Spätestens seit der UN-Behindertenkonvention 2009 ist das Wort Inklusion in aller Munde. Laut Artikel 30 haben alle Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf kulturelle Teilhabe. Im Musikbereich begann die Entwicklung von Maßnahmen in Deutschland schon deutlich vor 2009. Mit der Einführung des Lehrgangs „Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen“ (BLIMBAM) initiierte Werner Probst 1981 große Veränderungen in der Musikschularbeit. Mit der Hamburger Band „Station 17“ (seit 1988) und Festivals wie „Kultur vom Rande“ in Reutlingen und dem Münchener „Grenzgänger-Festival“ seien nur einige weitere Beispiele genannt. Inzwischen beteiligen sich auch öffentliche Kulturinstitutionen als Kooperationspartner an musikalischen Begegnungen für unterschiedliche Zielgruppen behinderter Menschen.
Dennoch ist die Gewährleistung der kulturellen Teilhabe für Menschen mit Behinderungen insgesamt äußerst mangelhaft, betrachtet man die Tatsache, dass bundesweit über zehn Prozent der Bevölkerung eine amtlich anerkannte Behinderung haben (Schwerbehindertenstatistik 2011). Aktuell gibt es in Deutschland nur zwei Lehrstühle (PH Ludwigsburg und TU Dortmund), die im Rahmen der Lehrerausbildung außerschulische kulturelle Bildungsarbeit für und mit Menschen mit Behinderungen behandeln. Dementsprechend ergibt sich neben einem Mangel an geeigneten kulturellen Angeboten zusätzlich die Problematik der Qualitätssicherung.
Im Bereich der Musikvermittlung scheint derzeit noch fast jedes Projekt, das mit dem Thema Inklusion zu tun hat, mit Annerkennung und Preisen belohnt zu werden. Gerade deshalb wird eine Qualitätsdiskussion immer wichtiger, auch wenn sie besonders schwierig zu führen ist. Nicht nur der sogenannte Behindertenbonus ist für eine qualitative Weiterentwicklung hinderlich. Mindestens genauso wichtig ist, nicht per se einen Bonus für jegliches Engagement mit behinderten Menschen als Zielgruppe zu vergeben. Auch wenn es keine objektiven Maßstäbe gibt, sind Qualitätskriterien durchaus benennbar. Eine adäquate Einbindung aller Teilnehmer vor dem Hintergrund ihrer Fähigkeiten, ihres Lebensalters und ihrer musikalischen Biografie gehört neben künstlerisch-ästhetischen Aspekten zu den wohl wichtigsten Faktoren.
Drei Ansätze
Bei der Betrachtung musikvermittlerischer Projekte mit behinderten Menschen sind unterschiedliche Ansätze zu beobachten:
1. Künstlerische Ansätze: Hier sind vor allem partizipative Projekte gemeint, in denen externe Regisseure in leitender Rolle mit einer Gruppe ergebnisorientiert eine Präsentation erarbeiten. Dabei steht eine rein künstlerische statt pädagogische Herangehensweise im Vordergrund. Ein Künstler, der mit unvoreingenommenem Blick von außen Ideen einbringt, kann bereichernde Prozesse anregen. Ebenso kann es passieren, dass aus Unwissenheit oder Zeitmangel an einer Idee festgehalten wird, deren Umsetzung die Teilnehmer über- oder unterfordert, ihre Eigenständigkeit oder Selbstbestimmung einschränkt. Gerade wenn ein Regisseur keine Erfahrung in der Arbeit mit behinderten Menschen mitbringt, ist ein enger Austausch mit Lehrern, Erziehern beziehungsweise Betreuern unverzichtbar. Vor allem, wenn die Projektplanung, wie so oft, keine Zeit für eine gründliche Kennenlernphase vorsieht. Wenn bewusst eine rein künstlerische Herangehensweise gewählt wird, die durchaus ihre Berechtigung hat, muss es kritisch gesehen werden, wenn der für die Zielgruppe unerfahrenste Beteiligte die meisten Vorgaben und Anweisungen macht. Lehrer und andere Bezugspersonen der Teilnehmer müssen sich ihrer wichtigen Rolle als fachliche Profis bewusst sein und sich trauen, trotz des Renommees eines leiteden Künstlers gegebenenfalls Kritik zu äußern, damit sich die Teilnehmer bestmöglich einbringen können.
2. Integrative und Inklusive Ansätze: Diese meistens partizipativen Projekte mit Teilnehmern mit und ohne Behinderung tendieren dazu, den Schwerpunkt auf die soziale Begegnung zu legen. Schnell kommt die Frage um den Behindertenbonus auf, die hinfällig ist, sobald das künstlerische Ergebnis überzeugt. In der Arbeit mit heterogenen Gruppen gilt es, die unterschiedlichen Fähigkeiten der Teilnehmer auszuschöpfen und zu einem Gesamtkunstwerk zusammenzufügen. Das Vorurteil, dass viele behinderte Menschen im Bezug auf künstlerische Qualität nicht differenzieren können, ist selbstverständlich deplatziert. Darüber hinaus geht es auch um das Publikum und die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Solange es an künstlerischer Qualität fehlt, wird es keine positive Image-Entwicklung geben. Dann werden außer Angehörigen und Menschen, die ohnehin in diesem Bereich tätig sind, nach wie vor nur wenige Menschen Interesse zeigen, sei es als aktive(r) Musiker/-in oder Zuhörer/-in. Folglich muss das Recht auf kulturelle Teilhabe auch ein Recht auf bestmögliche Qualität beinhalten, was einen hohen künstlerischen Anspruch nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig macht.
