Mit dem Beitrag auf Seite 20 dieser Ausgabe legen die Autor*innen der „ChoCo-Studie“ erste Ergebnisse ihrer Online-Befragung von über 4.000 Chören in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. Für die nmz hat Juan Martin Koch mit Kathrin Schlemmer (Professorin für Musikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt), Johannes Graulich (Geschäftsführer des Carus-Verlags) und Jan Schumacher (Universitätsmusikdirektor der Goethe Universität Frankfurt am Main) über die Studienergebnisse und mögliche Schlüsse daraus gesprochen.
neue musikzeitung: Von wem ging die Initiative für diese Studie aus?
Johannes Graulich: Seit Dezember gab es eine Gruppe Chorinteressierter, die regelmäßig im Austausch darüber war, wie wir verhindern können, dass die Chormusik durch die Pandemie schweren Schaden nimmt. Als im Februar der Bundesmusikverband Chor & Orchester (BMCO) einen wichtigen, offenen Brief veröffentlichte, der auch einige Reaktionen hervorgerufen hat, wurde klar, dass Orchester und Chöre nicht eins zu eins vergleichbar sind. Die Chöre standen wegen des Aerosol-Themas besonders unter Druck. So entstand die Idee, die Situation der Chöre am Ende der Pandemie wissenschaftlich einzufangen – nicht wissend, dass es noch eine dritte Welle geben würde…
nmz: Ist das Bild, das Sie nun gewonnen haben, trotzdem etwas wert?
Jan Schumacher: Wir haben nun, ohne dass es so intendiert war, nach ziemlich genau einem Jahr einen Zwischenbericht zur Situation in der Pandemie. Als Bestandsaufnahme ist das auf jeden Fall etwas wert!
nmz: Für über 4.000 Chöre liegen Datensätze vor, die sie auswerten konnten. Ist das für eine solche, knapp einen Monat laufende Onlinebefragung ein guter Wert?
Einen Nerv getroffen
Kathrin Schlemmer: Auf jeden Fall. Die einzige große Umfrage, die es schon gab, war die des Allgemeinen Cäcilienverbandes (ACV) und der Pueri Cantores, an der 1.200 Chöre teilgenommen haben. Das war so eine Zahl, mit der auch wir gerechnet hatten. Wir waren positiv überrascht, wie schnell sehr viele Antworten kamen.
nmz: Sie haben also einen Nerv getroffen?
Schlemmer: Wir haben sicher einen Nerv getroffen und haben auch viele direkte E-Mails bekommen, in denen dafür gedankt wurde, dass auf die Situation aufmerksam gemacht wird. Der Tenor war oft: „Wir sind zur Untätigkeit verdammt und bereiten zum Teil sinnlose Digitalproben vor.“ Viele waren einfach dankbar, das einmal aufzuschreiben, dokumentieren zu können.
Schumacher: Wie Johannes Graulich schon sagte: Die Chöre sind noch einmal stärker belastet. Man merkt, es geht einem schlechter als anderen in der Szene – das war sicher auch ein Grund für den großen Zuspruch.
Graulich: Es hat wohl auch etwas mit der schlechten Presse zu tun, die die Chöre hatten. Es gab ja einige schwerwiegende Fälle in der ersten Phase der Pandemie und diese werden bis heute in Presseartikeln herangezogen, obwohl die Chöre in der zweiten und dritten Welle keine Rolle mehr beim Infektionsgeschehen gespielt haben.
nmz: Welche Ergebnisse der Befragung haben Sie überrascht?
Schlemmer: Ich hatte schon vorher das Gefühl, dass es den Chören nicht gut gehen kann. Aber dass der Mitgliederschwund so groß ist, hätte ich nicht gedacht. Dass nur drei Viertel der üblichen Mitglieder aktiv sind, ist eine Momentaufnahme, aber wenn die nicht reaktiviert werden können, ist das schon dramatisch.
Schumacher: Alarmierend ist es vor allem, wenn es in den Kinder- und Jugendchorbereich geht. Wenn Sportvereine ihr Angebot früher wieder aufnehmen können als die Chöre, wird es da eine weitere Abwanderung geben. Das muss man perspektivisch sehen. Bei den Erwachsenen ist es außerdem so, dass viele ältere Sängerinnen und Sänger die Situation zum Anlass nehmen, um mit dem Chorsingen aufzuhören.
Graulich: Wir haben ja auch als Verlag Zahlen, die einiges aussagen. Wir hatten schon in der ersten Welle dramatische Einbußen. Es ist jetzt aber noch eine andere Situation. Bisher dachten die Chöre: In vier Wochen proben wir wieder… Jetzt wissen die Chöre gar nicht mehr, wie es weitergeht. Das ist möglicherweise die Talsohle im Moment. Positiv überrascht hat mich der nach wie vor vorhandene gute Zusammenhalt in den Erwachsenenchören.
nmz: Wie könnte man Kinder- und Jugendchöre gezielt unterstützen?
