Professor Dr. Michael Fuchs ist Leiter der Sektion Phoniatrie und Audiologie des Zentrums für Musikermedizin sowie des Cochlea-Implantat-Zentrums am Universitätsklinikum Leipzig. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des 21. Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme, das vom 21. bis 23. Februar 2025 in der Hochschule für Musik und Theater Leipzig stattfindet. Das Thema des diesjährigen Symposiums lautet „Perspektiven I: Zukunftswelten“ und dies ist inhaltlich-thematisch verknüpft mit dem Thema „Heimaten“ des Symposiums im darauffolgenden Jahr 2026. Als ehemaliger Thomaner ist Fuchs mit dem Thema (Chor-)Gesang auch aus persönlicher Erfahrung bestens vertraut. Burkhard Schäfer hat mit ihm über die Stimme, das „Instrument des Jahres“ 2025 und das anstehende Leipziger Symposium gesprochen.
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Michael Fuchs. Foto: UKL/S. Straube
Das Gelingen hängt von musikalischen Erfahrungen ab
neue musikzeitung: Herr Fuchs, die Stimme ist das Instrument des Jahres 2025. Können Sie uns als Fachmann einen kurzen Überblick darüber geben, wie das Instrument, das wir alle zur Verfügung haben, funktioniert? Denn wenn ich singe, erscheint es mir mitunter wie ein Wunder, dass ich nicht irgendeinen unartikulierten Laut von mir gebe, sondern es schaffe, eine Melodie zu singen. Wie kann man wissenschaftlich erklären, dass ich die Töne treffe?
Michael Fuchs: Ich finde es schön, dass Sie den Begriff Wunder verwenden. Tatsächlich hören wir einen Ton und erhalten dabei eine auditive Information über seine Klangstruktur. Diese besteht aus einer Grundfrequenz, die für die Wahrnehmung der Tonhöhe entscheidend ist. Aber gleichzeitig klingen sowohl beim Instrument als auch bei der menschlichen Stimme Obertöne mit. Und aus diesem physikalisch-akustischen Konglomerat entschlüsselt mein Gehirn, dass es sich zum Beispiel um ein – etwa von einem Klavier gespieltes – eingestrichenes C handelt.
Singen als komplexer Vorgang
nmz: Wie komme ich dann von der Wahrnehmung dieser Grundfrequenz zu deren Reproduktion mit der Stimme?
Fuchs: Dies ist ein relativ komplexer Vorgang. Die Wahrnehmung des Gehörten findet im seitlichen hinteren Bereich des Gehirns statt. In der Schläfenwindung unseres Gehirns werden akustische Impulse entschlüsselt. Das heißt vereinfacht gesagt: Mein Gehirn arbeitet von hinten nach vorne. Im Frontallappen kommt es zu einer Planung, die festlegt, welcher Ton gesungen werden soll. Dabei spielt etwas Wichtiges eine Rolle, nämlich dass man diesen Ton davor schon zigmal gesungen hat, beispielsweise in der Kindheit oder Jugend, vielleicht in einem Chor.
nmz: Wir können singen, weil wir als Kind gesungen haben? Das klingt tautologisch…
Fuchs: Wir haben im Grunde genommen ein Muster abgespeichert, das uns sagt: Wenn ich diesen Ton auf den Vokal „O“ singen möchte, dann muss ich eine bestimmte Abfolge von Vorgängen in meinem Körper ablaufen lassen. Erstens muss ich einatmen, damit ich vorher erst mal ein Luftreservoir speichern kann. Denn das ist das Großartige bei der menschlichen Stimme, dass sie aus dem Abfallprodukt des menschlichen Körpers, nämlich der Ausatemluft entsteht, die ich nicht mehr brauche. Das ist sehr ökonomisch organisiert.
nmz: Welche Abläufe folgen dabei weiter bis zu meinem gewünschten Ton?
