Wenn der Ruhestand erreicht ist, probieren heutzutage viele Menschen Dinge aus, die sie bis dahin nicht verwirklichen konnten. Ein wichtiger Bereich hierbei ist Musizieren, das in unterschiedlichsten Zusammenhängen gepflegt wird. Die auch wissenschaftlich belegte Idee, dass Lernen bis ins hohe Alter möglich ist und die Freude am Instrumentalspiel oder am Gesang ein Leben lang gepflegt werden kann, verbreitet sich immer mehr und findet auch in den deutschen Musikbildungsstätten Raum.
Angebote wie elementares Musizieren, Drumcircle, Rhythmik oder auch Chorsingen für Unerfahrene erfreuen sich großer Beliebtheit. Bei diesen auf Gruppenarbeit basierenden Ansätzen wird auch gern intergenerativ gearbeitet: Kinder und Senioren befruchten sich gegenseitig bei dem neuen Ansatz der Rhythmikgeragogik oder erforschen gemeinsam elementare Instrumente. Zunehmende Nachfrage durch Ältere besteht auch nach Instrumental- oder Vokalunterricht – oft, um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen. Primäres Ziel dieses Unterrichts kann nicht ein Höher-Schneller-Weiter sein, sondern sollte ein Vertiefen des Erlebens, ein Durchdringen und letztendlich die Erhöhung der Lebensqualität durch Musizieren sein.
Die Fähigkeit zu fördern, mit Musik und mit musizierenden Menschen in Kontakt zu treten, steht im Vordergrund. Dies impliziert andere pädagogische Herangehensweisen, die das Erleben des Moments in den Vordergrund stellen. Die Gestaltung des Hier und Jetzt ist vorrangig und wird es immer mehr, je älter die Schülerinnen und Schüler sind.
Das ergibt neue Arbeitsfelder für Musikpädagogen, Mitarbeiter in der Seniorenarbeit, Kirchenmusiker und Musiktherapeuten und erfordert grundlegendes Wissen über die körperlich-geistig-seelischen Veränderungen, die mit zunehmendem Alter einhergehen. Immer wieder höre ich von Menschen, die in diesem Feld arbeiten, wie sehr sie diese Tätigkeit schätzen und wie sehr sie es genießen, die Freiheit der Älteren zu erleben. Für die Qualifizierung von Multiplikatoren in diesem Bereich sind an den Landes- und Bundesakademien unterschiedlichste Fortbildungen und Fachtagungen zu finden. Flaggschiff ist sicherlich der Lehrgang Musikgeragogik der Fachhochschule Münster, der unter der Leitung von Theo Hartogh und Hans Hermann Wickel auch an Musikbildungsstätten angeboten wird.
Entwicklungsbedarf besteht im Bereich interkultureller Angebote für Senioren. Wir werden zunehmend erleben, dass Menschen mit unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund gemeinsam Senioreneinrichtungen nutzen und kaum gewöhnt sind, miteinander zu kommunizieren. Hier bieten musik- oder rhythmikgeragogische Angebote ungeahnte Möglichkeiten, gemeinsam die musikalische Kultur des jeweils anderen zu erfahren und dadurch miteinander in Kontakt zu kommen. Ein schönes Beispiel hierfür hat die Kölner Musikpädagogin Melisa Elgün unlängst beim letzten Musikschulkongress vorgestellt.
Schon musikalisch aktive Senioren, die mit ihrem Instrument oder Gesang vertraut sind, suchen neue Möglichkeiten des Zusammenspiels und der Begegnung. Für diese Zielgruppe existieren Angebote, die sowohl von Musikbildungsstätten als auch durch Kooperationspartner wie die Landesverbände des Bundes deutscher Liebhaberorchester oder die Musikakademie für Senioren ermöglicht werden. Gemeinsam eine Woche lang intensiv Kammermusik zu betreiben, Salonmusik zu spielen, eine Mahler-Sinfonie einzustudieren oder in der Big Band zu grooven und die jeweiligen Ergebnisse aufzuführen: Diese und viele andere Themen werden in der Klausur der meistens in Schlössern oder Burgen liegenden Musikbildungsstätten mit Hingabe bearbeitet.
