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Komponieren aus gegebenem Anlass

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Kurt Schwaen und seine Auftragswerke
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„Wer ist Kurt Schwaen?“ – nur wenige westdeutsche Musikkritiker und Musikwissenschaftler könnten diese Frage aus dem Stegreif beantworten. Bereits wenige Jahre nach 1945 hatten sich die ost- und westdeutschen Vorstellungen, wie „neue“ Musik beschaffen sein müsse, weit voneinander entfernt.

Verständigung und Annäherung gab es verstärkt wieder in den 80er Jahren: Im Bereich der Neuen Musik – mehr noch im Jazz – wurde die Mauer früher durchlässig als in anderen gesellschaftlichen Feldern. Wie es nach dem Mauerfall weiterging, zeichnet das Dossier „Komponieren West-Ost“ nach. Kurt Schwaen, der im Mai dieses Jahres 90 Jahre alt wurde, gehörte zu den herausragenden Komponisten der ehemaligen DDR. Der folgende Text basiert auf einem Vortrag, den Schwaens Lektor, Thomas Heyn, auf einem Kolloquium zum Schaffen des Komponisten Kurt Schwaen am 11. Mai in Berlin hielt. „Die Musik wird gebraucht“ ist das Thema dieses Vortrages und ich – zweigeteilt in meiner Seele als Komponistenkollege einerseits und als Musikverwerter, das heißt als Lektor eines Verlages, in dem viel von Schwaen herausgekommen ist und wohl auch noch herauskommen wird, andererseits – stocke schon, ehe ich den ersten druckreifen Satz abgelesen habe. Musik wird gebraucht? Heute? Unsere Musik? Schwaens Musik? Kurt Schwaen (Foto: Rex Schober)

Denn mit der Brauchbarkeit ist das so eine Sache. Wer braucht was und warum. Ich liebäugelte bei der Vorbereitung ein bisschen mit Eislers Terminus von der „angewandten Musik“, aber der medizinisch-therapeutische Zweck, der so eindeutig aus seiner Definition herausschaut, nämlich, dass die Mittel der Musik angewandt werden, um dies oder jenes zu erreichen, störte mich zu sehr. Unwillkürlich musste ich an „Anwendungen“ denken, an Kneippkuren, Wasserbäder und bittere Pillen, einzunehmen dreimal täglich vor dem Essen. Hermann Danuser hat vor einigen Jahren die Definition „mittlere Musik“ angeboten und meint damit eine Musikrichtung, die die Mitte hält zwischen avantgardistischen Bestrebungen und den Bedürfnissen, Möglichkeiten und Wünschen der musikalischen Basis. Diese Kompositionen erfüllten sozusagen den Zweck von Adaptern, sie gleichen etwas an, das unvereinbar und unverbunden nebeneinander existiert. Bleiben wir also am Besten bei der Brauchbarkeit, verstanden im guten Sinne von gebrauchen können, zum Gebrauch geeignet, zum gelegentlichen, häufigen oder ständigen Gebrauch empfohlen.

Kurzer Rückblick in die Praxis eines real nicht mehr existierenden Landes: Spätestens ab 1972 (dem 2. Musikkongress der DDR) war ein enges Netz nationaler und regionaler Auftraggeber für Künstler entstanden. Es war kaum möglich, keine Aufträge zu bekommen. Das Zonengeld war zwar nichts wert – so sagt man heute – doch es stand zur Verfügung, auch für die Musik und ihre Ausübenden. Dahinter steckte neben der ideologischen Komponente, nämlich dass die Arbeiterklasse als führende Kraft sich eben auch noch um die Künstler kümmert und ihnen die Möglichkeit gibt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen vor allem eine Erfahrung, die Eisler oft mit „Nützlichkeit“ umschrieben hat. Der Künstler als nützliches Glied des Gemeinwesens, anti-boheme, anti-asozial, eingebunden, mit der Herstellung nützlicher Dinge beschäftigt wie alle anderen auch. Bei Paul Dessau steht irgendwo: „Wenn ich einen Auftrag bekomme, dann glaube ich, dass meine Musik gebraucht wird“. Und Hanns Eisler beschreibt den Sachverhalt folgendermaßen: „Ich schreibe nicht ohne Geld. Es darf wenig sein, denn die Arbeiterklasse hat wenig Geld, aber bezahlt werden muss in jedem Falle etwas.“ Dem gegenüber setzt er die Nützlichkeit, das heißt, dass der Künstler einen Gegenwert, realisiert durch das Kunstprodukt, abliefert. „Den Burschen kennen wir“, schreibt er weiter, nunmehr aus Sicht der Arbeiterklasse: „der hat was abgeliefert“. Eine interessante Vokabel, dieses „abgeliefert haben“. Geld (meinetwegen wenig Geld) gegen eine abrechenbare Leistung. Und bezahlt wurde (das sagt Eisler nicht) im Sozialismus überall gleich schlecht. Aber bezahlt wurde in jedem Fall etwas, damit die „Schaffenden des Geistes“, von der herrschenden Klasse immer etwas misstrauisch und zum Teil mit wenig Sachkenntnis beäugt, zur Stange hielten und den zum Teil tristen Alltag mit ihren Mitteln bereicherten. Vorbei, vergessen. Aber diese Art von Arbeitsmoral – mir fällt wirklich kein besseres Wort ein – ist Schwaen erhalten geblieben. Sie erwies sich als überzeitlich, tauglich auch für die bizarre Nachwendewelt und die ernüchterte Gegenwart.

