Neue Platten von und mit: Enno Poppe, Stefan Hussong, Klarenz Barlow, Maximilian Marcoll, Nicola L. Hein, Joshua Witzel, Deutsche Gesellschaft für elektroakustische Musik, Gerald Fiebig, Elena Mendoza, Magnus Lindberg, Martin Smolka, Julia Mihály.
Als Komponist und Dirigent in Personalunion ist momentan kaum jemand in der Neuen Musik-Szene so präsent wie Enno Poppe. Hier dirigiert er auch schmaler besetzte Ensemblestücke selbst; ein Indiz für die strukturelle Vertracktheit seiner Musik, die es dem Hörer alles andere als leicht macht. Aber warum sollte sie auch. Aufmerksamkeit schärfen ist eine der wesentlichen Intentionen Poppes und sie wird realisiert in Partituren, die akribische Konstruktionen mit dem Moment impulsiver Systembrechung verbinden. Was da manchmal spröde um die Ecke kommt, endet nicht selten im Tumult. In „Fell“ für Drumset (2016) entwickelt Dirk Rothbrust ein Schlagzeug-Solo, das in ständiger Verschiebung der Akzente und Metren geloopter Kleinstbausteine geradezu ungelenk erscheint. Das steigert sich am Ende aber in einen Rausch hinein, als säße da Ginger Baker auf dem Hocker. Mikrotonale Klanggebungen sind für Poppe ebenso charakteristisch wie schräge Melodie-Fragmente, die überraschend ins komplexe Strukturgefüge geworfen werden. Das wird in „Brot“ für fünf Spieler (2007/13), instrumentaler Satellit der Oper „Arbeit Nahrung Wohnung“, ausgereizt in so manch schmutziger Jazz-Allusion. Eine ausgefeilte Mikro-Harmonik bewegt „Zug“ für sieben Blechbläser (2008), in dessen wechselnden harmonischen Perspektiven Spurenelemente von Big Band und Posaunenchor gleichermaßen durchschimmern. (Wergo)
Längst ist das Akkordeon seiner volksmusikalischen Enklave entflohen und zu einem der auffälligsten Instrumente zeitgenössischer Komposition geworden. Einer der Pioniere dieser Entwicklung ist Stefan Hussong, der in „Imaginary Landscape“ alle Register eines avancierten Akkordeon-Spiels zieht: als mitteilungsfreudiger Dialog mit Perkussion (Rumi Ogawa) in „Metal Works“ (1984) von Magnus Lindberg oder experimenteller in Elena Mendozas „Découpé“ (2017), das sich analog zur dadaistischen Schreibtechnik auf sprunghafte Gestik und Mittel der Collage beruft. Ein minimalistisches Vexierspiel mit melodischen Konturen und irisierenden Harmoniefeldern treibt Martin Smolka in „Lamento metodico“ (2006), dessen Akkordbildungen ausgesucht „weich und traurig“ daherkommen. Eine zeitgemäße Akkordeon-Anthologie wäre nicht vollständig ohne Praktiken der Mikrotonalität: Die „Refracted Tones“ (2016) von David Eagle knüpfen ein vibrierendes Klanggewebe, das dank Viertelton-Freebass-Akkordeon mit vierundzwanzig gleichtemperierten Tönen ganz neuartige Intervallkombinationen erlaubt. (Thorofon)
Eine besonders reichhaltige Jahres-Gabe platziert die Deutsche Gesellschaft für elektroakustische Musik ins pandemische Vakuum, diesmal kuratiert von Stefan Fricke. Als wäre das eine Trotzreaktion auf allen Unbill des Jahres 2020 und so ist DEGEM 18 auch betitelt: 2020. Das sagt alles. Eine indirekte und manchmal auch direkte Verarbeitung der gewaltigen Realitätsverschiebungen, von denen die musikalischen Zünfte bekanntlich besonders betroffen sind. 15 Komponist*innen haben Stücke beigesteuert, die nur selten im Modus kompletter Abstraktion verbleiben und stattdessen virale, ökologische und damit gesellschaftliche Probleme der Gegenwart dystopisch reflektieren. Auch das Beethoven-Jahr bleibt da nicht ungeschoren: Klarenz Barlow hat in „Coronialus“ die ersten beiden Akkorde aus Beethovens „Coriolan-Ouvertüre“ von sechs Sekunden auf beeindruckende sechs Minuten gewalzt, wozu er sich Strukturen im Genom des Virus bediente, während „KlangSpann 02_20“ von Johannes S. Sistermanns Virologen ebenso zu Wort kommen lässt wie die Schritte von Geflüchteten. Atmosphärisch dichte Transformationen politischer Vorgänge finden sich auch im elektroakustischen Glitch der „Chords of Shame“ von Gerald Fiebig (mit Blick auf den Thüringer Kemmerich-Vorfall) oder Julia Mihálys „Terminal X“ (Ausschnitt), das sich der Protestkultur widmet, die den Ausbau des Frankfurter Flughafens seit langem flankiert. Andere Ausgangsstoffe elektronischer De- oder Transformation sind popkultureller Herkunft: Mit Lady Gagas „Beautiful, Dirty, Rich“ hatte Maximilian Marcoll erstmals einen Pop-Song für seine splitterhaften Lautsprecherumwandlungsprozesse namens „Amproprifications“ auserkoren („Our Daily Bread I“). Besonders interessant wird es in „2020“ auch dann, wenn veränderte Kommunikationsbedingungen selbst zu Klang werden: Nicola L. Hein und Joshua Witzel haben mit „Fireworkload Homeoffice – A Trans-Atlantic Re-Composition“ Feldaufnahmen aus dem öffentlichen und privaten Lockdown-Raum zu einer vielschichtigen Melange geschichtet, die die Abwesenheit analoger Begegnung thematisiert. (Edition DEGEM).