Die demografische Entwicklung macht deutlich, dass hier ein wichtiges Arbeitsfeld der Zukunft liegt, das auch die deutschen Musikbildungsstätten zunehmend beschäftigen wird. Vielleicht ist es eines Tages für viele Ältere selbstverständlich, eine Reise in „ihre“ Musikakademie zu unternehmen, sich musizierend zu betätigen und damit eine zweite kulturelle Heimat zu erleben?
Antje Valentin, Landesmusikakademie Nordrhein-Westfalen
Musik und Demenz
Der Deutsche Musikrat forderte 2007 in seiner „Wiesbadener Erklärung“, älteren Menschen flächendeckend das eigene Musizieren und die Teilhabe am Musikleben zu ermöglichen und dafür eine Infrastruktur zu schaffen, um sie in ihrem Lebensumfeld zu erreichen. Nun sind immer mehr ältere Menschen von dementiellen Veränderungen und oftmals weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen.
Aber auch ihnen bedeutet die Teilhabe an Kultur, besonders an Musik, eine Bereicherung ihres Alltags, eine Zunahme oder wenigstens ein Erhalt an Lebensqualität und Lebenszufriedenheit. Musik kann zum Medium werden, um den Menschen neben allem autonomen Kunsterleben auch in seiner Emotionalität, in seinem Ausdrucks- sowie Erinnerungsvermögen, in seinem Identitätserleben, in seiner Selbstwirksamkeit und seinen spirituellen Bedürfnissen zu unterstützen. Der fortschreitende und irreversible degenerative Prozess im Gehirn mit all seinen Begleiterscheinungen verlangt zudem nach Wegen der Verständigung und der Beziehungsaufnahme, die über Sprache hinausreichen und andere Möglichkeiten anbieten. Es geht nicht um Orientierung, auch nicht um Heilung, sondern darum, dem Erkrankten ein möglichst hohes Maß an Wohlbefinden durch soziale und kulturelle Einbindung – eben durch Musik und gemeinsames Musizieren – zu ermöglichen. Dementiell erkrankte Menschen sind sogar in der Lage, musikalisch Neues zu erlernen. Musik kann zudem durch ihre Gestalt dazu beitragen, ein wenig Struktur in das mehr und mehr verloren gehende Gespür für Zeit und Raum zu bringen. Bei Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz ist es besonders die Musik der frühen Lebensspanne, die noch am zugänglichsten bleibt. So nehmen hier durchaus auch Kinder- und Wiegenlieder wieder eine neue Bedeutung ein, ohne dass dadurch der ältere und erkrankte Mensch infantilisiert wird, es ist dann nun mal die einzige vertraute Musik, die trotz der Demenz wie andere Kindheits-erinnerungen im Langzeitgedächtnis gespeichert bleibt.
Hans Hermann Wickel, Fachhochschule Münster
Rhythmikgeragogik
Musikgeragogik ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Beziehungen zwischen altem Mensch und Musik und den didaktisch-methodischen Aspekten musikalischer Bildungsprozesse im Alter beschäftigt. Sie umfasst alle musikpädagogischen Bemühungen und Interventionen im Bereich der Altenarbeit, die nicht erzieherisch oder therapeutisch intendiert sind. Was aber ist Rhythmikgeragogik? Dieser Begriff wurde von der Dipl. Rhythmikerin Mag. art. Monika Mayr geprägt und innerhalb einer Fortbildung erstmals im Juni 2013 in einem Kurs an der Landesmusik-akademie NRW vorgestellt. Die Rhythmik als Fach, in dem Musik, Bewegung, Sprache, Instrumente und Materialien miteinander kombiniert und sowohl in künstlerischen als auch pädagogischen oder sonderpädagogischen Feldern eingesetzt werden, eignet sich vorzüglich für Senioren.
Durch den Dialog von Musik und Bewegung kommt es zu nonverbalen Kommunikationsebenen, über die Gefühle neu ausgedrückt und ausgetauscht werden können. Das Wechselspiel der Erlebnisse und Erfahrungen von Jung und Alt bekommt durch das Wecken von Erinnerungen und das Beleben von zurückliegenden Ereignissen einen zugleich reflektiven und impulsgebenden Aspekt.