Ein Beispiel für ein gelungenes inklusives Projekt mit künstlerischem Ansatz ist „Accompagnato – die Kunst des Begleitens“ unter der Leitung von Bernhard König, das 2008 im Rahmen des Festivals „Kultur vom Rande“ stattfand. Profimusiker der Württembergischen Philharmonie Reutlingen arbeiteten in einem dialogischen, interdisziplinären Projekt mit dem fest bestehenden sogenannten „Experimentalorchester Halle 016“ der BruderhausDiakonie in Reutlingen zusammen und wurden von erfahrenen Musikvermittlern sowie Studenten der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Reutlingen unterstützt. Es glückte nicht nur eine künstlerische Performance auf höchstem Niveau, sondern überdies eine musikalische und menschliche Begegnung auf Augenhöhe; ein Vermittlungsprojekt für zwei Ensembles, die sich gegenseitig mit Neugierde auf ihre jeweiligen Lebenswelten einlassen. Ein derartiger Erfolg geht mit einem gemeinsamen Ehrgeiz für das künstlerische Ergebnis und dem Zutrauen und Einfordern von Entwicklungen der Menschen mit Behinderungen einher, die erleben dürfen, als Künstler ernstgenommen zu werden. Der Erfahrungsschatz des Interaktionskünstlers König ist im Ergebnis unverkennbar.
3. Ansatz „Basales Theater“: Ziel ist es, Inhalte über alle Sinne und voraussetzungslos in Hinblick auf Kognition und Motorik zu vermitteln, um auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf Zugang zu kulturellen Inhalten zu ermöglichen. Praxisbeispiele sind „Beinahe die Zauberflöte“ (2005/06) und „Beinahe Peter und der Wolf“ (2008/09) von Carla Klimke und Klaudia König-Bullerjahn. Die beiden Lehrerinnen der Oberlinschule Volmarstein nahmen sich über den Zeitraum eines gesamten Schuljahrs eine Programm-Musik vor und gestalteten Unterrichtseinheiten, die speziell auf die geistig und körperlich behinderten Schüler abgestimmt waren.
Zum einen ging es um eine inhaltliche und emotionale Auseinandersetzung mit der Materie. Zum anderen konnten die Kinder als Akteure und Gestalter selbstbestimmt und handelnd „ihre“ Geschichte erleben und zeigen. Mit einer Präsentation, die den Fokus auf die Möglichkeiten, nicht auf die Einschränkungen der Kinder legte, machten sie vor 800 Zuschauerinnen und Zuschauern öffentlich auf ihre Arbeit aufmerksam.
Ein ideales Vermittlungsprojekt überzeugt durch ein schlüssiges Zusammenspiel von künstlerischen, pädagogischen und therapeutischen Herangehensweisen. Eine derartige Überzeugungsleistung wird jedoch selten eingefordert. Die unkritische Haltung von Wettbewerbsjurys, beteiligten Lehrern und Mitarbeitern zeigt, dass das Thema noch in den Kinderschuhen steckt. Um das Bewusstsein für die Frage nach Qualität zu fördern, bedarf es einer stärkeren Vernetzung: durch Erfahrungsaustausch untereinander und die Verbindung zu anderen, fortschrittlicheren Sparten wie der Museums- und Theaterpädagogik. Das Thema sollte in Kongressen, Fortbildungen, Festivals, Musikvermittlungsportalen sowie in der Ausbildung von Musikvermittlern und Musiklehrern mehr Beachtung finden.
Musikvermittlung könnte sich infolge einer qualitativen Weiterentwicklung positiv auf die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und ihre allgemeine soziale Akzeptanz auswirken. Betrachtet man die Musik wie Jean Paul als die „rein-menschlichste“ unter den Künsten, weist sie ein stark verbindendes Element auf. Ihre Vermittlung birgt folglich großes gesellschaftliches Potenzial. Erfahrungen, in denen es gelingt, die Lebendigkeit, das „Menschliche“ in der Musik gemeinsam zu erleben, können Brücken zwischen unterschiedlichen Lebenswelten schaffen. Dies kann gemeinsam im Orchester spielend oder als Zuschauer einer Präsentation geschehen.
Lebenswelten respektieren
Schafft man den Rahmen für eine solche Begegnung, müssen die verschiedenen Lebenswelten gleichermaßen berücksichtigt werden. Das bedeutet zum einen barrierefreie, individuelle Gestaltung von Angeboten. Zum anderen gilt es aber konsequenterweise auch, die Lebenswelten von Menschen ohne Behinderung, zum Beispiel im Publikum einer Präsentation, zu respektieren.
Überspitzt gesagt: Man kann von niemandem erwarten, sich aus gesellschaftlichem Pflichtbewusstsein für ein Konzert zu interessieren, für das es sich schlichtweg nicht lohnt zu kommen. Was man hingegen erwarten kann, ist Offenheit für Überraschungen und die Bereitschaft, sich auf besondere Ausdrucksformen einzulassen. Nur wenn auf den Behindertenbonus verzichtet und der Fokus konsequent auf besondere Fähigkeiten und Stärken gesetzt wird, können behinderte Menschen als Künstler ernst genommen werden und Formate entstehen, die für alle Beteiligten eine Bereicherung sind. Dann kann Musikvermittlung einen gesellschaftlichen Beitrag dazu leisten, den in der UN-Behindertenkonvention formulierten Menschenrechten ein Stück näher zu kommen, Ungleichheiten einzuebnen und die Bezeichnung „Behinderung“ in Frage zu stellen.