Hauptbild
Andreas Winkler spielt J.S. Bachs „Allemande“ aus der 2. Suite für Violine solo auf der Artesono Geige. Foto: Barbara Lieberwirth
Andreas Winkler spielt J.S. Bachs „Allemande“ aus der 2. Suite für Violine solo auf der Artesono Geige. Foto: Barbara Lieberwirth
Banner Full-Size

Synthetische Stradivari: die Tiefen tragen die Höhen

Untertitel
Klangarchitekten aus dem Erzgebirge präsentieren ihre Artesono-Geige in den USA
Publikationsdatum
Body

Jährlich am 3. Oktober lädt die Deutsche Botschaft in Washington zwei- bis dreitausend Gäste – vorwiegend amerikanische Geschäftsleute – in ihre Residenz auf den Hügeln am Rande der amerikanischen Hauptstadt, um mit ihnen gemeinsam den „Day of German Unity“ zu feiern. Und jedes Jahr kommt einem anderen Bundesland die Aufgabe zu, dieses opulente Fest auszurichten. Unter dem Motto „Baroque Meets High Tech“ war in diesem Jahr der Freistaat Sachsen an der Reihe.

Neben der Präsentation sächsischen traditionellen Handwerks, von der Stollenbäckerei bis zur Erzgebirgsschnitzerei, sollten High-Tech-Unternehmen und innovative sächsische Erfindungen das Interesse der amerikanischen Besucher wecken, nicht zuletzt mit dem Zweck, Investoren in das ostdeutsche Bundesland zu locken. Sächsische Musiker, die Stücke von der Bach-Suite bis zur Neuen Musik darboten, bildeten den kulturellen Rahmen des Abends in der Residenz. Ganz bewusst wollten die Organisatoren, die Sächsische Staatskanzlei, zeigen, dass der mitteldeutsche Raum nicht nur auf Barock zu reduzieren ist. Deshalb waren neben der Mezzosopranistin Stephanie Atanasov, dem Bariton Christoph Pohl (beide Mitglieder des Semperopernensembles), dem Bläserquintett der Staatskapelle Dresden und einem Jazzquartett auch das Avantgarde-Ensemble Voix Visuelle unter der Leitung von Eckart Bormann auf der Open-Air-Bühne zu erleben.

Steve Reichs dritter Teil aus „Different Trains“ stand da neben der Uraufführung von Hartmut Dorschners „Ohne Gnade“ und Misato Mochizukis „Chimera“. Für die Musiker der beiden Ensembles war ein solcher Event eine eher unbefriedigende Herausforderung. Hatten sie doch ein Publikum vor sich, das den Abend hauptsächlich mit Konversation verbringen und sächsische Kulinarik genießen wollte.

Die Attraktion des Abends war eine Verbindung aus Tradition und Innovation: die Präsentation der High-Tech-Geige von Artesono Meisterstücke. In Washington sollte die Artesono erstmals in der Öffentlichkeit ihre Bewährungsprobe erleben. Die Geige, deren Boden aus Karbonfaser besteht, hatte an diesem Abend dem Vergleich mit der Guarneri del Gesu von 1733 zu bestehen, die Fritz Kreisler einstmals der Library of Congress hinterließ. Der Transport der deklariert wertvollsten amerikanischen Geige von der Library bis zur deutschen Botschaft verlief unter ähnlich scharfen Sicherheitsvorkehrungen wie das Geleit der Ehrengäste Georg Bush senior, Helmut Kohl und Georg Milbradt. Zuerst auf der Guarneri und dann auf der Artesono spielte Andreas Winkler, Geiger der Philharmonie Chemnitz, J.S. Bachs „Allemande“ aus der 2. Suite für Violine solo.

