Hauptbild
Banner Full-Size

Hören und sehen lernen bei intelligenter Neuer Musik

Untertitel
Wittens Kammermusiktage gewinnen für die Entwicklung und Beobachtung heutigen Komponierens immer größere Bedeutung
Publikationsdatum
Body

Die Wittener Tage für neue Kammermusik haben sich in den vergangenen Jahren förmlich zu einem Seminar für gegenwärtiges Musikschaffen entwickelt. Harry Vogt, zuständiger Redakteur für neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk Köln und zugleich künstlerischer Leiter der Kammermusiktage, schätzt für seine Programme die thematischen Setzungen. Statt beliebiger Anhäufungen von Stücken werden Programme sozusagen „komponiert“, Querverbindungen zwischen Komponisten und Werken hergestellt, aktuelle Tendenzen registriert, auch Bögen zurück zu den jeweiligen Entwicklungen in der Neuen Musik geschlagen. Die ebenfalls von Harry Vogt konzipierten „Musik der Zeit“-Programme im Westdeutschen Rundfunk haben auf diese Weise ein äußerst scharfes Profil gewonnen, was auch für die Wittener Kammermusiktage gilt.

Als Stichwort für die Auswahl der diesjährigen Witten-Werke bietet sich der Begriff „Mikro“ an: Die Komponisten erkunden mikrotonale Zwischenräume, entfalten, wie Brian Ferneyhough in seinen „Funérailles“, Mikroaktivitäten, operieren mit drittel- und vierteltönigen Skalen, differenzieren das Tonsystem bis hin zur Auflösung selbst der Mikrotonalität. Was dabei gewonnen wird, ist eine oft erregende klangfarbliche Vielfalt, an deren Herstellung sowohl analoge wie digitale Klangerzeuger beteiligt sind. Eng verbunden mit dieser Klangdifferenzierung ist auch das Thema der Stille in der Musik, speziell der Neuen Musik, worüber sich im Programmbuch der Wittener Musiktage 2004 ein informativer Beitrag von Tobias Plebuch findet.

In der Verfeinerung der musikalischen Ausdrucksmittel bis hin zur komponierten Stille darf man zugleich aber auch eine Form des gesellschaftlichen und politischen Protestes sehen: Gegen das immer lauter werdende, unartikulierte Brüllen der realen Welt setzen die Komponisten bewusst das Leise, die ruhige, präzise und überlegte Argumentation. Luigi Nonos „Prometeo“, vom Komponisten als „Tragödie des Hörens“ bezeichnet, oder Luciano Berios Oper „Un re in ascolto“ mögen als markante Beispiele für diese innere Protesthaltung genannt sein.

Auch in Witten traf man auf vielgestaltige Formen eines künstlerisch gestalteten Protestes. Wenn der achtzigjährige Schweizer Klaus Huber sein Kammerkonzert für Solo-Violoncello, Countertenor, Solo-Bariton und neun Instrumentalisten „. . . à l’ame de marcher sur ses pieds de soie. . .“ zu einem Text des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch auf Maqamat-Strukturen der arabischen Musik aufbaut, dann offenbart sich in dieser Adaption der musikalischen Mittel auch ein Einspruch gegen den derzeitigen Zustand des politischen Bewusstseins, das den Menschen nur mehr als verdinglichte Sache betrachtet, mit der man Kriege führen und Handel treiben kann. Klaus Hubers musikalisches Denken impliziert stets auch übergreifende politische Perspektiven. Da ein solches Denken bei Huber emotionale Beteiligung nicht ausschließt, entsteht immer auch eine Musik von expressiver Klangfülle, die wiederum durch die Präzision des Komponierens gebändigt erscheint. Auch das neue Werk, eine Art Ableitung aus dem vor zwei Jahren in Donaueschingen uraufgeführten Kammerkonzert „Die Seele muss vom Reittier steigen...“ auf einen Text des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch, besticht durch die Dichte der kompositorischen Textur und durch eine beeindruckende Innenspannung, was in der hervorragenden Interpretation des Werkes durch den Cellisten Walter Grimmer, den Countertenor Kai Wessel, den Baryton-Spieler Max Engel und das Collegium Novum Zürich unter Leitung von Peter Rundel plastisch erfahrbar wurde. Vergleichbare kritische Implikationen findet man auch in Heinz Holligers Liederzyklus „Puneiga“, zehn Lieder mit Zwischentexten nach mundartlichen Gedichten der aus dem Piemont stammenden Dichterin Anna Maria Bacher: eine subtil komponierte, gleichwohl expressiv bewegende Klage über den Verlust einer eigenen Sprache, mit dem zugleich persönliche Identität und Heimatgefühl verloren gehen. Holligers Liederzyklus zeigt, dass es durchaus noch möglich ist, den tradierten Stil einer Lied-Text-Vertonung zu differenzieren, punktuell neu zu belichten, ohne dabei die narrativen Zusammenhänge zu atomisieren. Auch hier wieder eine glänzende Interpretation durch die Sopranistin Sylvia Nopper und das Collegium Novum Zürich unter Leitung des Komponisten.

Was bei den diesjährigen Kammermusiktagen besonders auffiel, war die starke Präsenz Deutsch-Schweizer Komponisten und Interpreten. Absicht oder Zufall? Wer die Wechselbeziehungen zwischen deutscher und schweizerischer Kultur, auch und besonders in der Literatur, durch die geschichtlichen Zeiten verfolgt, stößt immer wieder auf ein Phänomen: In Krisenzeiten der deutschen Literatur blühte in der Schweiz das literarische Leben auf – man denke nur an die Zeit Bodmers und Breitingers, oder an die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt die wichtigsten aktuellen Beiträge zur deutschsprachigen Literatur beisteuerten. Klaus Huber und Heinz Holliger gehören heute zu den deutschsprachigen Komponisten in der Schweiz, die im Sinne eines engagierten Komponierens zugleich einen politischen und moralischen Anspruch formulieren, der weit über die rein ästhetischen Implikationen hinausdrängt.

