Er war halb Mensch, halb Mythos – so formulierte es der Produzent Ross Russell. Charlie „Bird“ Parker (1920–1955), das große Idol der Bebop-Anhänger, revolutionierte das Saxophonspiel und schuf die Grundlagen des modernen Jazz. Als Virtuose schien er unübertrefflich – doch sein übriges Leben hatte er nicht im Griff. Parker lebte zynisch und defätistisch, war drogensüchtig und notorisch unpünktlich. Bei seinen Aufnahmesessions kollidierten Genie und Chaos.
Er war gerade 24 geworden, als er zum ersten Mal an der Studiosession einer Smallband teilnehmen durfte. Der Bandleader hieß Tiny Grimes – ein Swinggitarrist, der sich diesmal auch als Sänger versuchte. Parker war der einzige Bläser im Quintett und hatte auf dem Altsax ein paar Füllsel zu improvisieren – ansonsten bot die Band dem ungeübten Sänger Grimes wenig klanglichen Rückhalt. Mehr als zwei Stunden Studiozeit gingen drauf, um zwei kurze Vokalnummern einzuspielen. Danach waren Grimes’ Stimmbänder erschöpft. Als von den drei Stunden Studiozeit nur noch 20 Minuten übrig waren, brachte Parker ein eigenes Stück ein, „Red Cross“, eines von vielen, die er über die Akkordfolgen von Gershwins „I Got Rhythm“ schreiben sollte. Praktisch zum ersten Mal hört man hier den wichtigsten Solisten des Bebop in „seinem“ Metier und mit eigenem Stück. Was lernte Parker von dieser Session? Im Aufnahmestudio geht manches schief und wird viel Zeit verschwendet. Andererseits entstehen Meisterwerke in wenigen Minuten. Das schien zum Muster zu werden für seine Studiokarriere.
14 Monate und einige Sideman-Sessions später, am 26. November 1945, kommt Parker zu seinem ersten Studiodate als Bandleader. Am Klavier soll Thelonious Monk sitzen – doch der taucht gar nicht erst auf. Den Trompetenpart soll Dizzy Gillespie spielen – doch der hat gerade einen Exklusivvertrag mit einem anderen Label unterschrieben. Nur incognito wirkt Gillespie mit, vor allem als Aushilfspianist für Monk. Die Trompete spielt dafür ein 19-jähriger Juilliard-Student namens Miles Davis, der sich allerdings weigert, bei schnellen Tempi mitzumachen – er will sich nicht blamieren. Also muss Ersatzpianist Gillespie doch auch kurz zur Trompete greifen, weshalb man aus einem nahen Café einen weiteren Klavierspieler herbeiholt.
Nur die Ruhe
Während Gillespie bläst, hält Miles auf dem Studio-Fußboden ein Nickerchen. Parker wiederum, der Bandleader, hat angeblich Probleme mit seinem Saxophonblättchen. Man schickt zum Musikalienladen, während Parker mit seinem Dealer auf der Toilette verschwindet und danach erst einmal ausruhen muss. In der Zwischenzeit machen es sich Musikerkollegen, Kleinkriminelle und Jazzfans im Studio bequem – es geht zu „wie auf einem Busbahnhof“ (Ross Russell). Der Verantwortliche vom Label ist überfordert, die Gewerkschaftsvorgaben werden ignoriert, das Chaos blüht. Später wird diese Veranstaltung als „die größte Aufnahmesession in der Geschichte des modernen Jazz“ beworben werden.
Tatsächlich entstehen in diesem heillosen Durcheinander ein paar unsterbliche Klassiker des Bebop. Im abstrakt gebauten, horrend schnellen Stück „Ko Ko“ setzen Parker und Gillespie spieltechnische Höchstmarken für die Ewigkeit. Den Sterblichen näher sind die beiden mittelschnellen Blues. „Billie’s Bounce“ ist ein geradezu idealtypisches Parker-Thema mit asymmetrisch phrasierter Bebop-Melodie. „Now’s The Time“ ist schlichter gehalten, hat aber Hit-Qualitäten, und Miles Davis übt hier schon mal das Cool-Spiel. Parker (er hat ja nie Geld) verkauft das Copyright an „Now’s The Time“ an Ort und Stelle ans Label, das das Stück ein paar Jahre später als Rhythm ’n’ Blues-Song vermarkten wird („The Hucklebuck“). Der Kritiker des „Downbeat“ ahnt davon noch nichts: Er wird die Parker-Aufnahme mit exakt null Sternen bewerten.
