimmen werden (Dabringhaus und Grimm 316 0340-2).

Charles-Marie Widor

In der Vorstellung des Musik-Rezipienten wird der französische Orgelgroßmeister Charles-Marie Widor (1844–1937) als Person mit Entstehung und Pflege der Orgelsinfonie verbunden. Die Realisierung dieses Genres, dessen Erfindung ihm fälschlicherweise zugeschrieben wird, war zeitweilig ins Zentrum seiner künstlerischen Aufgaben gerückt. Er komponierte zehn Sinfonien von 1872 bis 1900 (siehe dazu: Charles-Marie Widor: Alle Orgelwerke, Ben van Oosten auf verschiedenen Cavaille-Coll-Orgeln, 1992–1998; Dabringhaus und Grimm). Widors innovative Bedeutung und sein künstlerischer Bekanntheitsgrad sind heute eingeschrumpft auf einen Werk-Satz: die hinreißend wirkungsvolle Schlusstoccata aus der fünften Sinfonie von 1887. Damit ist er wie viele andere (und objektiv zu Unrecht!) zum sogenannten Ein-Werk-Komponisten geworden.

Louis Vierne

Widors Schüler Louis Vierne (1870–1937) betrieb die von seinem Lehrer praktizierte zeitlich kurze Orgelsinfonie-Tradition weiter und führte sie de facto gleich wieder zum – individuell grandiosen – Abschluss. Die Produktionssträhne für die individualistisch getragene Form nach deren sechzig Jahre vorher erfolgtem impulsgesteuerten Aufblühen riss mit Widors und Viernes Lebensende 1937 – beider Todesjahr ist auch das Ravels – unwiderruflich ab. Nach Vierne fanden sich für das Genre keine originären Fortsetzer: aus seiner Generation sind als Ausnahmen Marcel Dupré, Schüler von Guilmant und Widor, mit zwei, Charles Tournemire, Schüler César Francks und Widors, mit einer Sinfonie zu nennen, und der 1907 nachgeborene Jean Langlais komponierte drei Orgelsinfonien.

Louis Viernes sechs Sinfonien entstanden zwischen 1898 bis 1930. In einigen Fällen liegen bis über zehn Jahre zwischen der Fertigstellung der einzelnen Objekte, was in ihrer harmonisch zum Ende hin sich immer weiter auffächernden Klangsprache anschaulich vermittelt.

Ab 2012 begann die 2014 abgeschlossene verdienstvolle Edition der von Hans-Eberhard Roß gespielten Orgelsinfonien Louis Viernes, die in drei Einzelalben vorliegt. Das Zwischenglied Charles-Marie Widor hat Roß, hoffentlich nur vorläufig, bis jetzt übersprungen.

Roß’ Gesamteinspielung der Vierne-Sinfonien ist bemerkenswert durch seine interpretatorische Herangehensweise an die sechs Stücke. Natürlich werden sie wie von allen Spielern auch von ihm klanglich facettiert und auf diesem Wege strukturiert. Genauso wichtig und ausschlaggebend für den Nachvollzug der Musik ist jedoch sein spielerisch-technischer Vortrag der Werke, der eine innere Aufgliederung ergibt: nach formaler Phrasenbildung, harmonischen Übergängen, dynamischen Gegensatzpaaren und Entwicklungen, Artikulations- und Tempodifferenzierungen, nach dem Absetzen von Themen, Motiven, spielerischen Floskeln, bei den kleinen Verzierungsnoten, die in schnellen Tempi so leicht verloren gehen – kurzum bei allem, das der Verdeutlichung des logischen Ablaufs im Gesamterscheinungsbild dient. Das hängt wesentlich vom agogischen Verhalten des Interpreten, das ihn als Künstler ausmacht, ab.

Auf diesem Sektor erweist sich Roß als ein verantwortungsbewusst vorgehender, immer subjektiv einfühlsamer Interpret, der den gern vermiedenen Begriff des persönlichen Geschmacks kontrolliert einsetzt. Es geht um eine innere Freiheit, die der geborene Interpret besitzen und anwenden sollte, die jedoch nicht ausufern und außer Beobachtung geraten darf.

Auf diesem Terrain operiert Roß bewusst und sicher. Er lässt Viernes Sinfonien – vor allem die späten, also die Nummern vier bis sechs, die den Gipfelpunkt des sogenannten Impressionismus überschritten haben – sich an extremen Ausprägungen moderner Haltungen wie der Atonalität reiben, um ihnen eine angemessene Ausdrucksbreite abzugewinnen. So atmet die Musik einerseits, entzieht sich dem Ruch einer lediglich effektgesteuerten Wirkungsweise und richtet sich auf der anderen Seite entscheidend auf das Wechselverhältnis von Struktur und Ausdruck.

In diesem Sinne stellen Hans-Eberhard Roß’ Darstellungen von Louis Viernes Sonaten einen Glücksfall dar: er ordnet die Kompositionen, die eine genuine Bedeutung auszeichnet, ein in die von Vierne zweifellos bewusst wahrgenommene musikalische Aufbruchsbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts,.

Den gern gewohnheitsmäßig polyphonisch verhandelten Einklang von Mythos, Mystifikation und Realitätsbewusstsein, der dieser französischen Orgelmusik einem Ondit zufolge inhärent sein soll, demontiert und dementiert Roß entschlossen – dem Werk zu Nutzen. Letzte Spuren der vermuteten Orgel-Operetten sind gelöscht.

  • Alexandre Guilmant: Alle Orgelsonaten. Adriano Falcioni auf der Orgel der Kirche Sacro Cuore in Cuneo/Italien. Brillant Classics 94227
  • Louis Vierne: Alle Orgelsinfonien. Hans-Eberhardt Roß an der Goll-Orgel der St. Martin-Kirche in Memmingen. audite 92.674/5/6

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