Denn die Nachwendezeit hielt auch für Schwaen zunächst kaum etwas bereit. Bei ihm liest sich das so: „40 Jahre lang hatte ich mitgesungen und mitgedacht: ‚Um uns selber müssen wir uns selber kümmern‘. Jetzt musste ich bescheidener bleiben: ‚Um mich selbst muss ich mich nun selber kümmern‘.“ Ein 80-jähriger Mann fängt in einem vollkommen veränderten gesellschaftlichen Umfeld neu an, und zwar fast von vorn. Er arbeitet einfach weiter mit alten und mit neuen Partnern. Verlässlich wie ein Fels Denn von Schwaen konnte und kann man auch Gebrauchsmusik im engen Sinne erhalten, ganz im Sinne von: ich/ wir brauchen mal schnell...Eine solche Bemerkung wirkte wie ein Zauberstab: Gab es einen fixen Termin und ein einigermaßen professionelles Ensemble und hatte der Meister etwas zugesagt, dann konnte und kann man sich auf Schwaen verlassen, wie auf einen Fels. Alle Noten kamen postwendend, so schnell, dass ich – hier spreche ich mal in meiner Eigenschaft als Lektor – oftmals und bis zum heutigen Tag mit der Veröffentlichung überhaupt nicht hinterherkomme. So war es eigentlich immer. War es die Bitte, zu Klavierliedern eine Klarinette oder eine Geige hinzuzufügen, oder etwas Spritziges für vier Instrumente zu benötigen oder neue Lieder, oder die alten in anderen Fassungen oder längere, kürzere, leichtere, schwerere Musik für Anlässe en gros und en détail: ein bis zwei Wochen nach Absprache waren alle Noten da. So oder so – wegen Schwaen ist noch nie ein Konzert ausgefallen und welcher lebende Komponist kann das von sich behaupten! „Ich plane nicht auf lange Sicht, ich mache es gleich“ sagte Kurt Schwaen neulich mal. Das sagt jeder Komponist, aber bei Schwaen stimmt es! Wer die Branche kennt, weiß, dass gerade auch der Faktor Zeit immer ganz wesentlich ist. Ich mutmaße mal, dass da immer auch ein „zwischenmenschlicher Faktor“ im Spiel war. Engagierte Lehrer, die über Jahre und Jahrzehnte die Zusammenarbeit suchten, Interpreten, die den Autor immer wieder forderten und anspornten, junge Künstler, die vielleicht einen neuen Aspekt oder einfach nur eine gewisse lebendige Frische ins Haus brachten, vieles von diesen Aspekten mag auf der psychologischen Ebene mit eine Rolle gespielt haben.

Ein Künstler braucht die Anregung, die Nachfrage: Im Geschäft zu sein, aufgeführt zu werden, wirkt jungbrunnenartig kraftspendend. Das Wirken aller dieser mittlerweile zahlreichen Partner in den Verzweigungen und Verästelungen des Werkverzeichnisses nachzuweisen, wäre eine interessante Spezialstudie. „Der Pädagoge musste zum Komponisten werden, und der Komponist lernte vom Pädagogen“, beschreibt es Schwaen selbst in seiner Autobiographie. Das Geben und Nehmen voneinander und füreinander, hat zu jenem umfassenden Gesamtwerk geführt, das wir hier loben wollen. Zurück zum Grundsätzlichen. Natürlich hat sich auch die Musikwissenschaft zum Phänomen „Gebrauchsmusik“ geäußert: „Das Wort hat sich zur Bezeichnung von Musik zu Filmen, Rundfunk- und Fernsehsendungen (auch Hörspielmusik, Bühnenmusik), einfachen Spielmusiken und ähnlichem eingebürgert, ist aber insofern fehl am Platze, als es dazu beiträgt, diese weitverbreiteten Gattungen von vornherein als „weniger künstlerisch“ abzuwerten.

