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Bauklötze für das Verstellen des Sinns

Untertitel
Mauricio Kagel zu seinem 70. Geburtstag
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„Ich bin neugierig geblieben, und dazu gehört eine anarchische Neugierde.“ Das hebt Mauricio Kagel in Gesprächen mit Werner Klüppelholz hervor, die nun zu seinem 70. Geburtstag (am 24. Dezember 2001) in einem Buch bei DuMont veröffentlicht wurden. Die Gespräche fanden zwischen 1998 und 2000 statt und erstreckten sich auf insgesamt mehr als 50 Stunden. Fragen heutigen Komponierens werden angepeilt, nach den Vernetzungen des schöpferischen Tuns mit den Umfeldern des täglichen Daseins. Zäsuren setzen Texte von Kagel, Einführungen, Vorträge, Danksagungen et cetera, die zumeist in den 90er-Jahren verfasst wurden. Und wer Kagels tiefsinnigen Wortwitz, die Schärfe seiner Beobachtungen, die visionären Momente darin kennt, der weiß, dass es sich um ein wunderbar erfrischendes Buch handelt.

„Ich bin neugierig geblieben, und dazu gehört eine anarchische Neugierde.“ Das hebt Mauricio Kagel in Gesprächen mit Werner Klüppelholz hervor, die nun zu seinem 70. Geburtstag (am 24. Dezember 2001) in einem Buch bei DuMont veröffentlicht wurden. Die Gespräche fanden zwischen 1998 und 2000 statt und erstreckten sich auf insgesamt mehr als 50 Stunden. Fragen heutigen Komponierens werden angepeilt, nach den Vernetzungen des schöpferischen Tuns mit den Umfeldern des täglichen Daseins. Zäsuren setzen Texte von Kagel, Einführungen, Vorträge, Danksagungen et cetera, die zumeist in den 90er-Jahren verfasst wurden. Und wer Kagels tiefsinnigen Wortwitz, die Schärfe seiner Beobachtungen, die visionären Momente darin kennt, der weiß, dass es sich um ein wunderbar erfrischendes Buch handelt. In den USA haben Kinder bis zum zwölften Lebensjahr etwa 40.000 Katastrophen im Fernsehen gesehen, brennende Autos fliegen durch die Luft, Waffengebrauch ist an der Tagesordnung, Wohnblöcke brechen zusammen und so weiter. Das sind beunruhigende Zahlen. Dagegen wird ein Film mit stehender Kameraeinstellung, wo jemand in aller Ruhe etwas erzählt, für diese Kinder unerträglich. Das ist ein Unterschied wie zwischen Bloody Mary und grünem Tee. Ernste Musik kann solche billigen Ansprüche nicht befriedigen, aber sie bildet einen wesentlichen Anteil an der Unterhaltung, die der Mensch sucht. Gibt es etwas Unterhaltsameres als die Musik von Bach? Weil sie zum Hören und Denken anregt, bin ich stets gespannt, wie es weitergeht. Die Geheimnisse Bachs bleiben unergründbar.“

Mauricio Kagel ist Universalist. Dass er der Musik im weiten Feld die Präferenz einräumt, mag man dabei fast als akzessorisch ansehen. Sie ist vielleicht dem Hebel vergleichbar, mit dem einst Archimedes die Welt aus den Angeln heben wollte. Kagels Neugier zielt auf den ganzen Menschen, auf die Formen seiner Äußerungen, auf die Bewegungen, auf innere Triebe wie auf äußere Begrenzungen, auf die Muster der sprachlichen Artikulation, auf Spieltrieb und Schaulust. Vor 45 Jahren kam der 1931 in Buenos Aires geborene Komponist nach Deutschland und lebt seither in Köln. Spanisch ist seine erste Sprache, vor diesem Hintergrund blickt er auf die deutsche und nimmt hier Verkrümmungen und Absonderlichkeiten wahr, die im gewohnten Umgang verborgen bleiben. Die Titel seiner Werke haben von da her etwas Äquilibristisches. Kagel spricht in diesem Zusammenhang von Nachhallwirkung. Und wirklich beginnen schon diese zu klingen wie Kagel sich musikalischen Klang vorstellt: als Aufriss eines wuchernden Assoziationsgeflechts. Flüchtig herausgenommen: „Staatstheater“, „Die Erschöpfung der Welt“, „Die Umkehrung Amerikas“, „Blue’s Blue“, „Fürst Igor, Strawinsky“, „Sankt-Bach-Passion“, „Entführung im Konzertsaal“, „Ein Aufnahmezustand“.

