Die Pandemie hat auch das Berliner Musikfest verändert. Angesichts der nötigen Abstandsregelungen fanden alle Konzerte im Großen Saal der Philharmonie statt, wo die über den ganzen Raum verstreuten und zunächst hinter Masken versteckten Hörer zu Einzelwesen wurden. Die Beschränkung des Publikums, die Distanz jedes Einzelnen zum Nachbarn und die Höchstdauer von 70 Minuten ohne Pause waren aber nicht nur von Nachteil, sondern verhalfen auch zu größerer Konzentration. Nach Ausschaltung jeder sozialen Interaktion konnte man sich ganz der Musik widmen.
Anlässlich von dessen 250. Geburtstag stand Ludwig van Beethoven im Zentrum des Musikfests, das wegen Corona auf die üblichen Orchester-Gastspiele verzichten musste. Stattdessen waren Beethovens Sinfonien mit Berliner Klangkörpern zu hören, etwa die Fünfte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester unter Vladimir Jurowski, stehend gespielt mit Naturhörnern, -trompeten und -posaunen, schnell und ruppig, fast zornig im Kopfsatz, wahrhaft triumphal dann im Finale mit allen Blechbläsern.
Aber den ganzen Kosmos von Beethovens Musikschaffen vom frühen Opus 2, dem Werk eines 25-Jährigen, bis zur späten Sonate op. 111, enthüllte uns nur Igor Levit, der in acht Konzerten sämtliche Klaviersonaten spielte. Er tat dies nicht in chronologischer Folge, sondern in unterschiedlichen Zusammenstellungen, etwa im Gegenüber „regulärer“ Sonaten mit poetisch freien Sonaten „quasi una fantasia“. Mit enormer Genauigkeit der Artikulation, großer Differenziertheit und immer wieder verblüffender Virtuosität verband Levit Innigkeit mit Raserei, demonstrierte aber ebenso sorgfältig etwa mit rokokohaften Trillern die Ironie eines „Adagio grazioso“. Schließlich bot das Musikfest noch Beispiele einer produktiven Beethoven-Rezeption, so die Anlehnung an den Eroica-Trauermarsch in den „Metamorphosen“ von Richard Strauss (dirigiert von Vladimir Jurowski), im Film „Geistertrio“ von Samuel Beckett (drastisch die tröstende und „aufrichtende“ Wirkung von Musik aufzeigend) oder in dem Auftritt der drei Jazzpianisten David Helbock, Iiro Rantala und Michael Wollny. Diese griffen zwei der bekanntesten Beethoven-Titel auf, „Für Elise“ und „Ode an die Freude“, und zeigten dabei den Weg von der Vereinzelung zum Miteinander. Die „Ode an die Freude“ vereinte als Höhepunkt zum Schluss die drei Musiker an einer einzigen Klaviatur, natürlich alle mit Mundschutz. Den Schiller-Worten „Alle Menschen werden Brüder“ entsprach hier die körperliche Nähe. Eine schöne und hoffnungsvolle Antwort auf Corona.
Roter Teppich für Rebecca Saunders
Das von Winrich Hopp kuratierte Musikfest konfrontierte Beethoven mit zeitgenössischer Musik. Ein roter Teppich wurde der 1967 in London geborenen und inzwischen in Berlin lebenden Komponistin Rebecca Saunders ausgerollt, der Siemens-Preisträgerin des Vorjahres, deren Werke in nicht weniger als sieben Konzerten zu erleben waren. Viele ihrer Stücke entstanden aus enger Zusammenarbeit mit Interpreten, nicht zuletzt mit dem niederländischen Trompeter Marco Blaauw, dem die Komponistin 1998 begegnete. „Cinnabar“, ihr damals geschaffenes Konzert für Violine, Trompete, Ensemble und Spieldosen, wurde jetzt von jungen Musikern der Karajan-Akademie des Berliner Philharmonischen Orchesters aufgeführt. In äußerster Reduktion konzentriert sich dieses Werk auf den Ton e, der immer anders artikuliert und durch Geräusche und sogar Marschrhythmen unterbrochen wird. Die Beschränkung auf einen einzigen Ton, zu der offenbar auch das Werk Samuel Becketts die Komponistin angeregt hatte, sorgte dafür, dass gegen Ende der Eintritt des neuen Tones g besonders stark wirkte. Dieser neue Ton klang auch innerlich noch nach, wenn zum Schluss elf bunt durcheinander tönende Spieldosen unhörbar endeten.
