Neue Musik, zeitgenössische Musik, Gegenwartsmusik … Der Diskussionsbedarf über diese grundsätzlichen Benennungen – jüngst auch in dieser Zeitung – ist hoch. Ein guter Zeitpunkt also für ein Lexikon, das die zu diesem Themenfeld gehörigen Begrifflichkeiten klärt, historisch einordnet und gegebenenfalls auch problematisiert.
Ausgangspunkt für die Herausgeber war hier die ebenfalls bei den Verlagen Bärenreiter und Metzler erschienene Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG). Der letzte Band von deren Sachteil war 1998 erschienen, 2008 der Supplementband mit vier neuen, nun auch im Lexikon aufgegriffenen Einträgen zum Thema. Dabei handelt es sich aber keineswegs um ein aktualisierendes „Recyclen“ der MGG-Artikel. Vielmehr wurden praktisch alle gleichlautenden Beiträge neu geschrieben, hinzugekommen sind fast 40 neue Stichwörter. Eine kleine Auswahl mag andeuten, welche Erweiterung des Blickfeldes dies gegenüber der MGG bedeutet: Geräusch, Globalisierung, Intermedialität, Internet, Kanonisierung, Körper, Kulturpolitik, Musikjournalismus, Natur, Performance, Säle und Gebäude, Zentren Neuer Musik …
Ein sehr präzises System von Verweisen vernetzt dabei die Einträge untereinander, den Blick für übergeordnete Fragestellungen und Zusammenhänge gewährleisten darüber hinaus neun gehaltvolle Themenbeiträge, die als erster Teil etwa ein Sechstel der über 600 klein und dicht gedruckten, gerade noch einigermaßen ermüdungsfrei zu lesenden Doppelspalten ausmachen. Hier zeigen sich, wie bei einer solchen Gemeinschaftsproduktion nicht anders zu erwarten, gewisse Unterschiede in der Interpretation dieser speziellen Textsorte. Sehr gut funktionieren die Essays zur Avantgarde der 1950er-Jahre, zu mikrotonalem und spektralem Komponieren sowie zu geistlichen, spirituellen und religiösen Perspektiven. Erfreulich nah in der Gegenwart kommt der Beitrag zu Aspekten des Weltbezogenen an, beim Artikel zu analoger und digitaler Musikgestaltung gelingt dies nicht so überzeugend. Der Überblick zur amerikanischen Musikgeschichte informiert handfest und differenziert, der Artikel zu transnationalen Tendenzen hingegen beginnt mit theoretischer Überfrachtung und verliert sich dann in Analysedetails zu ostasiatischer Musik.
Überhaupt scheint die Balance zwischen der notwendigen Problematisierung von Begriffen und einem eher pragmatisch informierenden Zugriff die größte Herausforderung gewesen zu sein und zwei Vergleiche zwischen MGG und Lexikon zeigen, dass offenbar keine Entwicklungsrichtung vorgegeben war, die Verschiebungen von Gewichtungen also vielmehr vom Gegenstand selbst herrühren. So fasste etwa der Eintrag zur Klangkunst in der MGG den Komplex recht konkret, während der Begriff im Lexikon kritischer reflektiert wird, was den Text weniger griffig erscheinen lässt. Bei der Minimal Music verhält es sich umgekehrt: Hier problematisiert der MGG-Artikel auch wegen eines allgemeineren Verständnisses des Themenfeldes stärker, das Lexikon verfährt pragmatischer …
Die stärksten Differenzen ergeben sich natürlich bei allgemeinen Begriffen aus der MGG, die nun im Lexikon speziell auf die Neue Musik bezogen werden, wobei bisweilen nicht ganz plausibel wird, warum in manchen Fällen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgegriffen wird und in anderen nicht. Durchweg ab der zweiten Jahrhunderthälfte setzen die 14 Länderartikel an, wovon die Hälfte größere Regionen in den Blick nimmt.
Das Bemühen, sich nicht ausschließlich an eine wissenschaftlich interessierte Leserschaft zu richten, ist manchen Einträgen, besonders den kürzeren, erfreulich anzumerken, manche Autoren/-innen scheinen in dieser Hinsicht aber einfach nicht „aus ihrer Haut zu können“. Die zum Teil ausladenden Literaturhinweise lassen andererseits aber auch erahnen, welche Kondensationsleistung hinter vielen Artikeln steckt – der „Leichtigkeitslüge“ wollte sich dann eben doch niemand schuldig machen.
Entscheidend für das Gelingen der ambitionierten Unternehmung ist die Tatsache, dass das in der Einleitung formulierte Ziel, „sich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts in ihrer erheblichen Pluralität von Tendenzen, Kriterien, Phänomenen und Intentionen zu nähern“ als erreicht angesehen werden kann. Schon allein der Blick auf das rund 3.000 Namen (und auch zahllose Werke) umfassende Register zeigt, dass die Herausgeber es mit dem in der Einleitung umrissenen „geweiteten Horizont“ ernst gemeint haben. Ohne die historischen Konnotationen herunterzuspielen, verstehen sie „neue Musik“ als einen umfassenden Begriff, der dazu angetan sei, „eine wirkliche Vielfalt von Phänomenen“ zu fassen. In diesem Sinn ist das „Lexikon Neue Musik“ ein großer Wurf – ein Referenzwerk, das die Diskussion offen hält.
- Jörn Peter Hiekel, Christian Utz (Hg.): Lexikon Neue Musik. Metzler/Bärenreiter, Stuttgart/Kassel 2016, XVII, 686 S., € 128, ISBN 978-3-761820-44-5