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Worttonmelodie. Die Herausforderung, Wagner zu singen, hrsg. v. Isolde Schmid-Reiter (Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie, Bd. 13), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2020, 304 S., € 29,00, ISBN 978-3-940768-86-5
Worttonmelodie. Die Herausforderung, Wagner zu singen, hrsg. v. Isolde Schmid-Reiter (Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie, Bd. 13), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2020, 304 S., € 29,00, ISBN 978-3-940768-86-5
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Schwindendes Medium eines Klanges

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Die Europäische Musiktheater-Akademie geht dem Phänomen des Wagner-Gesangs auf den Grund
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Schon der Musikkritikerpapst der Wagnerzeit, Eduard Hanslick, sprach von „specifischen Wagner-Sängern“, deren Vorzüge „der declamatorische Vortrag und die eminent dramatische Darstellung“ zu sein hätten. Genau­eres sagte er allerdings nicht. Wagner schwebte eine Anpassung der traditionellen Gesangstechnik an die Ansprüche seiner Musikdramen vor. Wie auch immer die zu bewerkstelligen sei. Jedenfalls entsprachen die meis­ten Sänger seiner Zeit nicht seinen Vorstellungen. Selbst seine Bayreuther „Ring“-Sänger stünden sängerisch auf „zu hohen Kothurnen“.

Der Gesangspädagoge Julius Hey, den Wagner als Lehrer seiner geplanten „Stilbildungsschule“ vorsah, baute in seinem bedeutenden Lehrwerk „Deutscher Gesangs-Unterricht“ (1882–1886) auf Wagnerschen Vorstellungen auf.  Er forderte zur Bewältigung unterschiedlichster Partien des internationalen Repertoires eine profunde gesangstechnische Fundierung von den deutschen Sängern, die „die unerlässlichen Bestandteile des italienischen bel canto“ einbeziehe.

Durchaus im Sinne Wagners zielte Hey konkret auf einen „vaterländischen“ Gesangsstil, der sich durch „höchste Deutlichkeit der Textaussprache, gesteigerte Energie des musikalisch-deklamatorischen Accents“ und durch Verschmelzung von „Wort- und Toncantilene zu melodischer Einheit“ auszeichne. Er nannte das den „deutschen“ oder „vaterländischen Bel Canto“, Begriffe, die er Richard Wagner in den Mund legte. Auch der langjährige Bayreuther Studienleiter Wagners, Carl Kittel, berichtet in seinen Erinnerungen, dass Wagner bei aller Forderung nach sprachlicher Genauigkeit eine „ausgereift-vollendete Gesangskunst“ verlangt habe.

Isolde Schmid-Reiter hat sich im neuesten Band der Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie gemeinsam mit kundigen Autor*innen dem Phänomen des Wagner-Gesangs zugewandt, und zwar „in Grundfragen wie in Details, […] aus wissenschaftlichen Perspektiven wie aus praktischer Erfahrung“. Es geht in diesem Buch um „Wagners Ideen und Ideale im Spannungsverhältnis zwischen Anforderung und Realisierbarkeit, zwischen ‚utopischem Entwurf und seiner Verwirklichung‘“, um die von ihm sogenannte „Worttonmelodie der menschlichen Stimme“, der, wie es in „Oper und Drama“ (Wagners programmatischer Hauptschrift) heißt, „Symbiose von Wortsprache und Tonsprache“.

Wagners Ziel war eine „Verschmelzung von Wort und Ton“, die für ihn als „das höchste dramatische Ausdrucksmittel“ galt. Der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken weist zurecht darauf hin, dass der „absichtsvolle Widerspruch zwischen den zugespitzten technischen Anforderungen und ihrer Realisierbarkeit“ bisher zu wenig erörtert worden sei. Wagner ging es ja in der Konzeption seines „Kunstwerks der Zukunft“ um nichts weniger als um eine Utopie jenseits tradierter Muster des Singens wie der Oper. Singen war für ihn ein Akt der „Grenzüberschreitung“, so Lütteken, was im Zusammenhang mit den Tristan-Proben der Dirigent Hans von Bülow auch als Kunst der „Nüancierung“ bezeichnete, der „Differenz von Gesagtem und Gemeintem“.  Wagner äußert sich dazu ausführlich in seiner Schrift über Schnorr von Carolsfeld, den ersten Tristan-Sänger. Lütteken ist der Meinung: „Die Entgrenzung der Mittel auch im Gesang diente also einzig dazu, der utopischen Verheißung eines Zukünftigen Gestalt zu verleihen.“ Für Lütteken ist das der „zentrale Nerv des ‚Kunstwerks der Zukunft‘“. Das ganze Gegenteil der „unleidlichen Wagnerischen Liebesbrüllerei“ die schon Hugo von Hofmannsthal beklagte. Aber wie singt man Wagner? Wagner zu singen, ist bis heute, und heute mehr denn je eine Herausforderung. Dass sie gemeistert werden kann, bezeugen älteste historische Aufnahmen, bis hin zu jenen aus den 1950er- und 1960er-Jahren Neubayreuths.

