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Christian Tetzlaff und Vladimir Jurowski. Foto: Kai Bienert/Musikfest Berlin
Christian Tetzlaff und Vladimir Jurowski. Foto: Kai Bienert/Musikfest Berlin
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Zwischen alten und neuen Klang- und Denkwelten

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Monteverdi und Yun beim Musikfest Berlin
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Ausgangs- und Startpunkt des diesjährigen Musikfests war der Monteverdi-Zyklus, mit dem John Eliot Gardiner, der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists in diesem Sommer anlässlich des 450. Geburtstags des großen Komponisten an mehreren europäischen Festspielorten gastierten. Auch in der Berliner Philharmonie kamen die halbszenischen Aufführungen von „Orfeo“, „Ulisse“ und „Poppea“ zu mitreißender Wirkung. In Monteverdis „Marienvesper“ mit dem RIAS Kammerchor und weiteren Italien-Bezügen strahlte dieser grandiose Auftakt auf das ganze Musikfest aus.

So gastierte die Filarmonica della Scala unter Riccardo Chailly mit einem Verdi-Programm. Das von Daniele Gatti geleitete Concertgebouw Orkest stellte der Symphonie Nr. 9 Anton Bruckners das Orchesterstück „IN-SCHRIFT“ von Wolfgang Rihm voran, das 1995 für San Marco, Claudio Monteverdis langjährige Wirkungsstätte in Venedig, entstanden war. Den langen Nachhall dort hatte Rihm durch sehr langsame Akkordfortschreitungen berücksichtigt, was nun in der ganz anderen Akustik der Philharmonie verfremdend wirkte.

Die Bühnenwerke Claudio Monteverdis repräsentieren den Beginn der Gattung Oper und den Umbruch von der Renaissance zum Barock, verbunden mit einer neuen Art ausdrucksvollen Singens. Es war ein epochaler Einschnitt, den der Komponist Vincenzo Galilei 1581 durch seine Streitschrift „Dialogo della musica antica et della moderna“ ins Bewusstsein rückte. Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des Musikfests, griff dieses Gegenüber von alt und neu in seiner Programmgestaltung auf. So bot der Abend mit dem Ensemble Musikfabrik Gelegenheit, zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit den von Monteverdi gewählten Stoffen zu begegnen. An den „Ulysses“-Roman von James Joyce knüpfte die in Berlin lebende Rebecca Saunders mit ihrer räumlichen Performance „Yes“ an. Sie bezog sich damit auf den atemlosen Monolog der Molly Bloom und den Liebesakt, mit dem der Roman endet. Während Monteverdi den Text ausdrucksvoll und verständlich darbot, wurde er bei Saunders versteckt und verrätselt. Die Sopranistin Donatienne Michel-Dansac bot alle Formen vokaler Kunst vom Hauchen, Raunen, Stöhnen, Gurgeln bis zum Flüstern, kaum jedoch ein klares Wort. Tatsächlich wollte die Komponistin die Grenzen zwischen Stimme und Instrument verwischen. In enger Zusammenarbeit mit 19 Mitgliedern der Musikfabrik hatte sie 27 einzelne Musikstücke, sogenannte Module, entwickelt und über die verschiedenen Podien und Emporen des Kammermusiksaals der Philharmonie verteilt. Einzelne Musiker traten auf und ab, über mehr als 80 Minuten gab es ein ständiges Kommen und Gehen. Obwohl die wandernden Klänge immer wieder beeindruckten, drängte sich die Raumsituation vor das Klangerlebnis, so dass man über dem genau koordinierten Wanderzirkus der Musiker den Monolog der Molly Bloom aus den Augen verlor.  Bei dieser Uraufführung dominierte noch die Irrfahrt des Odysseus, nicht seine Ankunft im „Yes“.

Die zweite Hälfte des langen Abends war der Orpheus-Figur gewidmet.  Für Harrison Birtwistle verkörpert sie die Musik, weshalb er neben anderen Orpheus-Werken  2004 seine „26 Orpheus Elegies“ für Oboe, Harfe und Countertenor schrieb. Diese Rilke-Vertonungen erwiesen sich jedoch als recht gleichförmig. Überflüssigerweise wurden noch instrumental dargebotene Gesangsstücke von John Dowland eingeschoben, die der 83-jährige Birtwistle selbst dirigierte. Viel spannender waren am nächsten Morgen die 15 Soli von Mitgliedern der Musikfabrik (darunter ein neues Violastück von Enno Poppe), die statt dem üblichen Vorrang der Komponisten einmal die Interpreten-Perspektive in den Mittelpunkt rückte. 