Fuchs: Als nächstes muss die Stimmritze sich schließen. Das ist eine Muskelaktivität, die vom Frontallappen des Gehirns gesteuert wird. Das heißt, die Stimmritze geht zu, damit die Anblase-Luft von unten die Stimmlippen überhaupt in Schwingung versetzen kann. Und jetzt kommt wirklich etwas Spannendes: Zugleich werden die Stimmlippen gespannt, und zwar genau in dem Maß, um genau diesen Ton zu treffen. Hohe Töne brauchen eine höhere Spannung der Stimmlippen, tiefe Töne eine geringere. Und genau für diese Intensität der Spannung muss ich aus meiner Erfahrung schöpfen.
nmz: Wie bringe ich es dann schlussendlich zum gewünschten Vokal „O“?
Fuchs: Es müssen noch die Muskeln in den Ansatzräumen im Vokaltrakt darüber informiert werden, welche Position sie denn nun einnehmen müssen, damit der Vokal „O“ entsteht; dazu braucht es beispielsweise eine Lippenrundung. Der vordere Mundraum wird weit und der Zungengrund bewegt sich nach hinten und oben.
nmz: Wieviel Übung benötige ich als Mensch dafür?
Fuchs: Das Gelingen hängt von all den bisherigen musikalischen Erfahrungen ab. Wenn ich das noch nie gemacht habe, brauche ich viele Wiederholungen, um mein Gehirn zu trainieren. Bei einem geübten Sänger – und selbst bei einem Laiensänger – ist das ein ausgereifter und automatischer Prozess.
nmz: All diese spannenden Feinheiten rund um die Stimme sind auch Themenfelder Ihres jährlich veranstalteten Symposiums. Können Sie uns auf die diesjährige Veranstaltung einen kurzen Ausblick geben?
Das Leipziger Symposium
Fuchs: Wir veranstalten seit 21 Jahren immer am letzten Wochenende im Februar ein Symposium, das sich an ein großes interdisziplinäres Publikum richtet. So bestehen unsere etwa 450 Teilnehmenden zu etwa einem Drittel aus den medizinisch-stimmtherapeutischen Berufsgruppen, also Ärzten oder die große Gruppe der Stimmtherapeuten, Logopäden et cetera und die anderen zwei Drittel sind Gesangspädagogen: Musiklehrer, Musikschullehrer, Gesangslehrer, Chorleiter, Stimmbildner – gewissermaßen alle, die sich im künstlerischen Bereich mit diesem Themenkreis beschäftigen. Das Ganze ist vom Themenspektrum her fokussiert auf die ersten zwanzig Lebensjahre, somit auf das Kindes- und Jugend- sowie das junge Erwachsenenalter. Tatsächlich steht das Symposium jedes Jahr unter einem anderen Motto: In diesem Jahr beispielsweise heißt das Thema „Zukunftswelten“.
nmz: Wie gliedert sich das Symposium von der Organisation her auf?
Fuchs: Das Symposium geht immer von Freitagmittag bis Sonntagmittag und besteht einerseits aus Fachvorträgen zu den verschiedenen Themenbereichen und andererseits aus Workshops, die sich während des Symposiums ständig wiederholen, sodass jeder Teilnehmer jeden Workshop in diesem Rotationssystem in Ruhe erleben kann. Dabei handelt es sich um vier Workshops, auf die sich dann die Teilnehmenden verteilen.
nmz: Worauf dürfen sich die Besucher des Symposiums dieses Jahr freuen?
