„Setzen Sie Ihren Chor ins rechte Licht!“ Unter diesem Motto hatte die nmz im April einen Chorporträtwettbewerb ins Leben gerufen. Einzureichen waren Texte zwischen 4.000 und 6.000 Zeichen sowie zwei Bilder. Auf der chor.com in Dortmund wurden die drei gleichwertigen Gewinner verkündet, die mit 500 Euro und einem Abdruck in der nmz ausgezeichnet wurden. Den Anfang macht das Collegium Cantabile des Liederkranz Germania Süßen:
Im Brockhaus steht: „Ein Chor ist eine Gruppe von Sängern, die eine einstimmige oder mehrstimmige Komposition so vortragen, dass mehrere von ihnen die gleiche Einzelstimme singen.“ Wie bitte? Das geht auch einfacher: „Ein Chor ist eine Gruppe von Individualisten, die gerne singen.“ Das ist eine Tatsache, von der jeder weiß, der schon einmal in einem Chor gesungen hat.
Auch unser Chor, das Collegium Cantabile vom Liederkranz Germania Süßen, setzt sich aus 38 Menschen ganz unterschiedlicher Prägung zusammen: Es gibt die Stillen, die sonst nicht laut reden, aber vor einem ausgewachsenen Fortissimo genauso wenig zurückschrecken wie die für gewöhnlich etwas lauteren Zeitgenossen.
Es gibt jene, die gerne viel reden, aber kein Problem haben, ein ganzes Lied nur „ooh“ und „ah“ zu singen, ohne eine vernünftige Aussage zu tätigen, während sich die eher einsilbigen unter den Mitgliedern in einem aberwitzigen Tempo den Mund fusselig singen, um den Text deutlich rüberzubringen. Sänger, für die ein Notenblatt kein Buch mit sieben Siegeln ist, sitzen neben Kollegen, die eine Viertel zur Not von einer Achtel („das ist doch die mit dem Fähnchen am Stiel“) unterscheiden können und sich ansonsten auf ihr Gehör und ihr Bauchgefühl verlassen.
Da sind die Jungen, gerade mal 17, die es nicht so richtig nachvollziehen können, wenn bei manchen Altgedienten, so um die 58, freitagabends um 22:00 Uhr die Speicherkapazität schon mal gegen null tendiert. Wobei jedoch von den Älteren ein paar seit Gründung des Chores vor 34 Jahren mit dabei sind und nichts von ihrem Enthusiasmus eingebüßt haben.
Das Collegium Cantabile war aber nicht immer so offen für die Vielfalt der menschlichen Natur und Sangeskunst. Als der Chor 1979 gegründet wurde, wollten die jungen Sänger weg vom chorischen Einheitsbrei und fanden nach ein paar Jahren des Ausprobierens ihren Weg. In Wettbewerben ersang man sich verschiedene Meisterchortitel, machte Aufnahmen beim Radiosender und ging auf nicht wenige Chorreisen durch Europa. Dann kam jedoch, was kommen musste, man wurde älter und die Zeit knapper, da Beruf und Familie ihren Tribut forderten. Eine bereits geplante Chorreise musste wieder abgesagt werden, da bei den Frauen die „Schwangeritis“ ausgebrochen war. Die homogene Gruppe begann auseinanderzufallen. Neue Sänger? Was wird dann aus unserem hart erarbeiteten Chorklang? Das Collegium Cantabile trug zu dieser Zeit nicht umsonst den Spitznamen „Collegium Canibale“, da es den Neuen nicht gerade einfach gemacht wurde.
Aber wenn man die Wahl hat zwischen keinem Chorklang, weil es den Chor nicht mehr gibt, oder einem neuen Chorklang, weil es andere Sänger sind, fällt die Wahl wohl eher auf das Letztere. So auch in diesem Fall. Der Chor begann sich zu öffnen, was aber nicht heißen soll, dass heute jeder, der meint, singen zu können, automatisch aufgenommen ist. Nach wie vor gibt es eine dreimonatige Probezeit, in der sich zeigen soll, ob der oder die Sänger/-in zum Chor passt und der oder die Neue herausfinden kann, ob der Chor das Richtige für ihn ist. Der Unterschied zu früher besteht darin, dass heute neue Sänger mit offenen Armen begrüßt werden und man nicht mehr das Gefühl hat, feindliches Territorium zu betreten.