Musica antica et moderna

Einen gelungenen Dialog zwischen alter und moderner Musik gab es in der Matinee mit dem russischen Geiger Ilya Gringolts. Den „24 Capricci“ op. 1 von Nicolò Paganini stellte er die „Sei Capricci“ von Salvatore Sciarrino gegenüber, die sich 150 Jahre später mit den geigerisch immens anspruchsvollen Vorlagen auseinandersetzten.  Es sind allerdings meist nur schattenhafte, ins Geräuschhafte zugespitzte Reflexe auf die so abwechslungsreichen Paganini-Capricen, die Gringolts sachlich und unter Verzicht auf äußerliches Virtuosentum bewundernswert konzentriert darbot. Das von Christoph Eschenbach geleitete Deutsche Symphonie-Orchester Berlin schob zwischen Mozart und Mendelssohn Wolfgang Rihms zweites Klavierkonzert ein, das in seinem weichen und melodischen Charakter und dem Pendeln zwischen Dissonanz und Konsonanz in dieser Umgebung keineswegs fremdartig wirkte; auch der Solist Tzimon Barto war mit seinen leisen und diskreten Tönen bestens in den Orchesterpart integriert.

Während sich die Berliner Philharmoniker mit zwei eher konventionellen Programmen am Musikfest beteiligten, konfrontierte Vladimir Jurowski bei seinem aufsehenerregenden Antrittskonzert beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Nono und Beethoven.  Angeregt durch Bruno Madernas Kammerkantate über Kerkerbriefe Antonio Gramscis hatte Luigi Nono 1951 ein abendfüllendes Werk über Texte des kommunistischen Widerstandskämpfers Julius Fucik konzipiert. Diese nur fragmentarisch überlieferte Komposition für zwei Rezitatoren und Orchester, die Peter Hirsch 2006 in München uraufgeführt hatte, erklang nun erstmals in deutscher Übersetzung. In einem Abschiedsbrief an die Eltern hatte Fucik die Freude erwähnt, die ihm ein Beet-hoven-Motiv bereitete. Diesem Briefzitat ließ Jurowski bruchlos Beethovens Fünfte Symphonie folgen, deren Klopfmotiv damals den antifaschistischen Widerstand symbolisierte.  Diese Abfolge Nono-Beethoven wirkte sogar noch zwingender als Michael Gielens Integration von Schönbergs „Überlebendem von Warschau“ in Beethovens Neunte. Allerdings hätte nicht die hochpathetische Mahler-Fassung der Fünften gewählt werden sollen, die Jurowski jetzt zur Aufführung brachte.

Teodor Currentzis konfrontierte Altes und Neues ebenfalls aus inhaltlichen Motiven. In der abgedunkelten Philharmonie ließ er die Sänger seines Chorus MusicAeterna in schwarze Kutten gehüllt und kreisförmig aufgestellt bruchlos nacheinander a-cappella-Kompositionen von Hildegard von  Bingen, Ligeti, Schnittke, Purcell und Pärt singen, denen die Thematik von Trauer und Tod gemeinsam war. Auf der Suche nach einer gleichsam mystischen Einheit über die Jahrhunderte hinweg wurden hier die stilistischen Kontraste nivelliert, während Currentzis das nachfolgende Mozart-Requiem mit scharfen Akzenten und aberwitzigen Tempi in die Gegenwart hineinpeitschte. Trotz der bewundernswerten Präzision der Aufführung hinterließ diese Umdeutung auch Irritation.

Mit einem fast schon zu raffinierten Programm gastierte das neufusionierte SWR Symphonieorchester erstmals beim Musikfest. Der Auftakt mit Robert Schumanns Manfred-Ouvertüre  sollte auf Luigi Nono hinweisen, der von dieser Komposition fasziniert war. Da Nono mit seinem Lehrer Maderna die italienischen Madrigalisten des 16. Jahrhunderts ausgiebig studiert hatte, wurde sein „Canto sospeso“ durch zwei Madrigale von Luca Marenzio und Nicola Vicentino eingeleitet, die das SWR Vokalensemble unter Peter Rundel allerdings wenig stilgerecht darbot. Auch die Aufführung des Nono-Werks enttäuschte, zumal – anders als in der maßstabsetzenden Interpretation Claudio Abbados – auf die Rezitation der hier besonders wichtigen Texte verzichtet wurde.

Tiefe Abgründe klaffen zwischen dem politischen Engagement Luigi Nonos, der im „Canto sospeso“ Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer verwendet hatte, und der Gedankenwelt seines in Berlin lebenden französischen Kollegen Mark Andre. Dessen Komposition „über“ für Klarinette, Orchester und Live-Elektronik bezieht sich auf einen biblischen Segen, der im evangelischen Gottesdienst bis heute verwendet wird und in dem das Wort „über“ zweimal erscheint. Andre, für den „das Entschwinden die zentrale Kategorie“ ist, komponierte das Verschwinden des Klarinettenklangs von Jörg Widmann aus, ergänzt durch Tonbandaufnahmen des Wüstenwinds bei Jerusalem. So fabelhaft traktierte Widmann sein Instrument an der Grenze des Hörbaren zwischen pp und pppp, dass in den 43 Minuten dieses Exercitiums in der Philharmonie gebannte Stille herrschte. Ursprünglich hatte sich die 2015 in Donaueschingen uraufgeführte Komposition auf das Verschwinden des Freiburger Klangkörpers bezogen. Indem nun das fusionierte SWR-Orchester „über“ spielte und Mark Andre den Musikern ausdrücklich dankte, verwandelte sich der Protest überraschend in eine Versöhnungsgeste, einen Segen.