Freilich war das Klangbild beider Instrumente unter Open-Air-Bedingungen schwer zu beurteilen. Ein Kammermusiksaal wäre da angebrachter gewesen. Die Artesono mit ihrem Klangvolumen hatte unter den vorliegenden Bedingungen augenscheinlich weniger zu kämpfen als die selten gespielte Guarneri mit ihrer kräftigen dunklen Klangfarbe. Dem „Wohlklang“ auf den Grund zu gehen, explizit dem Geheimnis der strahlenden Höhen und der tragfähigen Tiefen einer Stradivari, hat sich der sächsische Psychoakustiker und Sounddesigner Friedrich E. Blutner seit über zwanzig Jahren verschrieben. Als gelernter Instrumentenbauer begann er in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Arbeit im damaligen Akustiklabor des „Kombinats Musikinstrumente und Kulturwaren“.

Schon hier befasste er sich mit den Zusammenhängen von Schallsignal und Hörempfindung. Heute führt der Soundforscher, dessen Leidenschaft die Geige ist, fernab des Großstadtlärms im erzgebirgischen Geyer die Geschäfte der Synotec Psychoinformatik GmbH. Blutner weiß, dass der Geigenbau, der seine Vollkommenheit im italienischen Cremona des 17. und 18. Jahrhunderts durch Antonio Stradivari (1644–1737) und Giuseppe Antonio Guarneri (1698–1744) erlangte, Entwicklungsschüben ausgesetzt und eng mit der Musikgeschichte verbunden ist. Ihr Klang entwickelt sich parallel zu den jeweiligen Kompositionsstilen und den entsprechenden Höransprüchen des Publikums. Bestes Beispiel für die Entwicklung des Orchesterklangs, der maßgeblich vom Klang der Geige bestimmt wird, ist die Veränderung der Stimmung vom barocken Orchester (Kammerton a mit 415 Hz) zum heutigen modernen Sinfonieorchester (440–443 Hz).

Stradivari baute in seiner Cremoneser Werkstatt etwa 1.100 Streichinstrumente sowie Gitarren. Heute gibt es davon weltweit noch etwa 650 Instrumente, die meisten von ihnen fristen ihr Dasein als Wertanlage in den Tresoren ihrer Besitzer, nur noch wenige werden von virtuosen Solistinnen und Solisten gespielt. Der Wunsch eines jeden Geigers ist es, ein Instrument zu besitzen, das dem Klangideal entspricht. Deshalb versuchten im Laufe der Geschichte unzählige Geigenbauer, das Geheimnis der Stradivari zu lüften und die Königin der Streichinstrumente nachzubauen. Besonders im 19. Jahrhundert wurde der Markt von Kopien überschwemmt. Doch erst heute, im Zeitalter von Informatik und modernster Messtechnik, konnte es gelingen, Instrumente zu entwickeln, die sich den brillanten Höhen und tragenden Tiefen der Stradivari annähern.

Allein in Deutschland sind zwei Geigenbauer dafür bekannt, das akustische Verhalten der Stradivari zu erforschen und mit ihren Instrumenten nachzuempfinden. Der Münchner Geigenbauer und Physiker Martin Schleske hat Computerprogramme zur Schwingungsanalyse entwickelt und fand damit heraus, dass asymmetrische Abweichungen in der Materialstärke der Stradivari ihren unübertroffenen Klang ausmachen.

In Bonn hingegen fanden der Geigenbauer Peter Greiner und der Physiker Heinrich Dünnwald durch Klanganalyse die Verbindung der „alten Italiener“ zur menschlichen Stimme heraus. Dünnwald weiß, dass allein das Anbringen einer geringfügigen Masse an einen bestimmten Platz der Violine deren Klang in Richtung Stradivari verändern kann.

