Fast 18 Jahre lang war Marcus Creed Leiter des SWR Vokalensembles Stuttgart. Jetzt hat er den Stab an seinen Nachfolger Yuval Weinberg weitergereicht. Zu seiner Verabschiedung wurde er zum ersten Ehrendirigenten in der Geschichte des Ensembles ernannt. Eine CD-Box ist auch erschienen. Sie heißt „Chormusik der Welt“ und sie ist (s)ein klingendes Vermächtnis.
Ich hätte nirgendwo anders auf der Welt tun können, was ich in Stuttgart machen durfte“, sagt Marcus Creed im Radio-Interview, das er dem SWR vor ein paar Wochen gewährt, besser gesagt, zu dem er sich hat breitschlagen lassen. Denn das gesprochene Wort ist seine Sache nicht, auch der nmz wollte er kein Interview geben – was in seinem Falle aber nichts mit Ignoranz oder gar Arroganz zu tun hat, sondern in der Natur seiner Person begründet liegt. „Ein Dirigent spricht nicht, er zeigt mit den Händen“, lautet sein Credo. Fast 18 Jahre lang hat Creed es dem 1946 von Otto-Werner Mueller in Stuttgart gegründeten Ensemble in diesem Sinne „gezeigt“ und den Chor mit seinen begnadeten Händen zu einem der weltbesten seiner Art geformt.
Der 1951 in Eastbourne an der Südküste Englands geborene Marcus Creed hat vor seiner Übersiedlung nach Deutschland im Jahr 1977 selbst im Chor gesungen – im berühmten King’s College Choir, Cambridge. Seine Erfahrungen mit der englischen Gesangstradition brachte er schon beim RIAS-Kammerchor Berlin ein, den er ab 1987 fünfzehn Jahre lang als Chefdirigent leitete. Mit den Berlinern erarbeitete er einerseits (auch) viel modernes Repertoire, andererseits schärfte er den Chor in Richtung der historischen Aufführungspraxis. Durchhörbarkeit und Transparenz der Stimmen wurden zu einer Art Markenzeichen seines Schaffens. Als er dann 2003 seinen ersten Vertrag beim SWR Vokalensemble unterzeichnete, konnte Creed auf einen riesigen Erfahrungs- und Repertoireschatz zurückgreifen. Fünf Mal verlängerte er den Vertrag, aber seit Mitte des Jahres ist nun auch diese fast 18 Jahre lang währende „Ära Creed“ – die Formulierung ist mit Bedacht gewählt – Geschichte, besser gesagt: Musikgeschichte.
Am 25. Juli 2020 dirigierte Marcus Creed in der Stuttgarter Stiftskirche zwei Abschiedskonzerte hintereinander – Corona-bedingt vor dünn besetztem Publikum. Die anschließende Laudatio hielt SWR-Intendant Kai Gniffke, der Creed im Namen aller Sängerinnen und Sänger zum ersten und bislang einzigen Ehrendirigenten des Ensembles ernannte. „Das Ensemble singt Ihnen aus der Hand“, stellte der sichtlich bewegte Gniffke bei seiner Laudatio fest, was den mit den Händen zeigenden Maestro trefflich charakterisiert. Das Wort „Ehrendirigent“ impliziert aber auch: Es ist kein Abschied für immer, Creed bleibt der Stadt und „seinem“ Chor weiterhin verbunden; in Zukunft soll es in Stuttgart zusätzliche Konzerte unter Leitung des neuen Ehrendirigenten geben, auch wenn davon jetzt noch nicht offiziell die Rede ist. Sprich: es „bleibt“ sehr viel von Creed. In detaillierte Zahlen fasste dies Gniffke: 147 Konzerte hat Creed in den 18 Stuttgarter Jahren dirigiert, fast 1.000 Aufnahmen sind unter seiner Leitung entstanden und auf mehr als 30 CDs verewigt worden. Und natürlich bleiben Creed und die Stuttgarter uns auch auf YouTube und zahlreichen anderen (Social-Media-)Plattformen „erhalten“.
Doch selbst wenn das Internet den physischen Tonträgern immer mehr den Rang abläuft, waren und sind es immer noch die CDs, die den Ruhm von „Creed & Co.“ über die Live-Konzerte hinaus begründet haben. Zu nennen sind hier vor allem die insgesamt neun Länder-Porträt-CDs, die ab 2014, beginnend mit dem Album „America“, zuerst beim Label Hänssler, später dann bei SWR Classic veröffentlicht wurden. Es folgten: Russland, Italien, Großbritannien, Polen, Finnland, Frankreich, Japan und – erst jüngst zum krönenden Schluss der Reihe – das Baltikum. Alle neun Länder-CDs gibt es nun in einer Box. Sie trägt den Titel „Chormusik der Welt“ und ist in ihrer stilistischen Bandbreite und Vielfalt ein Kompendium von A-Cappella-Chorkompositionen, die überwiegend im 20. und 21. Jahrhundert geschrieben und zum Teil vom Stuttgarter Vokalensemble auch selbst in Auftrag gegeben wurden.
Im oben erwähnten Interview, das Creed dem SWR gegeben hat, wehrt sich der Dirigent gegen eine als Lob gemeinte Aussage, die er häufiger zu hören bekommt: dass er dem Ensemble seinen ganz eigenen Klang verliehen habe. „Ich finde den Spruch mit dem Klang nicht passend“, so Creed. „Die Frage lautet: was verlangt die Musik? Unterschiedliche Sprachen und Stile!“ Es gehe doch vielmehr darum, den Ton des jeweiligen Landes zu finden, nicht darum, den eigenen Klang allem überzustülpen. Gerade in der Chormusik, die eine wichtige soziologische Funktion erfülle, kämen die Länder-Spezifika deutlich zum Ausdruck. „Madrigale aus Italien, Runengesänge aus Finnland oder Volkslieder aus Japan verlangen jeweils ganz unterschiedliche Herangehensweisen.“ Dass Chormusik nicht nur mit der Geschichte der jeweiligen Länder verbunden ist, sondern darüber hinaus sogar nationale Identitäten mitbegründen kann, habe das Baltikum mit seiner Singenden Revolution bewiesen, von der die Sowjets, wie Creed mit trockenem britischem Humor bemerkt, „nicht begeistert“ waren. Schade, dass die Länderreise mit der „Baltikum“-CD zu Ende gegangen ist. Der Zielort war in jedem Fall perfekt gewählt und so tröstet wenigstens der Spruch: Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Und noch schöner – die Anmerkung sei dem Verfasser dieser Zeilen gestattet – hätte es diskografisch kaum werden können.