Graulich: Das ist eine schwierige Frage. Die haben ja ohnehin eine hohe Fluktuation und im Moment praktisch nur Abgänge. Ich habe mit einigen Leitern gesprochen und die sagen: Mein Chor existiert nicht mehr. Die Nachwuchschöre wieder aufzubauen, das wird eine echte Herausforderung!
Schumacher: Zumal es ja in den meisten Bundesländern außerdem verboten ist, in der Schule zu singen… Interessant ist auch, was sich Erwachsenenchöre wünschen: Da werden Schnelltests ins Feld geführt. Inwiefern das nun im Kinder- und Jugendbereich durchführbar ist, muss sich aber erst noch zeigen.
Weg von der Gefahrendiskussion
Schlemmer: Eine wissenschaftliche Aufgabe wäre es, noch genauer zu den realistischen Gefahren des Chorsingens zu forschen. Wir haben natürlich das Aerosol-Thema, aber da gibt es auch Studien, nach denen mit den entsprechenden Konzepten in Sachen Hygiene und Abstand doch sicher gesungen werden kann. Zudem bräuchte man eine Imagekampagne, in der die positiven Effekte des Singens wieder hervorgehoben werden. Nicht im Sinne einer Steigerung irgendwelcher akademischer Leistungen, sondern im Sinne der Steigerung des Wohlbefindens, des Kompetenzgefühls und der Bedeutung der Gemeinschaft, gerade für Heranwachsende. Das müsste man wieder viel stärker in den Vordergrund rücken, um ein Stück von der Gefahrendiskussion wegzukommen.
Graulich: Auch das Thema Resilienz ist hier bedeutsam. Die seelische Gesundheit von Kindern wird in den nächsten Jahren eine große gesellschaftliche Rolle spielen.
nmz: Was könnte man tun, um Chöre genau jetzt zu motivieren? Es gab Wettbewerbe, etwa des Bayerischen Rundfunks, für Digitalprojekte…
Schumacher: Natürlich sind solche Online-Wettbewerbe eine gute Idee. Sie setzen aber voraus, dass man entweder ein Video hat oder eines machen kann, und treffen am Ende nicht den Kern dessen, was fehlt: das gemeinsame Singen, das gemeinsame Agieren. Am Ende sind das nur Überbrückungen, die aber nicht das entscheidende Moment von Chorgesang auffangen können.
nmz: Was können Verlage tun, um die Dinge, die online einigermaßen funktionieren, zu unterstützen?
Graulich: Wir haben schon vor einiger Zeit eine Blattsingschule herausgebracht: die Kölner Chorschule: Da merken wir, dass das Thema nun im Netz vielfach aufgegriffen wird. Zentral wird aber sein, dass die Chöre, wenn es wieder losgeht, wirklich interessante Angebote machen können. Bei entsprechenden großen und beliebten Werken kommen die Sängerinnen und Sänger vermutlich auch wieder. So haben wir einen Programmschwerpunkt auf Bearbeitungen mit kleineren Orchesterbesetzungen gelegt. So können auch kleinere Chöre diese fantastischen Werke singen, etwa das Verdi-Requiem. Ein erstes tolles Konzert mit einem solchen Werk könnte für den Wiedereinstieg sehr wichtig werden.
Schumacher: Auch die Carus Chor-App wird, so habe ich gehört, zur Zeit nicht nur als Einstudierungshilfe genutzt, sondern einfach, um zu Hause alleine mal das Brahms-Requiem durchzusingen. Besser als nichts!
nmz: Das Verdi-Requiem in kleiner Besetzung – ist das künstlerisch sinnvoll?
Schumacher: Das ist eine alte Diskussion. Meine spontane Reaktion wäre zunächst: eher nicht. Andererseits gibt es aber in der Musikgeschichte viele Beispiele dafür, dass solche Bearbeitungen immer gemacht wurden, teilweise von den Komponisten selbst: Brahms hat sein Requiem selbst für vierhändiges Klavier arrangiert. Es ist absolut legitim, sich an das anzupassen, was man vorfindet.
nmz: Könnten nicht eher Kompositionswettbewerbe Sinn machen, etwa als Anregung für das Singen im Freien?