Andere Ansätze, den Wohlklang zu finden, sucht Friedrich E. Blutner. Mit Hilfe psychoakustischer Tests führte er Hörversuche mit Musikexperten und Laien durch. So zum Beispiel in Wien, Paris, Stuttgart, in der Dresdner Semperoper oder mit Studenten der Internationalen Hochschule für Geigenbau in Cremona. Ziel dieser Feldversuche war es, akustische Wahrnehmungen seiner Probanden, die subjektive Geschmacksurteile abgaben, und objektive physikalische Schallereignisse zusammenzubringen und auszuwerten. In einem der unzähligen Versuche wurde 304 Probanden der Anfang des ersten Satzes von Tschaikowskys Violinkonzert Nr. 1 über elektrostatische Kopfhörer zugespielt. Zum einen auf der Stradivari Wilhelmi von 1725 und zum anderen auf der Artesono von 2005. Spielerin war die Violinvirtuosin Baiba Skride. Die Probanden hatten auf einer Skala von 0 bis 10 dunkle bis helle Klänge mit den Kriterien schlecht bis gut zu beurteilen.

Die Ergebnisse wurden direkt in einen Rechner eingespeist und dem Zahlengewirr wurden Farbenspektren zugeordnet: von blau für schlecht bis rot für gut. In einem Diagramm, dem multisensuellen Mapping, ergibt sich so eine übersichtliche Struktur mit einzelnen Farbinseln, den so genannten synoptischen Feldern. Sie geben Aufschluss über das Urteil der Probanden. Erstaunlich an diesem Versuch ist, dass das synoptische Feld der Artesono-Geige viel geschlossener als das der Stradivari erscheint. Das bestätigt die jahrelange Forschung der Sounddesigner, mit der Artesono-Geige konnte ein Instrument gebaut werden, das sowohl der Tradition des alten italienischen Geigenbaus als auch den heutigen Ansprüchen eines modernen Instrumentes entspricht. Die Artesono wurde auf der Grundlage langjähriger Forschung entworfen und parallel dazu wurde Arconit, ein Verbundstoff aus Glas- und Kohlefaser mit hervorragenden akustischen Eigenschaften, entwickelt. Im Verbund mit ausgesuchten italienischen Klanghölzern ergibt sich so ein Klang, den seine Väter den „Wohlklang“ nennen.

Finanziert wurde das Forschungsprojekt von der GK Software AG im vogtländischen Schöneck, die eigentlich mit der Entwicklung von Software für Großhandelsketten ihr Geld verdient. Deren Vorstandsvorsitzender Rainer Gläß, der am Anfang seiner Karriere selbst zum Forschungsteam Blutners gehörte und die gleiche Leidenschaft für die Geige mitbringt, unterstützte die Forschung seines Freundes und ehemaligen Lehrers nach eigenen Angaben mit mehreren Millionen Euro. Die von Gläß gegründete Firma Artesono Meisterstücke verfolgt nicht das Ziel, Massenware herzustellen wie etwa japanische oder amerikanische Karbon-Geigenwerkstätten. Seine Artesono-Geige soll ein Instrument für Solisten sein, die nicht die Chance haben, mit einer Stradivari oder Guarneri gesponsert zu werden. Einen Preis von etwa 30.000 Euro für sein Instrument hält Gläß durchaus für angemessen.

Die Zukunft des Geigenbaus ist angebrochen. Im sächsischen Musikwinkel soll mit Hilfe eines durch die TU Chemnitz entwickelten Vermarktungssystems ein Verbundnetz kleiner und mittelständischer Unternehmen der Musikinstrumentenbranche, das „Musicon Valley“, entstehen. Wie ein solcher Verbund funktionieren kann, haben Friedrich Blutner und Rainer Gläß vorgegeben. Dass die Klangforscher von Synotec und der Unternehmer von GK Software den Unmut der traditionellen Geigenbauer besonders im Musikwinkel hervorrufen, ist vorprogrammiert.

Für sie bedeutet die Artesono Geige nicht nur Konkurrenz, sondern auch kulturellen Umbruch. Ein gewisses Verständnis für den Fortschritt müsste hier noch entwickelt werden. Die Artesono- Geige bedeutet nicht das Ende des gediegenen Geigenbaus, aber unter den Bedingungen des heutigen Konzertlebens wird sie eine Alternative sein.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!