Isang Yun 100

Schon zum Musikfest-Beginn war im Kammermusiksaal der Philharmonie eine Ausstellung zu Isang Yun eröffnet worden, der bis zu seinem Tod in Berlin gelebt hatte. Die größte Abbildung der zwanzig Tafeln zeigt das Fresko aus einem nordkoreanischen Königsgrab, das der aus Südkorea stammende Komponist 1963 besucht hatte. Damit hatte er die Machthaber seiner Heimat provoziert, die ihn schließlich entführen ließen. Nur dank internationaler Solidarität wurde Yun 1969 vorzeitig aus der Haft entlassen. Auf einer Tafel findet sich die beeindruckende Liste prominenter Künstler, die sich damals für ihn einsetzten. Eine Diskussion in der Akademie der Künste widmete sich auch der Frage, warum Yuns Musik in Nordkorea gespielt wurde, obwohl sie der dortigen Doktrin des sozialistischen Realismus widerspricht. Tatsächlich war der Komponist zum Spielball im Propagandakrieg zwischen Nord- und Südkorea geworden.

Am 17. September, seinem 100. Geburtstag, gab es einen ganzen Tag mit Yuns Musik. In einer Matinee spielte das 1997 in Südkorea gegründete Gyeonggi Philharmonic Orchestra seine Komposition „Réak“, die ihm 1966 in Donaueschingen den Durchbruch beschert hatte. Während sie damals noch einige Hörer schockiert hatte, wirkte sie jetzt mit ihren klaren Konturen klassisch ausbalanciert. Im Vergleich mit Ligetis Klangkomposition „Lontano“, die ein Jahr später am gleichen Ort zur Uraufführung kam, zeigten sich neben stilistischen Gemeinsamkeiten auch wesentliche Unterschiede. Während sich Ligeti auf Erfahrungen mit elektronischer Musik bezog, hatte Yun die fließenden Klänge aus der koreanischen Hofmusik abgeleitet. Sein 1978 entstandenes Orchesterstück „Muak“ zeigte den Stilwandel nach der Haft-Entlassung. Entsprechend den Opern wurde auch Yuns Orchestermusik nun stärker programmatisch geprägt. So repräsentieren in „Muak“ drei Oboen Asien, das große Orchester dagegen Europa. Souverän geleitet wurde dieses Konzert von der koreanischen Dirigentin Shiyeon Sung, die mich stärker beeindruckte als einige Tage zuvor bei den Philharmonikern ihre finnische Kollegin Susanna Mälkki. Bei einem Kammerkonzert war in Yuns früher Komposition „Gasa“ die Bereicherung des Tonvorrats zu erfahren, welche die Begegnung mit der Zwölftontechnik ihm gebracht hatte. Seine 1968 in der Haft entstandenen „Images“ bezogen sich auf die nordkoreanischen Grabfresken; die vier Instrumente Flöte, Oboe, Violine und Violoncello entsprechen den vier Bildern, die dann zu einer einzigen Figur verschmelzen. Den Abschluss bildete Vladimir Jurowskis Antrittskonzert mit Yuns „Dimensionen“ (1971) für großes  Orchester und Orgel, gefolgt von Schönbergs selten zu hörendem Violinkonzert op. 36. Wie bei seiner Oper „Von heute auf morgen“ hatte Schönberg auch in diesem 1940 von Louis Krasner uraufgeführten Werk einen Publikumserfolg erwartet. Da aber hier eingängigen Tanz- und Marsch-Rhythmen eine sperrige und hochkomplexe Zwölftonmelodik gegenübersteht, hatte der eigentlich vorgesehene Solist Jascha Heifetz abgesagt. Jetzt brachte Christian Tetzlaff Schönbergs enorm anspruchsvolles Werk zu vollendeter Wiedergabe. Yuns „Dimensionen“, die den ganzen Tonraum durchwandern, waren jedoch von unmittelbarerer Wirkung. Wie Alban Berg, dessen vielgespieltes Violinkonzert ebenfalls von Krasner uraufgeführt worden war, hat Isang Yun die Zwölftontechnik undogmatisch eingesetzt und die Tonalität nie ganz preisgegeben.

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