In Kalifornien
Ein paar Wochen später reisten Parker und Gillespie an die Westküste, um auch den Kaliforniern die frohe Botschaft des Bebop zu bringen. Parker unterschrieb einen weiteren Plattenvertrag (er hatte ja nie Geld) und freute sich auf ein Studiodate zusammen mit seinem großen Idol Lester Young – der allerdings erschien nicht zur Studioprobe am Vortag. Stattdessen kamen jede Menge unbeteiligter Musiker und Fans mit ihren Mädchen – der Park vor dem Studio lud zu Picknick, Drogen und anderem. Im Studio selbst herrschte „monumentale Konfusion“ (Ross Russell), aber immerhin entstand eine kurze Testaufnahme. Zur eigentlichen Studiosession am nächsten Tag tauchte auch Parker nicht mehr auf. Den Rückflug nach New York ließ er ebenfalls sausen – sein Ticket hatte er verkauft (er hatte ja nie Geld).
Für seine Aufnahmen an der Westküste holt Parker wieder den jungen Miles Davis als Trompeter. Der allerdings hat Probleme mit dem Erlernen neuer Stücke und verdirbt beim ersten Date etliche Takes. Bei der folgenden Studiosession springt daher Howard McGhee ein. Um das Aufnahmedatum (29. Juli 1946) wird ein großes Geheimnis gemacht, um Studiotouristen fernzuhalten. Parker jedoch hat nichts vorbereitet und sitzt im Aufnahmeraum die meiste Zeit nur apathisch auf seinem Stuhl herum. Die Einnahmen für die Westküsten-Sessions hatte er inzwischen zur Hälfte an seinen kalifornischen Dealer überschrieben (er hatte ja nie Geld), aber die Connection funktioniert nicht perfekt. Parkers Finger sind schwer, seine Augen glasig. Ein anwesender Psychiater tippt auf Alkoholsucht und Unterernährung und verpasst Parker gleich vor Ort eine kräftige Dosis Phenobarbital – eigentlich ein Beruhigungsmittel.
Der Trompeter McGhee übernimmt notgedrungen die Leitung. Parkers Spiel ist unsicher und leblos, er wackelt vor dem Mikrofon herum und verpatzt die Einsätze. Als das Phenobarbital zu wirken beginnt, entsteht eine Version der Ballade „Lover Man“, die wegen ihrer albtraumhaften, unkontrollierten Zerrissenheit berühmt werden wird. Parker dagegen wird diesen Tag und diese Aufnahme verfluchen. Als man ihn endlich im Taxi in sein Hotel zurückschickt, geht der Albtraum erst richtig los. Mehrmals erscheint er an diesem Abend nackt in der Hotellobby, weil er telefonieren will. Als er auch noch das Hotelbett in Brand steckt, kommen Feuerwehr und Polizei. Parker wird festgenommen und landet in der Psychiatrie des Bezirksgefängnisses. Erst sechs Monate später wird er wieder entlassen – offenbar erholt und gesund kommt er aus der Entzugsklinik in Camarillo.