Obwohl er inzwischen auch die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, darf man auch den Schweiz- Österreicher Beat Furrer dieser Richtung zuordnen: In seinem vierzigminütigen dritten Streichquartett führen viele oft hinhuschende Einzelton-Gesten schließlich in einen größeren Zusammenhang – ein faszinierender kompositorischer Prozess, den man auch symbolisch sehen kann: als angestrengten Versuch, der drohenden Vereinzelung aller (Lebens-)Elemente entgegenzuwirken, wieder in größeren Dimensionen zu denken und zu fühlen. Die Wiedergabe durch das Arditti String Quartet war schlechthin überwältigend, weil sie nicht nur präzis die komplizierte Struktur umsetzte, sondern auch die Zusammenführung der Einzelteile zum Großformat im Blick behielt.

Dass Schweizer Komponisten sich vor Eigenwilligkeiten nicht scheuen, bewies Roland Moser mit seinem Werk „Oszillation und Figur“ (aus den Ritterfragmenten) für zwei Celli, zwei Kontrabässe, zwei Klaviere und eine Bassflöte: Eine Musik, die sich in die Gedankenwelt des schlesischen Physikers Johann Wilhelm Ritter (1776 bis 1810) hineinzutasten versucht. Ritter gilt als Erfinder der Elektrochemie, schuf eine Vorform des Akkumulators, doch beschädigte er seinen wissenschaftlichen Ruf durch allerlei spekulative „Wünschelrutenversuche“, wie es in einem Lexikon heißt. Roland Moser fiel zu allem eine Musik ein, die durch Klangimagination und lebendige Gestik beeindruckte. Ein schöner Gedanke war es auch, in diesem Zusammenhang wieder einmal an den Grand Old Man unter den Schweizer Komponisten Jacques Wildberger zu erinnern: Sein „Kammerkonzert (Erkundungen im Sechsteltonbereich)“, geschrieben 1995/96, für Saiteninstrumente und Synthesizer erwies sich unter den vielen Stücken, die in Witten erklangen, als eines der frischesten, inspiriertesten, weil es Wildberger gelungen ist, das Experimentelle, das aus dem gewählten Tonsystem zwangsläufig folgt, in einen vitalen Musik-Sprach-Gestus zu überführen.

Zu einer engagierten Musik muss man auch Nikolaus A. Hubers Ensemblestück „Werden Fische je das Wasser leid?“ rechnen – eine Musik mit Neglect-Syndrom für Sopran und Instrumentalisten: Komponieren als schmerzhaft-heftiger Reflex auf aktuelle politische Zustände in der Welt, die existentiell bedrohliche Gefühle auszulösen vermögen. Das war von Nikolaus A. Huber in Gestus und Ausdruck präzis getroffen, ebenso wie der Österreicher Klaus Lang in seiner Komposition „berge.träume“ für Violoncello und Chor das Wachsen und Verschwinden von „Bergen“ als Klangchiffre eines drohenden Naturverlustes in subtil ausbalancierten Oberton-Sphären ansiedelt.

Was bei den diesjährigen Tagen für neue Kammermusik besonders auffiel: In der Vielzahl der einzelnen Werke und unterschiedlicher Stile und Schreibweisen zeichnet sich eine bemerkenswerte Hinwendung wieder zur autonomen Komposition ab, deren Struktur sich quasi aus sich selbst entwickelt.

Das Impressionistische, das plane Zitat aus anderen Genres scheint aus der Mode. Dass Wolfgang Rihm so arbeitet, weiß man: Sein neues Stück mit dem bezeichnenden Titel „Fetzen“ für Akkordeon und Streichquartett begeistert durch einen bewusst „fetzigen“ Gestus, der die komponierten Bruchstücke straff zusammenhält. Aber auch Toshio Hosokawas Stück „Mein Herzensgrund, unendlich tief“ für Marimba und Stimmen, Stefano Gervasonis „Streichsextett“, Giorgio Nettis Ensemblestück „dall’empedocle: tre tempi“ oder Philipp Maintz‘ Musik für Streichquartett „Inner Circle“ demonstrierten schlaglichtartig, dass das kompositorische Denken in mehr oder weniger strengen Strukturen keinesfalls „out“ ist, vielmehr in der Lage, dem neuen Musikschaffen trag- und entwicklungsfähige Substanz zuzuführen. Das gilt auch für die beiden neuen Performances: Thomas Lehn und Markus Schmickler bedienen Analog-Synthesizer und Computer so behende und phantasievoll, dass die Klangergebnisse eine fast emotionale Vitalität entfalten. Etwas aparter und nicht weniger lebendig die Performance von Andrea Neumann am Innenklavier und Mischpult, wozu sich Sabine Ercklentz mit Trompete und Live-Elektronik gesellt.

Witten 2004 war ein besonders spannendes Festival der Neuen Musik, das viele Perspektiven eröffnete und sich noch mehr als sonst eines erstaunlich großen Publikumszuspruchs erfreuen durfte. Dies erscheint umso bedeutsamer, je länger die alten Vorurteile und Behauptungen zu vernehmen sind, die neue Musik interessiere nur wenige Experten. Im Übrigen können wir an dieser Stelle nur wiederholen, was wir unentwegt vortragen: Neue Musik gewinnt ihre Legitimation nicht aus der Größe des Publikumzuspruchs, sondern einzig und allein aus dem Werk, mit dem die Geschichte der Musik fortgeschrieben wird.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!