Fuchs: Wir stellen uns die Frage, was wir denn in den nächsten 10, 15, vielleicht auch 20 Jahren zu erwarten haben: Was ändert sich oder was entwickelt sich einerseits in der Stimmmedizin? Denken wir nur an die künstliche Intelligenz. Die KI hilft uns sehr, Stimmen zu analysieren. Sie kann etwas, was kein Arzt und kein Logopäde können, nämlich in kürzester Zeit eine Stimme mit 10.000 anderen Stimmen zu vergleichen. Hier haben wir den Fall der analytischen KI und das ist etwas, was uns im klinischen Alltag helfen wird. Dann kommt als weiteres Thema die Verschmelzung von Menschen und Technik hinzu, was auf den ersten Blick scheinbar nichts mit Musik tun hat. Aber denken Sie nur mal an hörgeschädigte Menschen, denen wir mit einem Cochlea-Implantat helfen können, also dem Einpflanzen einer Elektrode in das Innenohr, damit diese Betroffenen zur Sprache hinzu auch wieder Musik hören können. Es gibt CI-Träger, die schaffen es sehr gut – zumindest semiprofessionell – zu musizieren. Das heißt also mit anderen Worten, wir haben eine spannende Entwicklung, die auch unsere Arbeitsplätze verändern wird.
Das Potenzial der KI
nmz: Wer ist Ihr diesjähriger Hauptreferent?
Fuchs: Das ist Bertolt Meyer aus Chemnitz, der vor zwei Jahren Hochschullehrer des Jahres war. Er trägt selbst eine Handprothese und forscht zu dem Thema „Verschmelzung von Mensch und Technik“ und dazu, wie sich unsere Arbeitsplätze dadurch verändern. Das sollte man gar nicht mit zu viel Angst beobachten, da KI das Potenzial hat, uns viele langweilige Dinge, die wir nicht gerne machen oder die wir nicht so gut können, abzunehmen, damit wir unsere Energie wieder in anderes stecken können.
nmz: Was bedeutet die Entwicklung der KI hier für die Musik?
Fuchs: Auf dem musikalischen Gebiet spielt natürlich die generative KI eine wichtige Rolle, also die KI, die quasi Musik selbst generiert. Ich freue mich beispielsweise, dass mit Bruno Kramm ein sehr erfahrener und auch in der Szene sehr etablierter Musiker kommt. Er ist ebenfalls Inhaber einer entsprechenden Firma, bei der es um generative KI geht. Er hat beispielsweise ein Musikinstrument entwickelt, ein ukrainisches Zupfinstrument, das durch eine KI gesteuert wird und wir werden auf der Bühne erleben, wie die KI mit diesem Instrument improvisiert.
nmz: Können Sie uns auch noch ein wenig über Ihren weiteren Schwerpunkt bei diesem Symposium erzählen?
Ausbildungswege
Fuchs: Bei unserem zweiten Themenschwerpunkt geht es um wegweisende Entscheidungen in der Zukunft: Wie ändern sich unsere Ausbildungswege? Was ändert sich bei Schulchören? Was ändert sich in der Ausbildung des populären Gesangs im Studium des klassischen Gesangs? Welche Entwicklungen gibt es dort? Wie verschmelzen auch die verschiedenen Stilrichtungen mehr und mehr miteinander? Wie verändern sich in der Medizin und in künstlerischen Studiengängen Bewertungen, also Prüfungen? Schon heute haben wir andere Formen der Prüfung, als wir es noch vor zehn Jahren hatten.
nmz: Würden Sie uns dazu bitte noch ein konkretes Beispiel nennen?
Fuchs: In der Medizin beispielsweise kommt es darauf an, viel mehr praktische Fertigkeiten zu prüfen als das reine Faktenwissen, das zum Beispiel mit Multiple-Choice-Tests abgeprüft wird. Heute absolvieren Studierende mehrere praktische Prüfungsstationen in einem Rotationsprinzip, an denen sie Fertigkeiten zeigen müssen, die sie im Beruf brauchen oder werden bei Untersuchungen und Behandlungen oder auch in spezifischen Gesprächssituationen mit Patientinnen und Patienten beobachtet. Es gibt Parallelen und Unterschiede zu den musikpädagogischen Prüfungen, zum Beispiel bei objektiven und subjektiven Bewertungskriterien. Ob etwas technisch gut gespielt ist, kann man glaube ich, insgesamt recht gut bewerten. Komplexer wird es, wenn es um die Ausdrucksweise und Interpretation junger Sängerinnen und Sänger geht.
- Interview: Burkhard Schäfer
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