In Wahrheit ist alle gute Musik Gebrauchsmusik im Sinne einer goetheschen „Gelegenheit“. Doch findet heute eine tatsächlich abwertende Verwendung oder auch Produktion von Musik als Gebrauchsmusik statt. Der Gebrauch kann hier zu einem Missbrauch werden.“ (Deutscher Verlag für Musik, 1966). Soweit Ostautor Horst Seeger. „Umgangsmusik“ Und was sagt das Westlexikon? „G. eine Bezeichnung für zweckgebundene Musik (zum Beispiel Kirchen-, U- und Tanzmusik – das Ostlexikon hatte den Eiskunstlauf als Beispiel erwähnt), die nicht nach Kriterien der Ästhetik, sondern nach ihrer Brauchbarkeit beurteilt werden soll.“ Da der Begriff Gebrauchsmusik bald auf Spiel-, Sing- und Jugendmusik, also auf Musik zum Gebrauch von Dilettanten, eingeengt wurde, entwickelte H. Besseler das Begriffspaar „Umgangsmusik“ für Musik, die sich nicht primär an Hörer, sondern an Gleichgesinnte wendet, und „Darbietungsmusik“ für autonome Kunstmusik, die sich an ein Publikum wendet.“ (namenloser, Der Musik-Brockhaus, Schott Verlag, 1982) Das ist starker Tobak! Die hehre hohe Musik im Kunsttempel, die unbefleckte Geistigkeit, politisch möglichst neutral, ungefährlich. Der Rest fällt unter den Tisch, nie gesehen, nie gehört. „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“: In Wirklichkeit, und dies wäre am Schwaen’schen Werk wahrzunehmen und zu lernen, ist eben die Aufhebung des Zwiespalts von hoher und niederer Musik in getrennte, absorbierte Sphären das Ziel von Schwaen. Das einfache Lied in Dur und Moll und das sinfonische oder musiktheatralische oder kammermusikalische Werk schließen sich eben nicht aus, beide haben ihren Platz und ihre Daseinsberechtigung. Der alte Nietzsche wusste: Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie „warm“ und „kalt“), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch unsere innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen dadurch, dass man Gegensätze an Stelle der Übergänge zu sehen meinte (Menschliches, Allzumenschliches II / Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 67).

Dies trifft den zentralen Punkt meiner Darlegungen: dass nämlich in den Schwaen’schen Partituren keine Gegensätze, sondern Gradverschiedenheiten eines einheitlichen kompositorischen Ansatzes wahrzunehmen und nachzuvollziehen sind. Nur wenn man das akzeptiert, zerfällt das Œeuvre des Komponisten nicht in disparate Teile, die politischen Notwendigkeiten oder subjektiven Vorlieben geschuldet, mithin nicht auf einen Nenner zu bringen sind, sondern es erweist sich ein weitausgeschrittener Versuch, Ganzheitliches zu leben. Schwaen selbst schreibt dazu lapidar: „Aufgaben: Musik für ein vorhandenes Publikum schreiben. Publikum für eine vorhandene Musik gewinnen. Oder anders: Kunst für die Menschen fordern. Menschen für die Kunst fördern.“ (Stufen und Intervalle, S. 283). In Schwaens Sprache klingt das so: „Noch immer bin ich nicht bereit aufzuhören. Eine Wende ist erfolgt. Was hat sie mir gebracht? Ich bin unruhig und neugierig wie eh und je. Ich will das Vergangene nicht vergessen, aber hinter mir lassen, um bereit zu sein für neue Aufgaben.“ (Stufen und Intervalle, S. 10)

Die von Eisler propagierte „Nützlichkeit“ als notwendiges Mittel zur Bekämpfung der Dummheit in der Musik offenbart sich in Schwaens Werk ebenso, wie ganz alte Vorstellungen vom Komponisten als Tonsetzer, der als Handwerker der Töne unter anderen Handwerkern innerhalb seines Zirkels (seiner Zunft), eines Kreises von Getreuen, Liebhabern, Schülern und musikalischen Partnern festverwurzelt lebt und arbeitet. Außenwirkung und Ruhm sind dabei eher Nebeneffekte, die sich einstellen oder nicht einstellen oder nur ein bisschen. Keinesfalls sind sie Endziel einer Marketingstrategie. Ein Selbstverständnis, dass Eva Strittmatter so in Worte fasst: „Natürlich möcht auch ich den Menschen nützlich sein. Aber nicht wie Wasser. Lieber wär’ mir Wein.“

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