Der persönliche Jahresrückblick der nmz-Phonokritiker. Von Herbig bis Vivanet.
Aus einer seltenen Fülle herrlicher Alben kristallisierten sich für mich zwei überragende Veröffentlichungen heraus: Gunter Herbigs Gurdjieff-Album auf der E-Gitarre (BIS) ist das Überzeugendste, was je der so puren wie linear anspruchsvollen Musik des großen Mystikers widerfahren ist – ein unendlicher Raum öffnet sich, die Magie liegt in der fantasievollen Natürlichkeit der Gestaltung; und die legendäre griechische Pianistin Vasso Devetzi ist in sämtlichen Konzerten mit dem Moskauer Kammerorchester unter Barschai als vielleicht großartigste Bach-Spielerin der Aufnahmegeschichte zu entdecken (Doremi), ganz besonders alleine in der Chromatischen Fantasie und Fuge – spannender und schlüssiger geht es nicht.
An Historischem ist weiter zu nennen: die kompletten DG- und Decca-Aufnahmen Wilhelm Furtwänglers, ein Muss für Freunde innigster Ekstase; das Quartetto Italiano im Berliner Rundfunk 1951–63, nobelstes Quartettspiel auch in Raritäten von Donizetti und Malipiero (Audite); die SWR-Aufnahmen der Geigerin Edith Peinemann, darunter ein phänomenales Pfitzner-Konzert mit Rosbaud (SWR Classic, 5CDs); Käti Laretei mit dem nach wie vor musikalischsten ‚Ludus tonalis‘ von Paul Hindemith (Decca Eloquence); Henry Holst und Frank Merrick mit erlesenem Repertoire für Geige und Klavier (Nimbus) von Bax über Frumerie, Rubbra, Reger, Sibelius, Delius und Isaacs bis zu Bernard Stevens’ wertvoller Dowland-Fantasia; eine vielseitige David-Oistrach-Jubiläumsedition (Melodiya, 5CDs), die jene fantastische Aufnahme von Schostakowitschs sieben Blok-Romanzen mit Vishnevskaya, Rostropowitsch und Weinberg enthält; die kompletten 27 Miaskovsky-Symphonien mit Svetlanov (Alto); die herrlichste Aufnahme der 2. Symphonie von Wilhelm Stenhammar, jenes leuchtenden Kontrapunktwunders, das Sixten Eckerberg 1947 in Göteborg in einmaliger Weise verwirklicht hat (Caprice); und das St. Petersburger Label Northern Flowers mit der Gesamtaufnahme der Kammermusik Sergey Taneyevs sowie einer Serie, die sich jeweils Streichquartetten, Symphonien, Violinkonzerten und Chorkonzerten des modernen Petersburger Komponistenkreises annimmt: überall ist hier Sergey Slonimsky dabei, aber auch so feine wie seltene Namen wie Venjamin Basner, Yuri Falik oder Vladislav Uspensky, man kommt aus der Bewunderung der Entdeckungen kaum heraus.
Das Feld der Neuerscheinungen ist ebenso ergiebig: die fulminante Komplettaufnahme der Beethoven-Quartette mit dem Miró Quartet (Pentatone); die vollständigen fünf Symphonien des jüngst verstorbenen Heinz Winbeck (TyxArt), die in ihrer monumentalen Querständigkeit den Hörer vehement fordern; der frappierende Zyklus der Tippett-Symphonien mit Martyn Brabbins (Hyperion) und der mitreißende Zyklus der Antheil-Symphonien mit John Storgårds (Chandos); eine feinnervige Symphonie fantastique Berlioz’ unter François-Xavier Roth (Harmonia mundi) oder Weinbergs gewaltige 21. Symphonie, eine Kaddish-Trauermusik, unter Mirga Grazinyte-Tyla (DG); die Fortsetzung der polnischen Streichquartettreihe bei EDA mit Ignace Strasvogel und Karol Rathaus; die fulminante Ehrenrettung für Felix Draeseke mit den beiden ersten Streichquartetten durch das Salzburger Constanze Quartett (cpo); und last, but not least der neue Gigant am Pianistenhimmel Andrea Vivanet mit einem Szymanowski-Album (Naxos), das wohl nicht zu übertreffen ist.