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Woodblock und Sportfelge: der Schlagzeuger Donald Manuel bei Rupert Hubers geistlicher Musikinstallation „Eliá“ in der Stuttgarter Kirche St. Georg. Foto: Susanne van Loon
Woodblock und Sportfelge: der Schlagzeuger Donald Manuel bei Rupert Hubers geistlicher Musikinstallation „Eliá“ in der Stuttgarter Kirche St. Georg. Foto: Susanne van Loon
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Von der Stille in die Stille

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Das Neue-Musik-Festival „Der Sommer in Stuttgart“
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Ein Kamel, das einen Leichenwagen zieht; eine illustre Trauergemeinde, die dem grotesken Gefährt in Zeitlupe hüpfend folgt, das sich dann ohne Kamel selbstständig macht und über Stock und Stein davonrast: Diese fröhlich-surreale Sequenz entstammte René Clairs 20-Minuten-Stummfilm „Entr’acte“ von 1924, mit dem das Ensemble Ascolta das recht gut besuchte Neue-Musik-Festival „Der Sommer in Stuttgart“ im dortigen Thea­terhaus eröffnete.

Entr’acte“ war an diesem Abend zu sehen und zu hören mit einer neueren Filmmusik von Martin Smolka, die zunächst nur feine Akzente setzt, dann immer wilder und effektvoll die turbulente Reise des bizarren Fahrzeugs illustriert. Am Ende erklang Erik Saties originale, von Andrew Digby neu arrangierte Musik, diesmal ohne die Bilder: Satie übersetzte die Bewegungsabläufe des Films in gleichmäßige, mal schneller, mal langsamer fließende Gesten. Der Film lief nunmehr im Kopf ab. Eine schöne Hommage an den exaltierten Experimentalisten, dessen Geburtstag sich 2016 zum 150. Mal jährte. Weshalb Ascolta auch noch Saties Ballett-Musik „Parade“ von 1917 zum Besten gab, garniert von einer „Visual Performance“ von Li Luran, die am Overheadprojektor allerlei kuriose Bilder aus Papierschiffchen und Fischchen zusammenpuzzelte.

Ein musikalisch vitaler, frischer und witziger Einstieg – und in einigen Dingen vielem Neuen, das dann am folgenden Wochenende im Stuttgarter Theaterhaus erklang, haushoch überlegen. Hier beobachtete man einen deutlichen Hang zum Meditativen. Es scheint auch gerade Mode zu sein, seine Stücke sehr leise beginnen und sehr leise verdämmern zu lassen. So etwa das einstündige „UM“ von Zad Moultaka, in dem der libanesische Komponist die Gebetsgesänge tibetischer Mönche mit Motorgeräuschen eines Ferraris kreuzte. Es beginnt mit rhythmischem Flüstern und Singen der Neuen Vocalsolisten, das sich verdichtet und mit martialisch-monotonen Blechbläser-, zarteren Streicher-Klängen und Perkussivem kontrastiert wird. Es folgt strukturiertes Chaos und seine Auflösung. Dann – nach elektronischer Aufforstung und Verfremdung – mündet alles in geisterhaftes Elektro-Säuseln, das in einem schier endlos scheinenden Fade­out langsam entschwindet und einen mit seinen Gedanken alleine lässt. Viel Aufwand, wenig Substanz.