Auch in anderen Werken für Marco Blaauw hat Rebecca Saunders die Klang- und Artikulationsmöglichkeiten der Trompete ausprobiert. Sie dachte dabei oft an Farben, weshalb sie 2016 ein Solostück für Doppeltrichtertrompete „White“ nannte - Weiß als hellste Farbe, aber auch als „cacophony of noise“. Gespielt von Blaauw vernahm man nun Dialoge zwischen beiden offenen und gedämpften Trichtern. Eine Besonderheit waren dabei leise Bewegungen von Obertönen, von der Komponistin als „electronic birds“ bezeichnet, die der Trompeter mit Wind- und Meergeräuschen verglich. In der neuen Komposition „Either or“ wechselten zwei Doppeltrichtertrompeten einander ab. An einem Filmabend im Zoopalast, bei dem auch Beckett-Filme gezeigt wurden, spielte Blaauw live zu dem faszinierenden Streifen „Moving Picture (946-3)“ von Gerhard Richter und Corinna Belz. Zur Raumtiefe des Ein- und Aus-Zoomens in wechselnde Segmente eines farbigen Richter-Bildes passten seine elektronisch verhallten Trompetentöne ausgezeichnet.
Bei ihren Klangerforschungen entwickelte die Komponistin auch eine Vorliebe für das Akkordeon. So begann das erste Programm des Klangforums Wien auf dem dunklen Podium mit dem kaum hörbaren Akkordeonsolo „Flesh“ (2018) und endete in der hell erleuchteten Philharmonie in dynamischer Steigerung nach dem oft lautstarken Ensemblewerk „Scar“ (2019) mit sehr hohen Akkordeon-Tönen. Dazwischen eingelagert war das von Joonas Ahonen uraufgeführte Klavierstück „to an utterance – study“ (2020), das wirkungsvoll Pedalwirkungen bei Glissandi und Clustern erprobte. Christian Dierstein und Dirk Rothbrust boten mit reichhaltigem Instrumentarium zwei neue Stücke für Percussions-Duo, die in Zusammenarbeit mit ihnen entstanden waren. „Void II“ (2015-20), das mit einem einzigen Glockenton begann, erkundete das Gegenüber von Ton und Geräusch. Mit dem Schaben auf Pauken startete das stärker geräuschbezogene „Dust II“ (2017-20), das dann in glockenartige Töne von riesigen Triangeln einmündete; faszinierend, wie hier die Membranen kleiner Trommeln rauschend die durchdringenden Vibrationen großer Klangschalen aufnahmen. So war der ganze Abend eine Schule des Hörens, ein Suchen nach Struktur.
Auch die beiden von Peter Rundel geleiteten Konzerte des Ensemble Musikfabrik boten einen Überblick über das Schaffen der Komponistin, reichend vom „Quartet“ (1998) für Akkordeon, Klarinette, Klavier und Kontrabass, welches Einzeltönen Cluster gegenüberstellte, bis zur Raummusik „Stirrings Still III“ (2006-2019) für sieben in der ganzen Philharmonie verteilte Instrumentalisten. Häufig beginnt Saunders auf einem Einzelton, der sich dann allmählich auffächert. Dies galt auch für „Skin“ (2015/16) für Sopran und 13 Instrumente, wo die Stimme (Juliet Fraser) wie ein Instrument behandelt wurde. Die Orchesterwerke der Komponistin, die eigentlich für dieses Musikfest vorgesehen waren, werden dann im nächsten Jahr folgen.
Aperghis, Jost, Djordjevic
Zusätzlich zu neuen Saunders-Werken oder Neufassungen gab es weitere Uraufführungen. Dazu gehörte „Der Lauf des Lebens“ für sechs Stimmen und Ensemble des inzwischen 75-jährigen Georges Aperghis, gespielt vom Klangforum Wien unter Emilio Pomàrico. Mit diesem Werk, das er als eine große Reise, als Suche nach einem Weg, beschrieb, ist der griechisch-französische Komponist in der Hexenküche von Goethes „Faust“ gelandet. Das Leben und die Welt als absurdes Spiel. Das äußerst abwechslungsreiche Stück, den Musikern des Klangforums und den fabelhaften Neuen Vocalsolisten Stuttgart auf den Leib geschrieben, changierte zwischen Melodram und Klangkomposition. Unter der Leitung von Christoph Eschenbach brachte das Konzerthaus-Orchester Berlin die Uraufführung von „Concerto Noir Redux“, des 2. Violinkonzerts des in Berlin lebenden Christian Jost. Auch als Reaktion auf die unberechenbare Pandemie hatte der Komponist eigenem Bekenntnis zufolge dieses einsätzige Werk, das während des Lockdowns entstand, ohne Plan „auf Sicht gefahren“. Er verwendete nur eine einzige Tempoangabe. Obwohl Eschenbach einheitliche Viertel durchschlug, entstand der Eindruck eines sehr flexiblen Tempos, wobei Ruhepunkte und improvisatorisch freie Partien in die sonst lebhafte Bewegung eingeschoben waren. Christian Tetzlaff war als Solist permanent im Einsatz und setzte die Impulse.