Graulich: Das Thema mit dem Singen im Freien war insofern nicht so bedeutsam, als die Infektionszahlen im Sommer niedrig waren. Als dann aber die Zahlen zu hoch waren, um drinnen zu proben, war es draußen zu kalt… Ein „Neustart Chormusik“ – wenn man dieses Schlagwort einmal wählen will – könnte neben den großen Werken, die bei den Chören entsprechend ziehen, auch mit einer zunehmenden Bedeutung von Chorwerken mit Klavierbegleitung einhergehen. Um wieder sauber zu singen, um wieder zusammenzufinden, kann man vielleicht stärker vom Klavier her denken. Da werden wir zum Beispiel Aufträge zu Werken für dreistimmigen gemischten Chor plus Klavier vergeben. Auch Chor und Orgel wird sicher ein wichtiges Thema sein.
Repertoirewandel nötig
Schumacher: Es wird zunächst ein Repertoirewandel notwendig sein. Wenn das neue Musik, neue Kompositionen anregt, fände ich das großartig. Aber es ist ja nicht so, dass es nicht schon bisher zahllose Stücke neben den groß besetzten Gipfelwerken gäbe, die es Wert wären, aufgeführt zu werden. Man wird sich künftig intensiver mit dem Literaturstudium beschäftigen müssen, um zu sehen, was der Chor zu welchem Zeitpunkt leisten kann. Dazu gehört es auch, neue Musik anzuregen. Viele Komponisten verstehen es ja hervorragend, für das zu komponieren, was sie vorfinden. Andere können das gar nicht. Diese zweite Gruppe wird nicht unbedingt gestärkt aus der Pandemie hervorgehen…
nmz: Wie war die Resonanz bei den freien Antwortmöglichkeiten der Umfrage? Welche Tendenz lässt sich da ablesen?
Schlemmer: Zur Frage, worunter die Chöre am meisten leiden, gab es sehr viel Resonanz. Da ging es vor allem darum, nicht musikalisch tätig sein zu können, nicht in der Gemeinschaft zu sein und welche Konsequenzen das hat. Die Tendenz ist, dass das Singen im Chor einen Stellenwert hat, der über den eines Hobbys deutlich hinausgeht. Das geht eher in Richtung Lebenselixir. Zum Thema Proben gab es eine große Bandbreite an Gründen, warum das nicht digital passierte. Das war nicht nur altersabhängig, weil Ältere vielleicht nicht so digitalaffin sind. Auch bei den ganz Jungen war es so, dass Online-Chorproben nicht das erste sind, was sie und die Eltern sich wünschen, wenn sowieso den ganzen Tag Fernunterricht ansteht. Was Präsenzproben angeht, so müssen wir das im Detail noch genauer analysieren, das ist von den Möglichkeiten her regional sehr unterschiedlich gewesen. Auch die Abweichungen in der Schweiz und in Österreich müssen wir noch auswerten.
Belastbare Zahlen
nmz: Die Ergebnisse haben nun vielfach das bestätigt, was Sie vermutet haben. Welchen Gewinn können Sie nun dennoch daraus ziehen, was hoffen Sie zu bewirken?
Schlemmer: Das ist ein Einwand bei jeder musikpsychologischen Studie: Es kommt das heraus, was man vermutet hat… Aber vorher hatten wir eben Einzelvermutungen, jetzt haben wir die Antworten von über 4.000 Chören, die das bestätigt haben. Unser Fortschritt besteht darin, dass wir nun belastbare Daten dazu haben, wo die Probleme für die Chöre zum jetzigen Zeitpunkt liegen und ein paar Ansatzpunkte, wo man unterstützend tätig werden könnte. Die Auswertung geht noch weiter und wir werden dadurch sicher noch weitere Anregungen bekommen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir eine Folgebefragung zu einem späteren Zeitpunkt machen.
Die Stimme erheben
Schumacher: Solche Zahlen sind immer dann wichtig, wenn es um ein Entwickeln von Perspektiven mit Politikern geht. Wenn wir sagen, wir haben das Gefühl, den Chören geht es schlecht, dann ist das nicht so viel wert, wie wenn wir nun sagen können: Wir haben das schwarz auf weiß. Das erhält ein ganz anderes Gewicht. Und die konkreten Antworten zu den Unterstützungen, die man sich wünscht, muss man dann auch ganz klar an die Entscheidungsträger kommunizieren. Aus dem Gefühl ist etwas Belegbares geworden.
Graulich: Das kann ich nur unterstreichen. Gerade in der jetzigen Situation, in der es so viele gesellschaftliche und politische Probleme gibt, ist es wichtig, dass dieser wichtige Bereich seine Stimme erhebt. Die Chöre gehören zu den absoluten Pandemieverlierern. Man muss deutlich zeigen, dass hier etwas kaputt zu gehen droht, das man nicht so ohne weiteres wieder beleben kann.
Eine ausführliche Darstellung der ersten Studienergebnisse ist zu lesen unter: www.nmz.de/choco