Weite Räume

Sinn und Hintersinn geben sich hier heimlich die Hand, es gibt nichts zu Entschlüsseln, zumindest nicht, wenn man Rückführung auf Eindeutigkeit erhofft. Weite Räume kreativen Spürsinns werden geöffnet. Immer wird an solchen verbalen Querständen die schöpferische Lust Kagels wach. Aus dem Undeutlichen heraus beginnt die Suche, am liebsten in Lexika, die gar nicht dick genug sein können. Querverweise führen in Regionen der vielsprachigen Weltliteraturen, in Zweige der Wissenschaften und in obskure Parallellandschaften. Fast möchte man meinen, dass Kagel, von einer Idee in Beschlag genommen, sich selbst beschwörend einredet: „Das gibt es nicht, dass es das nicht gibt.“ Für ein ganz neues Stück „Quirinus’ Liebeskuss“ etwa suchte Kagel Texte mit nur einsilbigen Worten – und er entdeckte bei einem Antiquar in Dijon ein 1841 verlegtes Buch „Le Livre des Singularités“ und darin neben Unleserlichkeiten wie „Amatlacuilolitquitcatlaxtlahuilli“ oder „Scytalosagittipelliger“ auch eine „Historiette Monosylabique“.

Das Ausgedachte oder Erahnte war also gefunden und wohl jeder hätte sich mit diesem Unikat beschieden. Für Kagel aber, es mag seiner selbstquälerischen Pedanterie zugeschrieben werden, genügte der Text aus formalen Gründen nicht. Und so wurde er schließlich beim in Breslau geborenen Dichter Quirinus Kuhlmann (1651–1689) fündig. Dessen XLI. Liebeskuss „Der Wechsel menschlicher Sachen“ ist ein merkwürdiges Sonett aus fast ausschließlich einsilbigen Worten! Das Stück konnte komponiert werden.

Eine Manie? Solcher Befund ginge an Kagels kreativer Triebfeder entschieden vorbei. Komponieren wird bei ihm, wie im Grunde bei jedem großen Schöpfer musikalischer Werke, neu definiert. Es heißt ihm Zusammenstellen mit allen Möglichkeiten des Verstellens, das im Deutschen auch einen illustrativen Doppelsinn birgt. Im Verstellten aber werden Sinnbezüge wahrgenommen, die bislang verborgen (oder verstellt?) waren. Der umgestülpte Sinn aber unterminiert ein allzu vorschnelles Vertrauen in scheinbare Eindeutigkeiten. Solches Tun also klärt auf: über das Netzwerk von Bedeutungsbezügen, über unsere Wahrnehmung.

Syntax und Sinn

In den Gesprächen mit Klüppelholz ist Kagel auf diese Vorliebe nachdrücklich eingegangen: „Eine einfache Wortumkehrung genügt, um Syntax und Sinn mehrdeutig zu machen. Solche unscheinbaren Dinge, die zugleich das Wesen der Sprache, ihre Form ankratzen, liebe ich noch heute und – warum sollte ich es nicht zugeben – spreche oft selbst auch so. Ich glaube an die Kreativität der Sprachfehler. Leider habe ich mittlerweile etwas von meiner Frische verloren, aber wenn ich zum Beispiel falsches Spanisch höre, denke ich unweigerlich darüber nach, warum Syntax und Grammatik so beschaffen sind und nicht anders. Vor Jahren sah ich in Italien ein Schild mit der Aufschrift: ‚Deutsch spricht man.‘ Ist das nicht köstlich, wie Höflichkeit sich in ein Diktat verwandelt? Vielleicht hängt meine innere Weigerung, perfekt zu sprechen, mit solchen Entscheidungen zusammen.“

Mauricio Kagel ist ein, wenn nicht sogar der Meister solcher semantischer beziehungsweise syntaktischer Verkehrungen. Ihm helfen dabei ein fast unerschütterliches Gedächtnis – in seinem Kopf scheint eine unübersehbare Zahl von sorgsam verwalteten und peinlich genau geordneten Schubläden abgelegt – und eine pedantische Manie des Suchens. Im Vorfeld jeder Komposition entstehen Tabellen und Listen, je mehr Aspekte zum vorgenommenen Gegenstand gesammelt sind, umso lieber ist es ihm. Die Inhalte seiner Stücke aber stammen aus dem Alltag, freilich aus einem akribisch genau beobachteten Alltag. Das kann eine Redewendung oder auch der Gestus des Sprechens sein, die Art einer Bewegung (beim Gehen, beim Tanzen, beim Spielen eines Instruments und so weiter), es kann sein das Gehabe des Auftretens, sei es nun eines Vortragenden, eines Dirigenten oder sei es gar das repräsentative Zur-Schau-Stellen in einem Varieté oder in einem großen Operntheater. Das Material ist unerschöpflich, es begegnet uns bei jedem Spaziergang, wenn die anderen oder sich selbst in charakteristischen Verhaltensweisen beobachtet.