Ähnliches gilt für „Eliá“, aufgeführt in der Stuttgarter Kirche St. Georg. Der Komponist Rupert Huber nannte das abendfüllende Stück „Musikalische Installation“ zum Thema Ölbaum. In der Tat ist „Eliá“ keine akribisch notierte Komposition, sondern eher eine mehr oder weniger genaue Anleitung zur Improvisation. Auch wieder sehr leise beginnen die Streicher des Stuttgarter Kammerorchesters, das im Halbkreis ums Auditorium aufgestellt ist und einen nervösen Klangteppich mit eingebautem expressivem Violinsolo produziert. Später improvisierte die Sängerin Maria de Alvear über das wirre Streichergeflecht – von spanischer Folklore befeuert. Performativ auch die Soloeinlage des Perkussionisten Donald Manuel, der zum Klang von Trommeln und Autofelgen den Text eines spanischen Volksliedes zu murmeln hatte. Und schön die modulierenden Klänge, die die Neuen Vocalsolisten beisteuerten, bevor alles ins große Schluss-Impro-Gewusel ging, in dem das etwas unsicher wirkende Streichorchester skurrile Kugelgrafiken statt Noten umzusetzen hat. Aus der Ruhe in die Ruhe, scheint das Motto von „Eliá“ zu sein.

Das gilt auch für die Uraufführung von Samir Odeh-Tamimis „Polígonos“, in dem sich der bewundernswert vielseitige Tastenspezialist Christoph Grund in den Dienst eines Flügels mit zugeschalteter Elektronik stellte. Immerhin beginnt dieses Stück mal so richtig laut: Penetrant wiederholte Forte-Klänge auf unterschiedlichen Tonhöhen werden per Elektronik in allerlei Klangwolken überführt. Das abgefilmte Abbild des zwischendurch trommelnden Pianisten wird an die Wand projiziert, wo er nun sich selbst über die Schulter schaut. Eine witzige Idee, die allein aber nicht die Länge des Stücks rechtfertigte. Die zwei einsätzigen Streichquartette von Johannes Boris Borowski dagegen, die das Minguet Quartett uraufführte, bedienen sich traditioneller Avantgardetechniken: Plings und Plongs, kommunikatives Saiten­überdruck-Knarzen, Melodiefragmente, chromatisches Kriechen, fahle Gesänge prägen das erste Quartett, in dem Borowski zeigt, dass er das Kompositionshandwerk beherrscht. Im zweiten entfaltet sich über dem gleichmäßigen Puls von zweiter Geige und Cello ein seltsam energieloses Zwiegespräch zwischen Bratsche und erster Geige.

Im Konzert des SWR Symphonie-Orchesters schließlich griff man zurück auf ältere Werke. Die riesig besetzte „Sphärenmusik“ von 1918 des dänischen Komponisten Rued Lang­gaard wollte sich aber in seiner schönen Entrücktheit nicht entfalten. Wohl auch wegen der trockenen Akustik des Theaterhauses fiel das Werk klanglich auseinander. Ob Flötensoli, Streicherschraffuren oder -cluster, ob Fernorchester, das man hinter dem Publikum positioniert hatte, oder die Vokalisen des SWR Vokalensembles: Alles schien zu stark beleuchtet, als dass sich klanglich irgendetwas von dem vermittelt hätte, was der Komponist meinte, als er schrieb: „Die Musik ist von einem schwarzen Schleier und den undurchdringbaren Nebeln des Todes verhüllt.“

Dass das SWR Symphonie-Orchester, was Transparenz angeht, derzeit auf einem miserablen Niveau ist, zeigten auch die folgenden, ebenfalls groß besetzten Werke. Nichts ist mehr übrig von der Weltklasse, die das ehemalige Stuttgarter Rundfunkorchester einst in Sachen Neuer Musik besaß. Längst ist seine visionäre Klangfarbenvielfalt untergegangen in fusionärem Klangmatsch. Von der strukturellen Vielschichtigkeit des genialen Orchesterstücks „Siddhartha“ des kanadischen Komponisten Claude Vivier – der 1983 einem Serienmörder zum Opfer fiel – blieb wenig hörbar. Auch in Kaija Saaria­hos „Chateau de l’ame“ von 1996 blieb das Besondere, nämlich ihre fein abtönende Instrumentation, unterbelichtet. Daran konnte auch Alejo Pérez am Dirigierpult und die Sopranistin Lini Gong nichts ändern.

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