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Form folgt aus Klang: Der Komponist Friedrich Cerha. Foto Charlotte Oswald
Form folgt aus Klang: Der Komponist Friedrich Cerha. Foto Charlotte Oswald
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Aus dem Wurzelwerk entspringen schönste Blüten

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Der Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler Friedrich Cerha erhält den Ernst von Siemens Musikpreis für 2012
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Mit bemerkenswerter Stetigkeit hakt das Kuratorium des Ernst von Siemens Musikpreises die Liste alterswürdiger Komponisten und Interpreten ab, die den mit 200.000 Euro dotierten „Nobelpreis der Musik“ noch nicht erhalten haben. Diesmal war der österreichische Komponist und Dirigent Friedrich Cerha an der Reihe, der demnächst seinen 86. Geburtstag feiern kann (am 17. Februar 2012). Es wurde also irgendwie einmal auch Zeit mit der Auszeichnung, zumal Cerha schließlich zu den profiliertesten Komponisten der Neuen Musik zählt, der besonders in seinem Heimatland, dem unverändert bedeutenden Musikland Österreich, wichtige Schlachten für die Moderne geschlagen und gewonnen hat.

Dazu fällt einem eine für den Komponisten typische Situation ein: bei einem der ersten „Wien modern“-Festivals (1989/1990) wurde Friedrich Cerha zum Ehrenmitglied des Wiener Konzerthauses ernannt – im Rahmen eines Konzertes mit dem von ihm und Kurt Schwertsik 1958 gegründeten Ensemble „die reihe“. In seiner Dankesrede im vollbesetzten Saal erinnerte Cerha an ein Konzert aus der Gründerzeit des Ensembles an gleicher Stelle mit einem fast identischen Programm. Verschmitzt-sarkastisch merkte er an, „Wien“ sei also damals schon „modern“ gewesen, nur hätte es keiner bemerkt – seinerzeit waren nur ein paar Leute ins Konzert gekommen. Wenn Friedrich Cerha am 22. Juni 2012 im Münchner Cuvilliés-Theater die Siemens-Auszeichnung entgegen nimmt, befindet er sich irgendwie in einer ähnlichen Situation, doch dürfte er zu höflich sein, um die späte Ehrung mit einem leisen ironischen Schlenker zu bedenken. Schließlich erhält er neben der Ehre auch noch 200.000 Euro, die Dotierung des Siemens-Musikpreises.

Im Übrigen wäre es falsch, die späte Lobpreisung des Komponisten nur retrospektiv zu sehen. Sein „Lebenswerk“, für das er den Siemenspreis erhält, ist keinesfalls abgeschlossen. Gerade in den letzten Jahren entdeckte er immer wieder kompositorische Jungbrunnen, die ihn mindestens fünf Jahrzehnte wie in einem Zeittunnel zurückzuversetzen schienen. Einer dieser Jungbrunnen war der Percussionist Martin Grubinger, dem Cerha im Auftrag des Salzburger Mozarteum-Orchesters ein „Konzert für Schlagzeug und Orchester“ komponierte. Rhythmische Finessen und Vertracktheiten, eine überwältigende gestische Lebendigkeit, raffinierte Klangbildungen sowohl im Orchestersatz als auch für die Schlagwerkbatterie – das alles ist bester Cerha. Und als Grubinger im zweiten Satz nach den harten Klangblöcken des ersten aus Vibraphon, Glocken, Gongs, Crotales und Klangschalen zarte, melodische Pianissimo-Klänge hervorzaubert, dann wird einem einmal mehr bewusst, was für ein sensibler Klangkunsterforscher und Klanggestalter Cerha immer gewesen ist.

Dieser hohe Klangsinn erlaubte es dem Komponisten auch, sich einer nicht ungefährlichen Herausforderung zu stellen: der Komplettierung des dritten Aktes der Oper „Lulu“ von Alban Berg. Der Wiener Cerha hatte stets eine enge innere Beziehung zur Musik des Wieners Berg,  zu deren weicher Klanglichkeit voller instrumentaler Farben, zu deren raffinierten formalen Zitierungen. Von Bergs Hand lagen Cerha für den ersten Teil bereits fertig komponierte Takte vor, im Folgenden konnte er sich auf das Particell stützen, aber dann gab es noch eine völlig unfertige Passage, die Cerha mithilfe von Analogien und der eigenen kreativen Einfühlung bewundernswert für die komplette Partitur herstellte. Als die vollständige „Lulu“ 1979 an der Pariser Oper in der Inszenierung Patrice Chéreaus von Pierre Boulez erstmals aufgeführt wurde, galt der große Beifall auch dem „Hersteller“ Friedrich Cerha.

Die Affinität zu Bergs Komponieren klingt auch in Cerhas erster „richtiger“ Oper mit: „Baal“ nach Brecht, 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Aber Cerha interessiert es nicht, das Klangmaterial, den Tonfall einfach nur nachzuempfinden oder nachzustellen. Sein Augenmerk ist auf Verknüpfung und Beziehungslinien gerichtet. Die Komposition gewinnt dadurch ein dichtes Geflecht, eine starke Autonomie in Struktur und Ausdruck. Diese Verfahrensweise wirkt auch in Cerhas weiteren Opernwerken weiter, in „Der Rattenfänger“ nach Zuckmayer und in „Der Riese vom Steinfeld“ auf das Libretto von Peter Turrini; beide Opern wurden in Wien uraufgeführt.