Zuständig und charakteristisch für den Wagner-Gesang heute sind vor allem schwere Heldentenöre sowie hochdramatische Soprane und Heldenbaritone. Der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf macht allerdings auf die Fragwürdigkeit solcher Stimmfächer (als Verbindung von Stimmgattung, Stimmtyp und Tradition des Rollenfachs) aufmerksam, wie sie beispielhaft bis heute etwa von Rudolf Kloiber festgelegt wurden, und erinnert daran, dass Wagner den Stimmgattungsbezeichnungen und Rollenfächern skeptisch gegenüberstand. Susanne Vill erläutert konkret, was den Wagner-Sing-Schauspieler ausmacht: „Selbstentäußerung“. Ein zentraler Begriff für den Wagner-Gesang. Der Wagner-Sänger sei „Medium eines Austauschs zwischen physischer und geistiger Welt“. Sie erläutert, was das gesangstechnisch meint: „Im Wagner-Gesang fordert das Ideal der Selbstentäußerung einen eher überpersönlichen Klang. Der Stimmsitz verbindet den Ansatz der Maske mit der Kuppel des Kopfes, und die Stütze nutzt die Kraft des Zwerchfells zusammen mit der Bauchmuskulatur […]. Der Sänger begreift sich als schwindendes Medium eines Klanges, der durch ihn über ihn hinaus tönt.“ Der Mediziner Dirk Mürbe untermauert dies mit der detaillierten Erklärung der organischen und funktionellen Voraussetzungen aus stimmphysiologischer Perspektive. Welche Probleme es mit sich bringt, den Wagnersänger in das große Wagner-Orches­ter zu integrieren, erläutert die Dirigentin Simone Young. Dass es auch mit der Orchesterstimmung zu tun hat, macht Clemens Hellsberg, ehemaliger Vorstand der Wiener Philharmoniker in seinem Beitrag deutlich.

Wagner eröffnete für seine Sänger wahrlich „neue Perspektiven“, so Stephan Mösch. Er „komponierte (vor allem) seine Tenorpartien größtenteils im Irrealis“. Der Sängeragent Germinal Hilbert bringt die utopische Problematik heutiger Wagnersänger anschaulich auf den Punkt. Die hochdramatischen Sopranistinnen hätten „auszusehen wie Audrey Hepburn und zu singen wie Birgit Nilsson. Das „wäre vielleicht das Ideal,“ aber „das gibt es heutzutage nicht“, und er beklagt, dass heute oft vom Szenischen, also der Optik des Sängers her besetzt wird, weil im gegenwärtigen Musiktheater heute meist das Theater größer geschrieben werde als die Musik – wie wahr!

Es ist ein schwieriges opernpraktisches Unterfangen, Wagnerpartien im Spannungsfeld zwischen Sexappeal und Gesangskunst, Stimmkraft und deklamatorischer Kultur angemessen, will sagen szenisch wie musikalisch glaubwürdig zu besetzen. Darauf weist auch Operndirektor und Intendant Dominique Meyer hin. Als Juror verschiedener Gesangswettbewerbe plädiert er angesichts eines (seiner Meinung nach) Mangels geeigneter deutscher Sänger (was er mit der negativen Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Oper in Verbindung bringt) dafür, „das Feuer nicht aussterben zu lassen und diese Lust an der Oper“ weiterzugeben. Letzterem kann man nur zustimmen.

  • Worttonmelodie. Die Herausforderung, Wagner zu singen, hrsg. v. Isolde Schmid-Reiter (Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie, Bd. 13), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2020, 304 S., € 29,00, ISBN 978-3-940768-86-5

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