Kagel hat nie anderes gemacht. Dass es Musik wurde, liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass er dem Material zeitliche Gestalt zu geben hatte (es wurde freilich auch Film, Hörspiel, stummes Theater, Maskenaufzug, Kulissenspiel und manch anderes). Und Musik ist eben die Kunstform, die Materialien am entschiedensten in zeitlich exakte Form gießt. Er komponiert Abläufe, sie sind hörbar, sichtbar, manchmal werden auch weitere Sinne wie Fühlen, Riechen oder Schmecken in Beschlag genommen. Kagel türmt auf die Elemente auf, lässt ihre Konstellationen spielen. Dieses ausprobierend spielerische Element ist bei ihm schon bei der Materialsammlung zu beobachten. Nicht selten ist er am Fußboden seines Arbeitsraums zu finden. Fast wie ein Kind im Kinderzimmer hat er dort seine Bauklötze, hier sind es Aspekte, Anmerkungen, Tabellen, Listen, Notizen, oder kurze Skizzen zum Gegenstand, um sich versammelt. Die kindliche Fantasie des unterschiedlichen Zusammen-Stellens, des Verstellens, des Um- oder Einwerfens scheint ihm bis ins Alter geblieben. Und ebensowenig hat er sich die erwachsene Arroganz angeeignet, dass solches spielerische Tun einfach ins Leere laufe. Vielmehr rettet Kagel einen kreatürlichen, alle Sensorien umspannenden Umgang mit den Dingen, die in verkehrten und künstlich neu geordneten Konstellationen viel von ihrem inneren Sinn (und Unsinn) preisgeben.

Instrumentales Theater

Dass dies alles genuin theatral sei, wurde schon oft betont. Für Werke von Kagel, wohl angeregt von Arbeiten wie „Match“, wurde der Begriff des instrumentalen Theaters gefunden. Wirklich ist ihm alles theatral, vor allem wenn man darunter die Überschneidung diverser künstlerischer Tätigkeiten und ihr bewusstes Heraustreten aus dem realen Umfeld versteht. In diesem Sinne ist zum Beispiel „Exotica“, wo Instrumentalisten mit ihnen fremden, „außereuropäischen“ Klangerzeugern agieren, ebenso theatral wie sein Übertheaterstück par excellence, das alle Opernhausrequisiten auf die Spitze treibende und sie ihrem inneren Selbstlauf überlassende „Staatstheater“. Der Gedanke ist durchaus erlaubt, dass Wagners Prospekt eines Gesamtkunstwerks bei Kagel seine Einlösung findet. Nur die Werte haben sich verschoben. Kagel treibt das Theater nicht hinan in Sphären des Weihespiels (dieser Begriff träfe eher für Stockhausens LICHT-Zyklus zu), vielmehr führt er es zurück in den Alltag der Gebrauchsgegenstände. Theater ist ihm nicht Überhöhung der Realität, auch nicht moralische Instanz – zumindest nicht auf der ersten Ebene. Theater ist für Kagel Vexierspiegel oder die Proportionen durch Übertreibung deutlich machender Zerrspiegel unserer täglichen Unzulänglichkeiten.

Hierin ist Kagel Unikum. Kultur aber, will sie durch Austausch leben, braucht viele solcher Unika, die in die Lücken des noch nicht Gesehenen, Gehörten, Erkannten vorstoßen. Angst, dass ihm einmal der Stoff ausgehen könnte, die postmoderne Angst vor der Enge des „Es-ist-alles-schon-gesagt“ kennt Kagel nicht. Denn die täglichen Unzulänglichkeiten sind zahllos. Sie mögen im Konzert schon bei der ersten Verkleidung beginnen, beim Frack. Auch dazu hat sich Kagel – selbstredend – geäußert: „Uniformen bleiben die effektvollsten Hilfsmittel, um Einheitlichkeit vorzutäuschen – sie lassen den Beobachter außerdem leicht erkennen, wann der Träger in der Öffentlichkeit tätig, ja im Dienst ist.

Und analog zum Militärwesen verwenden Musiker und Orchesterverwaltung den Begriff „Dienst“, um ihre auf bestimmte Zeit begrenzte Beschäftigung zu benennen. Beim Frack handelt es sich also um kein beliebiges Kleidungsstück, sondern um ein Requisit mit klarer Funktion. Die Grundsätze, auf denen der Frackzwang beruht, sind einfach: Durch die gleiche Verkleidung für alle Ausführenden soll die Physis des Einzelnen in den Hintergrund treten und die musikalische Leitung des Ensembles zugleich hervorgehoben werden. Von der vermeintlichen Anonymität erhofft man sich eine schlagkräftige Wirkung auf die Zuhörer; Vielfalt brächte Ablenkung von der Musik und wäre somit des Teufels.“

Bleibt nur, Mauricio Kagel noch viele Jahre, angefüllt mit solch zwielichtigen Randnotizen gegen unsere hoffentlich erschütterliche Ruhe, zu wünschen.

(Die Zitate sind dem Buch „Mauricio Kagel. Dialoge, Monologe, hrsg. von Werner Klüppelholz, DuMont Köln 2001“ entnommen.)

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