Cerhas Komponieren hat sich kaum  doktrinären Systemen angeschlossen. Ihn interessierte immer das Prozesshafte am Komponieren, die Entwicklung des Materials, nicht das Material allein. Die Überführung von Zuständen in einen folgenden Zustand, die dabei entstehenden Reibungen, Überschneidungen, Störungen als Spannungs- und Ausdruckselemente. Cerhas Klangsprache hat dadurch eine hohe Eigenständigkeit und Individualität errungen. Dabei sind Werke entstanden, die zu Marksteinen der musikalischen Moderne wurden.

Da ist vor allem die Serie der „Spiegel“-Kompositionen, 1960/1961 entstanden, aber erst 1972 zum ersten Mal in Graz geschlossen aufgeführt. Von Cerha ist bekannt, dass er Pilzsammler ist. An Pilzen fasziniert ihn der Gegensatz von glatter Oberfläche und darunter ein unendliches Labyrinth von Verästelungen des Wurzelwerks. In gewisser Weise gewinnt die „Spiegel“-Komposition aus dieser Natur-Struktur ihre eigene, gleichsam analoge Struktur. 

Aus farbig wuchernden Klangflächen fallen wie Felsen dunkle Klangballungen heraus, düster drohend, als würden sich Räume nach unten öffnen. Es gibt eine maßstabsetzende CD-Einspielung des Werkes vom SWR-Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling, die auch den Wunsch aufkommen lässt, den siebenteiligen Zyklus einmal in eine szenische Version, die wohl eine Vision sein müsste, zu überführen. Cerha selbst äußert sich nur ungern verbal zu seinen Arbeiten. Für die „Spiegel“-Stücke gab es jedoch einmal eine Andeutung: „Vielleicht hätte man vor hundert Jahren den Sätzen Namen gegeben: Nebel, Sonne, Wind und Meer, Schreie, Wüste, Angst“. Bei den erweiterten technischen und medialen Ausdruckselementen unserer Tage wäre eine „Spiegel“-Inszenierung als komplexes Raum-Musik-Licht-Theater sicher spannend zu realisieren. 

Der Blick auf die „Spiegel“-Komposition hat sicher auch das Kuratorium des Siemens-Preises entscheidend mit beeindruckt. Für Helmut Lachenmann, Mitglied im Kuratorium, offenbart sich darin Cerhas „souveräner, gleichsam prophetischer Klangsinn“. 

Prophetisch: der Wiener Musikologe Lothar Knessl konstatierte dazu mit Blick auf die Entstehungszeit mancher Cerha-Werke, es sei, „als denke und schreibe Cerha während seiner Entwicklungsphasen schon außerhalb einer Strömung, bevor sie noch zu einer solchen erhoben wurde“. Dieses von einer bis heute nie versiegenden musikalischen Phantasie gespeiste kompositorische Vorausdenken gibt dem Schaffen Friedrich Cerhas die unverwechselbare Individualität, sichert dieser zugleich die Elastizität, die vor dogmatischer Erstarrung bewahrt. Der Komponist Beat Furrer, ebenfalls Kurator beim Siemens-Preis, äußerte in diesem Zusammenhang, die in den 60er-Jahren geschriebenen „Spiegel“ seien „wegweisend und radikal, was die Entwicklung der Form aus dem Klang selbst betrifft“. 

Gleichzeitig zum Hauptpreis wurden auch die Komponisten-Förderpreise für 2012 bekanntgegeben. Sie gehen an den in Berlin lebenden Engländer Luke Bedford, an den Baden-Württemberger Ulrich Alexander Kreppein – der unter anderem bei  Manfred Trojahn und Tristan  Murail studierte sowie an die in Karlsruhe lebende türkische Rihm-Schülerin Zeynep Gedizlioglu, die auch bei Theo Brandmüller und Ivan Fedele sowie am Pariser IRCAM kompositorische Erfahrungen sammelte.

 Bei der Vergabe der Einzelpreise wird gern übersehen, dass die Ernst von Siemens Musikstiftung weitere Beträge, in diesem Jahr 2,4 Millionen Euro, auf die Förderung zeitgenössischer Musikprojekte in über 20 Ländern weltweit verwendet. Kompositionsaufträge, Kinder-und Jugendprojekte, die den Zugang zu Neuer Musik erleichtern sollen, Wettbewerbe, Akademien, wissenschaftliche Publikationen – das sind nur einige der Förderaktivitäten.

Bei der Preisübergabe in München wird der Musikredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Peter Hagmann, die Laudatio halten. Das Ensemble Modern wird, dirigiert vom Komponisten, Cerhas „Bruchstück, geträumt“ aufführen, außerdem Kompositionen der drei Förderpreis-Komponisten.

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