„Eine Wissenschaft, die ihr Wissen nicht in die Gesellschaft schafft, missachtet ihre gesellschaftliche Bringschuld und ist am Ende mit schuld, wenn die Gesellschaft sie um ihre Mittel bringt.“ Dieses prägnante Zitat des Romanisten Ottmar Ette zur gesellschaftlichen Verantwortung der Geisteswissenschaften hat selten mehr Gewicht als im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Holocausts.
Die Konferenz zu den Auswirkungen des Naziregimes auf die musikalische Entwicklung im 20. Jahrhundert, welche im April in London stattgefunden hat, hat diese gesellschaftliche Verantwortung erkannt. Sie zeigte zahlreiche Impulse auf, die Erkenntnisse der musikwissenschaftlichen Holocaustforschung einem nichtakademischen Publikum zugänglich zu machen, etwa durch Filme, Ausstellungen, Konzertreihen mit thematischem Fokus, Internetseiten und natürlich didaktische Arbeit an Schulen und Musikschulen.
Veranstalter der Konferenz waren das JMI International Centre for Suppressed Music und das seit 2006 aktive Institute of Musical Research der University of London. Inhaltlich verantwortlich zeichneten Erik Levi, der mit seinem Buch Music in the Third Reich (1994) ein Standardwerk dieses Forschungsfeldes vorgelegt hat, sowie Michael Haas, der durch die preisgekrönte CD-Serie Entartete Musik (Decca) etliche Werke von im Dritten Reich verfolgten Musikern ins Repertoire reimportiert hat.
Den 43 Vorträgen von Wissenschaftlern von vier Kontinenten war zunächst eine Präsentation der Musikarchive vorangestellt, die etwa Tagebücher, Briefwechsel und Notenhandschriften von verfolgten Musikern verwalten, darunter das Konservatorium Schwerin, die British Library (London), die Music Jewish National and University Library (Jerusalem) und das US Holocaust Memorial Museum (Washington D.C.). Vorbildhaft ist Volker Ahmels’ Engagement für den Wettbewerb „Verfemte Musik“, welcher meist unverlegte Werke aus den Archivregalen aufs Konzertpodium bringt und für dessen diesjährigen Durchgang sich junge Musiker bis zum 15. Juli anmelden können. Die lebhaften Berichte von Familienangehörigen der im Dritten Reich verfolgten Komponisten Hans Gál, Ferdinand Rauter, Mátyás Seiber und Georg Tintner, charmant moderiert von BBC-Journalist und Buchautor Daniel Snowman, brachten die bei diesem Thema so notwendige menschliche Komponente in die akademische Diskussion ein.
Der viertägigen Konferenz schloss sich die zweitägige Konzert- und Veranstaltungsreihe Music in Exile in der Cadogan Hall an. In seinem Vortrag über das innere Exil warf Albrecht Dümling höchst aufschlussreich Licht auf jene Komponisten, die zwar nicht auswanderten, aber sich dem Dritten Reich verweigerten und in den harmlosesten Fällen schwere berufliche Einbußen hinnehmen mussten. Diese biographischen Schicksale aufzuarbeiten ist die Aufgabe der Exilmusikforschung. Das an den Vortrag anschließende Konzert mit Werken von Komponisten des inneren Exils, Philipp Jarnach, Heinz Tiessen und Walter Braunfels, illustrierte den hohen musikalischen Wert ihrer Kompositionen und appellierte an dieVerantwortung der Konzertprogrammgestalter, dem Unrecht des Vergessens eine umfassende Kanonrevision entgegenzuhalten.
Internetseiten
Wettbewerb Verfemte Musik 2008: www.jeunessesmusicales-mv.de/
Jewish Music Institute, London: www.jmi.org.uk/
Institute of Musical Research, London: http://music.sas.ac.uk/