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„Jalil Aman“: unterwegs zu Sehnsuchtsorten mit Mädchenchorgruppen der Berliner Sing-Akademie. Foto: Maren Glockner
„Jalil Aman“: unterwegs zu Sehnsuchtsorten mit Mädchenchorgruppen der Berliner Sing-Akademie. Foto: Maren Glockner
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Der Klang der Wüste, die Lieder der Sehnsucht

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Das Berliner Kinderchor-Symposium zwischen Poesie und gesellschaftlichen Fragen
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Damit hatten sie nicht gerechnet. Dass mit ein paar Tönen ihr gesamtes musikalisches Wissen auf den Kopf gestellt wird. Der irakische Musiker und Komponist Saad Thamir versucht das Unmögliche: binnen einer Stunde das arabische Musiksystem zu erklären.

Sein Ton ist ungeduldig. „Wir haben kein Motiv, wir verstehen nicht mal, was das ist“, sagt Thamir. Über Jahrhunderte gab es in seiner Heimat nur Sänger und Instrumentalisten, keine Musiktheoretiker, keine Historiker, keine Musikwissenschaftler. „Vor etwa 100 Jahren wollte man verstehen lernen, was die arabische Musik ist“, sagt Thamir. Auf der ersten Konferenz für arabische Musik 1932 in Kairo stand unter anderem der deutsche Musikethnologe Curt Sachs auf der Gästeliste. Bis heute aber gibt es nur vage Ansätze einer musiktheoretischen Sprache. Saad Thamir benutzt Vergleiche, um die Unendlichkeit der orientalischen Musik für die westlichen Kollegen greifbar zu machen: die Intarsien, die Märchen aus 1001 Nacht, Koran-Rezitationen, die sechs Tage ununterbrochen andauern können. Verlobung, Hochzeit und Begräbnis haben ihren eigenen musikalischen Ausdruck, Thamir könnte noch Dutzende solcher Themen aufzählen. Aus einer Keimzelle entsteht ein unendliches Netz, so beschreibt er es. Aus einem Sandkorn bildet sich die Wüste.

Für Kai-Uwe Jirka, Direktor des Staats-und Domchores Berlin und ein seit Kindheitstagen nie pausierender Musiker, ist es dieser Augenblick der Ahnungslosigkeit, der ihm besonders in Erinnerung bleibt. In der Abschlussdiskussion wird er das achte Berliner Symposium „Kinder singen!“ als „eine Ausgabe mit einer besonderen Farbe“ beschreiben. Zum Start der Tagung am vorletzten April-Wochenende können die 120 Teilnehmer erst ahnen, wie die diesjährigen Themen ineinandergreifen, anregen, gesellschaftliche und lebensphilosophische Impulse bieten. Das Kinderchor-Symposium 2017 stellt Fragen nach Integration und Identität, stellt die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt. Für die Chorleiter, Stimmbildner und Kirchenmusiker ist das der entscheidende Teil ihrer täglichen Arbeit – doch der Austausch darüber käme vor lauter Alltagsaufgaben viel zu kurz, findet Gudrun Luise Gierszal, die das Symposium gemeinsam mit Kai-Uwe Jirka vor knapp zehn Jahren gegründet hat. Sie sei froh, den Teilnehmern den Luxus bieten zu können, sich den Fragen hinter allem Organisatorischen und Fachlichen zuzuwenden. So bildet sich in Vorträgen, Workshops und Kurzgesprächen im World Café ein Mosaik: Orient und Okzident begegnen sich klanglich, Erfahrungsberichte aus der Arbeit mit geflüchteten Kindern stehen neben Erzählungen aus einem Kinderchor, in dem es keinerlei Aufnahmehürden gibt. Das klassische Programm des Symposiums bleibt mit Experten-Hörstudio, Hospitationen in den Gruppen des Staats- und Domchores und des Mädchenchores der Sing-Akademie und der Möglichkeit zum Austausch zu  stimmtherapeutischen Fragen, Aufführungsformaten und neuer Kinderchorliteratur.