In dem von Enno Poppe geleiteten Konzert der Karajan-Akademie waren zwei neue Stücke der 1984 in Belgrad geborenen Milica Djordjevic zu hören, welche in diesem Jahr den Claudio-Abbado-Kompositionspreis erhielt, verbunden mit dem Kompositionsauftrag. Die Serbin, deren Jugend durch den Krieg geprägt war, hat nach Studien in Strasbourg und Paris ab 2010 ihre Ausbildung bei Hanspeter Kyburz in Berlin fortgesetzt, wo sie seitdem lebt. Ihre beiden neuen Stücke nannte sie „Transfixed“, womit sie die gebannte Fesselung meint, das Festhalten an einem Augenblick. In den beiden Stücken „Transfixed“ und „Transfixed ’ “ stellte Djordjevic zwei Aggregatzustände einander gegenüber: dunkles Grollen, verbunden mit gequetschten Tönen der gestopften Trompete, schnell dirigiert, und hohe, leise Streicherklänge und Flageoletts im langsamen Metrum. Das war noch nicht restlos überzeugend, zeigte aber, wie auch ihre frühere Ensemblekomposition „Rdja“, einen sympathischen Mut zum Experiment und zur Suche nach neuen Klangerlebnissen.
Rihms „Stabat Mater“
Mit Musik von Wolfgang Rihm, dem Lehrer von Rebecca Saunders, klang das Festival aus. Er konnte persönlich nicht anreisen, ließ aber Grüße übermitteln. Rihms Komposition „Jagden und Formen“ in der Fassung von 2008 war bereits vorher mit dem Ensemble Modern zu hören gewesen. Auch ohne die Choreographie von Sasha Waltz erwies sich dieses Stück wieder als eine lohnende Erfahrung. Dem fast permanenten Aktivismus der gezackten Bewegungen in wechselnden Klangfarben standen immer wieder Zäsuren und ruhige Abschnitte gegenüber, so dass trotz der Dauer von fast einer Stunde nie der Eindruck von Beliebigkeit entstand.
Zu diesem klanglichen Reichtum kontrastierte die sparsame Besetzung und Kürze des neuen „Stabat Mater“. Schon in seinem Passionsstück „Deus Passus“, das im Jahr 2000 im Auftrag der Internationalen Bachakademie Stuttgart entstanden war, hatte Rihm einige Strophen dieses alten lateinischen Textes verwendet. Im Auftrag des Musikfests Berlin und der Stiftung Berliner Philharmoniker vertonte er nun den gesamten liturgischen Text, den der Bariton Christian Gerhaher in meist schlichter Melodik intensiv vortrug; einzelne Melismen und die Dynamik boten ihm fast die einzigen Möglichkeiten zur Differenzierung des Ausdrucks.
Die Bratscherin Tabea Zimmermann begleitete ihn durchweg zweistimmig und fügte gelegentlich, vor allem nach dem Tod Jesu, kurze Zwischenspiele ein. Während Pergolesi, Haydn, Schubert, Dvorák, Penderecki und Pärt für ihre Stabat Mater-Kompositionen um die 30 Minuten benötigten, hatte Rihm die 20 Strophen in kaum einer Viertelstunde bewältigt. Der Sänger verließ kaum je das normale Sprechtempo und wechselte nur bei den Schlussworten „paradisi gloriae“ von der Mittellage zur Kopfstimme. Auch die Bratschistin unterstrich hier die Himmelsvision durch Flageoletttöne. Wolfgang Rihms eher spartanische Komposition lebte von der Bühnenpräsenz zweier großartiger Interpreten, denen sich damit der Wunsch eines gemeinsamen Auftritts erfüllte. Für Tabea Zimmermann war es sogar das erste öffentliche Konzert nach einer Zwangspause von sechs Monaten.
Obwohl die zeitgenössischen Werke es schwer hatten, mit dem Erfindungsreichtum Ludwig van Beethovens mitzuhalten, war es insgesamt wieder ein spannendes Musikfest geworden. Den Corona-Beschränkungen zum Trotz kamen 15.000 Besucher zu den 28 Programmen, weit mehr noch nahmen die Streaming-Angebote wahr. Enttäuschend war allerdings der Wegfall der sonst immer lesenswerten Programmhefte. Die wenigen Interviews im Internet stellten keinen Ausgleich für diesen Informationsmangel dar. Dass es trotz der geforderten Flexibilität auch anders geht, zeigten die Kurzprogrammhefte der Philharmoniker; das Rundfunk-Sinfonieorchester bot neben ausführlichen Programmheften sogar mustergültige Online-Konzerteinführungen.