Der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Herzen des klassischen Weimar war eine Katastrophe für das deutsche Bibliothekswesen, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg keine vergleichbare gegeben hatte. Nun ist das historische Palais, in dem die ältesten und wertvollsten Bücher untergebracht waren, in erstaunlich kurzer Zeit mit neuem Glanz und alten Farben wiedererstanden. Auch ein Teil der Buchbände ist, sofern bereits restauriert, an den Platz der Demokratie zurückgekehrt. Flankiert von Hellmut Seemann, dem Kopf der Klassik Stiftung Weimar, und Bibliotheks-Chef Michael Knoche nutzte Bundespräsident Horst Köhler die Gelegenheit zu grundsätzlicheren Ausführungen über Buch- und Bildungswesen sowie Erinnerungskultur.
Zu den Schätzen Weimars gehören neben Immobilien mit proper restaurierten historischen Gebäuden, alten und neueren Büchern oder Gemälden und anderen Stücken des Andenkens auch Musik und Musikalien. Nicht nur Franz Liszt war hier als Kapellmeister tätig, sondern bereits der junge Johann Sebastian Bach. Doch von dessen Epoche ist unmittelbar nichts mehr erhalten. 1774 vernichtete ein Großfeuer die mitten in der Stadt gelegene Wilhelmsburg mitsamt den Räumen des Orchesters und des Theaters.
Damals wurde allerdings die bereits in das etwas höher gelegene Palais ausgelagerte Bibliothek verschont. Der Schlossbrand beendete auch die höchst produktive Tätigkeit der Seylerschen Theater-Truppe in Weimar, die zwei Jahre zuvor an Anna Amalias „Musenhof“ sesshaft geworden war. Der Prinzipal Abel Seyler kam von Lessings Hamburger Nationaltheater und avancierte nicht nur zum großen Vorkämpfer von Shakespeares Werk in Deutschland, sondern arbeitete auch mit dem Shakespeare-Übersetzer Christoph Martin Wieland zusammen, der sich als Lehrer der Weimarer Prinzen vom Dichter des Sturm und Drang und vom französisch inspirierten Rokoko zum ersten deutschen „Klassiker“ mauserte.
Seylers Kapellmeister und Hauskomponist war Anton Schweitzer (1735–1787), auch ein Mann mit Sturm- und Drang-Biografie. Er diente zunächst, ganz nach der Regel der Zeit, als Hofmusicus in Hildburghausen. Nach ausgiebigem Italien-Aufenthalt stieß Schweitzer dann zur Seylerschen Gesellschaft. Für sie schrieb er mehrere Opern, darunter „Aurora“, „Die Wahl des Herkules“ und „Alceste“ nach Wieland-Texten. Eines dieser Weimarer Kleinodien wurde, betreut von Jan Philipp Reemtsma, zur Wiedereröffnung der Bibliothek aus der Versenkung geholt: „Alceste“ von 1773 – jenes Singspiel, das lange als Modell einer „deutschen Oper“ gefeiert wurde und auch bei Gluck und Mozart Spuren hinterließ. Ein auf der Tragikomödie von Euripides und einem Libretto von Pietro Metastasio basierendes „unmögliches“ Stück: Eine Frau opfert sich den Göttern, damit ihr todkranker Ehemann überlebt – doch selbst in der verbürgerlichten Version Wielands bedarf es fortdauernd eines göttlichen Helfers, damit auch sie am Ende gerettet wird. Den großen, erst nach Jahrzehnten abebbenden Erfolg verdankte das von Aufopferung triefende Singspiel der Art, wie es von zwei der fundamentellen Menschenprobleme handelte, auf denkwürdig unmittelbare Weise Liebe und Tod verknüpfte.
Frisch und munter, manchmal ein wenig forciert, dirigierte Michael Hof-stetter im Weimarer Schloss aus neu ediertem Notenmaterial die „Alceste“. Mit Simone Schneider in der Titelrolle und der hinreißenden Cyndia Sieden als Prinzessin Partenia sowie dem kernigen Tenor Christoph Genz und Josef Wagner als leicht alternativ daherkommendem Helden Herkules stand ihm ein leistungsfähiges Solisten-Quartett zu Verfügung. Insbesondere die Parte-nia-Partie mit ihren Koloraturen und Kadenzen, dem Wechsel der Gefühlslagen und Intonationen sind geeignet, dem Werk neue Aufmerksamkeit zuwachsen zu lassen. Unter sechs klassizistischen Säulen im Doppelsaal des Weimarer Schlosses, in dem einst die Verfassung für die zweite deutsche Republik ausgearbeitet wurde, zeigte sich, unaufwändig inszeniert, die einst so anrührende Geschichte von der schier übermäßigen Gattenliebe und das hilfreiche Eingreifen des göttlich bevollmächtigten Herakles. Am Ende kommt die eigentlich tote Alceste, deren neues Leben der Superheld seinem Vater Zeus abschwatzt, mit Kopftuch und Sonnenbrille daher – wie Maria Callas in fortgeschrittenem Alter.
Mit drei in einen Vogelbauer gesperrten Tauben, den heiligen Vögeln der Aphrodite, sorgte Hendrik Müller ebenso für etwas mythologische Unterfütterung wie mit den Raubkatzenfellen, die Herkules aus seinem Reisesack holt. Der herbeitapernde stumme Diener befeuert ihn mit Cognac wie er König Admet mit Hochprozentigem tröstet – doch zum Rauchen kommt Herkules am Ende nicht mehr (verhält sich also gesundheitspolitisch korrekt). Ein Feuilletonist bezog im Überschwang neuweimarer Restaurationsgefühle die Rettungstat des „Göttersohns mit den Attributen des modernen Prekariats“ unmittelbar auf die neueste Geschichte der Bibliothek; doch diese Allegorie ignoriert die entscheidende Differenz zwischen einer mythischen Freundschaftstat und der von bürgerschaftlichem Engagement flankierten Wahrnehmung kultureller Verpflichtungen aus dem geistigen Erbe in einem wohlhabenden demokratischen Staat.
Mit „Alceste“ kam in Weimars Schloss ein Werk zu Gehör, das souverän über alle italienischen Opernkünste des mittleren 18. Jahrhunderts verfügt. In manchem – angefangen vom gründlich fugierten Allegro der Ouvertüre – scheint es noch barocker Satz- und Affektenlehre verpflichtet. Andererseits ist die Partitur aber mit so manchen jener damals neuen Errungenschaften der „Empfindsamkeit“ sowie des Sturm und Drang durchschossen: Anton Schweitzer kannte offensichtlich das damals Neueste von Carl Philipp Emanuel Bach. Es gelangen ihm anmutige Synthesen und überraschende Kontraste. Ins Repertoire wird es diese „Alceste“ wohl nicht schaffen, aber als Delikatesse die Runde machen und als CD gewiss einigen Erfolg haben. In Weimar funkelte sie als Solipsistin.