Im Februar 1947 war Parker immer noch in Kalifornien. Bei der nächsten Aufnahmesession wollte er einen jungen Sänger vorstellen – es wiederholte sich die Erfahrung seines Studiodebüts mit Tiny Grimes. Die Vokalaufnahmen verschlangen viel Zeit, und nach etlichen Takes für zwei Stücke war der Sänger erschöpft. In den 30 Minuten Restzeit zauberte Parker dann zwei großartige Instrumentals – „Bird’s Nest“ (über „I Got Rhythm“) und den „Cool Blues“. Eine Woche später ging es wieder ins Studio, diesmal ohne Sänger. Parker hatte dafür ein neues Stück geschrieben, er nannte es „Relaxin’ At Camarillo“. Weil die Noten nicht zu entziffern waren, spielte er dieses beboppig verzinkte Blues-Thema bei der Probe so lange auf dem Saxophon vor, bis die Mitmusiker es beherrschten. Doch zur Aufnahmesession am nächsten Tag erschien Parker nicht. Man fand ihn schließlich schlafend – angezogen in der leeren Badewanne liegend. Er war völlig erschöpft und wurde mit großen Mengen Kaffee wachgepäppelt. Die Session begann mit zwei Stunden Verspätung. Außer dem neuen Stück hatte Parker nichts vorbereitet.
Zurück in New York
Nach dem Drogenentzug in Camarillo schien Parker monatelang in blendender Form zu sein. Von Mai bis Dezember 1947 entstanden in New Yorker Studios mehr als 20 bleibende Dokumente des Bebop, darunter prägende Bebop-Themen wie „Chasing The Bird“, „Cheryl“, „Dexterity“, „Dewey Square“, „Klact-oveeseds-tene“, „Quasimodo“, „Crazeology“, „Drifting On A Reed“, „Charlie’s Wig“ oder „Bongo Beep“. Auch Stücke von Miles Davis wurden aufgenommen, darunter „Donna Lee“, „Milestones“ und „Little Willie Leaps“. Bis zum Herbst 1947 hatte Parker so viel Studioroutine gewonnen, dass er sechs Mastertakes in weniger als drei Stunden zu Wege brachte. Allerdings hatte er auch mit dem Heroinkonsum längst wieder angefangen. Die Studiosessions begannen meistens damit, dass er den Produzenten anpumpte (er hatte ja nie Geld). Der Dealer wartete da schon in der Toilette oder vor der Studiotür. Ohne Schuss ging Parker nicht vor’s Mikrofon.
Es folgen die Jahre mit Charlie Parkers größten Erfolgen. Er ist bei einem großen Label unter Vertrag, macht Aufnahmen, sogar mit einer Streichergruppe der New Yorker Philharmoniker, und tritt mit ihr viele Male live auf. Er gastiert in Europa und wird in Frankreich, Schweden, Belgien, Deutschland enthusiastisch gefeiert. Der größte und eleganteste Jazzclub von New York wird nach ihm benannt – das „Birdland“. Doch zur gleichen Zeit gerät sein Leben immer mehr aus den Fugen. Seine zunehmenden gesundheitlichen Probleme durch Heroin- und Alkoholkonsum „behandelt“ Parker mit noch mehr Heroin und Alkohol. Miles Davis hat schon Ende 1948 genug davon und verlässt das Quintett: „Es war nur noch peinlich.“ 1951 verliert Parker seine Auftrittserlaubnis für New York. 1952 löst er sein Quintett auf, nachdem sein letzter Trompeter – Red Rodney – wegen Drogenbesitzes verhaftet wurde.
Am 30. Januar 1953 war Parker Sideman bei einer Studiosession von Miles Davis. Da er vertraglich anderswo gebunden war, erschien er unter dem Pseudonym „Charlie Chan“ und spielte ausnahmsweise Tenorsaxophon, wodurch seine Improvisationen etwas an Dynamik und Farbe verloren. Er versuchte zu dieser Zeit einen Heroinentzug mittels großer Mengen Alkohol. Schon beim Warmspielen für die Session soll er „mehr als einen Liter Wodka“ (Miles Davis) getrunken haben – das Albumcover „Collector’s Items“ zeigte dann passenderweise eine Sammlung leerer Spirituosenflaschen. Es kam zu einer Auseinandersetzung mit Davis, weil sich Parker im Studio als Chef aufspielte – dann wieder schlief er mitten in der Session ein. Als sich Davis später mit dem Produzenten Ira Gitler stritt, soll Parker aber die Situation gerettet haben. Gitler machte von diesem Tag an jedoch einen großen Bogen um Charlie Parker.