Ein spielerischer Dialog von Musik und Bewegung zum Ausprobieren
Klatschkreuz und „hopp“
Wir sitzen gegenüber (z.B. Enkelkind und Oma) und klatschen metrisch zum Takt der Musik (als Steigerung kann das Klatschspiel auch im Gehen gespielt und musiziert werden).
Damit ein Klatschkreuz entsteht, muss eine Person horizontal (von außen nach innen z.B. auf den Zählzeiten 1 und 3) und die andere Person vertikal (von oben nach unten auf den Zählzeiten 2 und 4) klatschen. Die Hände bewegen sich ineinander, berühren sich jedoch nicht, da sie ja zeitlich versetzt klatschen. Dazu kann jedes bekannte Lied im 4/4-Takt gesungen werden und somit das traditionelle Liedgut generationsübergreifend aufgefrischt werden.
Auch bekannte und liebgewonnene Melodien von Schlagern aus der damaligen Zeit (z.B. „Pack die Badehose ein“…) können von CD dazu gespielt werden, und Oma und Enkel klatschen dazu den Takt.
Jetzt folgt aber noch ein wichtiger Punkt, damit die Idee der Rhythmik bezüglich Interaktion dazukommt. Ruft eine von den beiden „HOPP“, wechseln beide rasch ihre Klatschvariante vom horizontalen zum vertikalen Klatschen und umgekehrt. Dieser Übergang ist nicht ganz leicht, zeigt aber die Reaktionsfähigkeit und weckt Freude und Aufmerksamkeit. Da jederzeit „HOPP“ gerufen werden kann, ist es ein Klatschspiel voller Überraschungen, und der Spaß kommt nicht zu kurz!
Monika Mayr, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 1. Vorsitzende Bildungswerk Rhythmik
Musizieren, wenn man älter wird
Der Facettenreichtum dieses Themas ist fast unüberschaubar – das wird spätestens klar, wenn man die Worte „Musik“ und „Alter“ in eine Internetsuchmaschine eingibt. Da finden sich Angebote zum Musizieren 50+, 60+ und 70+, Musik zu Therapiezwecken und vieles mehr.
Die Mitgliedsakademien des Arbeitskreises für Musikbildungsstätten begleiten die Entwicklungen nicht nur mit Arbeitstreffen und Tagungen, sie haben vielfältige, fundierte Angebote zu diesem Themenbereich: In mehreren Workshops und berufsbegleitenden Musikgeragogik-Fortbildungen wurden und werden in Kooperation mit Partnern aus Wissenschaft und Praxis Fachkräfte für die musikalische Arbeit mit Senioren ausgebildet. Im Instrumental- und Vokalbereich gibt es Workshops und Kurse sowohl für musikalische Neueinsteiger als auch für jene, die ihr Leben lang musiziert haben – in jedem Falle aber wird auf die Besonderheiten des Alters Rücksicht genommen.
Einen kleinen Einblick verschafft die Übersicht in der rechten Spalte, eine größere Auswahl steht auf www.musikakademien.de zum Download zur Verfügung.
Grundlegende Literatur zum Thema Musik und Alter
- Gembris, Heiner (Hrsg.) (2008). Musik im Alter. Soziokulturelle Rahmenbedingungen und individuelle Möglichkeiten. Frankfurt/M.: Peter Lang
- Hartogh, Theo & Wickel, Hans Hermann (2008). Musizieren im Alter. Arbeitsfelder und Methoden. Mainz: Schott Music
- Tüpker, Rosemarie & Wickel, Hans Hermann (Hrsg.) (2009): Musik bis ins hohe Alter. Fortführung, Neubeginn, Therapie. 2. Aufl. Norderstedt: Books on Demand
- Wickel, Hans Hermann & Hartogh, Theo (Hrsg.) (2011). Praxishandbuch Musizieren im Alter. Projekte und Initiativen. Mainz: Schott Music
- Wickel, Hans Hermann (2013). Musik kennt kein Alter. Stuttgart: Carus/Reclam