Austragungsort des Symposiums ist das prominenteste Gebäude der Fakultät Musik der Berliner Universität der Künste (UdK). In dem Gebäude an der Bundesallee im Stadtteil Wilmersdorf befand sich früher das Städtische Konservatorium. Nun ist dort das Sommersemester angelaufen, Musikstudenten kommen täglich hierher, um in geschützter Atmosphäre an ihren Programmen zu feilen. Perfektion kennt kein Wochenende. In dieser Atmosphäre wirken die Gedanken von Yoshihisa Matthias Kinoshita wie eine Meditation. Mit dem Wolfratshauser Kinderchor stand er in der Kategorie Kinderchöre zweimal an der Spitze des Deutschen Chorwettbewerbs. Besonderes Merkmal seines Chores: Die Kinder werden nicht ausgewählt, auch scheinbar weniger begabte Kinder werden durch intensive Stimmbildung an die hohen Ansprüche herangeführt. Über Erfolge zu reden, ist jedoch weder die Art noch das Interesse des Deutsch-Japaners. Was ihn bei seiner Arbeit entscheidend trägt, ist das Wissen darum, dass gelingende zwischenmenschliche Beziehungen stärker wirken können als der eigene Selbsterhaltungstrieb. „Der Kern ist, den anderen wahrzunehmen“, sagt Yoshihisa Kinoshita. Es gäbe eine afrikanische Begrüßungsformel, die im übertragenen Sinne meint: „Wenn du mich wahrnimmst, bringst du mich in meine Existenz.“ Dass das mit Musik besonders gut geht, haben Wolfgang Lessing, Professor für Musikpädagogik in Dresden, und seine Studenten erlebt. In der Hochzeit der Pegida-Proteste haben sie in einem Flüchtlingswohnheim einen Kinderchor gegründet. Der war von Anfang an als Projekt auf Zeit gedacht. Ein Chor bietet den jungen Leuten die Chance, sich in verschiedenen Rollen auszuprobieren, sagt Wolfgang Lessing. So etwas gibt es nicht überall auf der Welt. „Wenn Europa etwas Besonderes hat, ist es vielleicht doch die Chorkultur.“

Musik und Integration: Das ist vor allem in den Großstädten kein neues Thema. Auch im Staats- und Domchor haben viele Sänger bunte Herkunftsgeschichten und wachsen zwei- oder mehrsprachig auf. Aber den Gründern des Symposiums war es wichtig, sich in diesem Jahr dem Thema zu widmen. Und es wird weitergehen: Gerade bereiten die Staats- und Domchor-Mitarbeiter zwei weitere Projekte vor, Kontakte sind unter anderem zum Deutsch-Arabischen Zentrum geknüpft. Im Erwachsenenbereich geht der Berliner Begegnungschor mit einem denkbar einfachen, aber effektiven Prinzip voran. Jeder, der mitsingen will, muss mit einem Geflüchteten im Tandem zur Probe kommen. Singen als Integrationsbeschleuniger – beim Mitsingkonzert ist die Stimmung derart ausgelassen, dass man es sofort glauben will.

Nicht nur zum Finale des Symposiums ist es zu spüren, beim Versuch, unter der geduldigen Anleitung von Wassim Mukdad im arabischen Schlaflied „Yal Lat Nam“ die Dreivierteltöne richtig zu treffen: Teilnehmer wie Referenten haben sich bewegen lassen von den Themen und würden den Austausch lieber heute als morgen fortsetzen. Zumindest offiziell wird frühes­tens 2019 angeknüpft. Um mehr Planungsvorlauf zu haben, wird das Kinderchor-Symposium nur noch alle zwei Jahre stattfinden, das nächste Mal vom 5. bis 7. April 2019. Es bleibt fester Programmpunkt im Weiterbildungsangebot des Berlin Career College der UdK, das das Symposium in Zusammenarbeit mit dem Staats- und Domchor und der Sing-Akademie zu Berlin veranstaltet.

Im Verlauf des Wochenendes finden natürlich auch diejenigen Gehör, um die es ja hierbei geht: singende Kinder. In ihrem Konzert „Jalil Aman“ mit orientalischen und europäischen Kinderliedern machen sich zwei der fünf Mädchenchorgruppen der Sing-Akademie zu unterschiedlichen Sehnsuchtsorten auf. Im Text, der eingangs eingespielt wird, hört man die Mädchen über ihre eigenen Sehnsuchtsorte sprechen; in den Liedern sind es die der Dichter aus dem Orient und Okzident. „Unter den Vögeln kann keiner dir gleichen“, heißt es in einem armenischen Lied. „Nimm dieses Briefchen von meiner Hand. Magst wohlbehalten die Heimat erreichen, und mir Nachricht bringen aus unserem Land.“

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