Um noch einmal auf den Brockhaus zurückzukommen. Leider findet sich darin keine Erklärung für das Wort Chorleiter, dabei wäre eine Definition ganz einfach: „Eine Person mit unendlich viel Geduld und Nerven wie Drahtseile, die die Gruppe von Sängern anleitet, um das zu erreichen, was unter Chor beschrieben.“ Im Collegium Cantabile ist diese Person seit mehr als 25 Jahren Günther Lehmann, Chorleiter und wandelndes Musiklexikon, der die Meinung vertritt: „Es gibt viel zu viel schöne Musik durch all die Jahrhunderte, dass es einfach schade wäre, sich nur auf ein Genre zu beschränken.“
Daher kommt es, dass bei uns die „Tochter der Heide“ (Hugo Distler), „Tanzend und Springend“ (Renaissance) am „Lindenbaum“ (Schubert) vorbei nach „Paris“ (Wise Guys) gelangt, um sich dort, zusammen mit den „Engeln“ (Rammstein) die „Cantus Missae in Es-Dur“ (Rheinberger) anzuhören. Vielseitig wie unser Repertoire sind auch unsere Auftritte. Ob eine Reise zum deutschen Chorfest nach Frankfurt, eine Teilnahme an einem Chorduell, veranstaltet von einem Radiosender, Benefizkonzert, Chorfestival oder ganz einfach vor heimischem Publikum ein Vereinskonzert – für alles sind wir offen. Nur eines muss immer stimmen: die Qualität des Gesangs.
Dieser Umstand bedarf manchmal großer Geduld auf beiden Seiten. Schon das kleine Thema: „Wo darf ich in diesem Stück atmen?“, erfreut sich allgemein großer Beliebtheit. Denn jeder Sänger weiß aus eigener Erfahrung, dass man immer dort Luft holen möchte, wo es der Chorleiter ganz und gar nicht für angebracht hält. Dies gipfelte einmal in der Aussage Günther Lehmanns: „ Wieso atmen? Atmen könnt ihr zu Hause!“ Um nicht nur das „nicht Atmen“ intensiv proben zu können, fährt das Collegium Cantabile einmal im Jahr ins „Trainingslager“ nach Leutkirch, ins schöne Allgäu.
Allerdings soll es Sänger geben, die nach zehn Jahren immer noch keine Ahnung haben, wie die Innenstadt von Leutkirch überhaupt aussieht, da die Proben von Freitagabend bis Sonntagmittag sehr gesangsintensiv sind und das sich abends anschließende Beisammensein nicht minder. Somit werden die wenigen Pausen zum Erholen und nicht etwa zum Sightseeing genützt. Der Aufenthalt in Leutkirch ist aber nicht nur eine Zeit des Singens, sondern auch eine Zeit, so komisch es klingt, des Kennenlernens. Hier hat man die Gelegenheit, mit Mitgliedern ins Gespräch zu kommen, zu denen man ansonsten kaum Kontakt findet, und das Miteinander zu pflegen.
Wobei es natürlich im „Mikrokosmos Chor“ noch weitere Gelegenheiten gibt, das Miteinander und das Leben zu feiern. Egal ob man auf Hochzeiten tanzt, von denen nicht wenige im Chor selber entstanden sind, auf Kinder anstößt, die geboren wurden oder an Geburtstagen gemütlich beisammen sitzt. Es gibt immer einen guten Grund, ein Lied zu singen – solange jemand da ist, der die Töne gibt. Und am allerschönsten ist es, dass heute die mit dem Chor älter gewordenen Kinder der Sängerinnen und Sänger den „Fanclub“ oder noch besser den Nachwuchs des Collegiums bilden, weil sie es einfach „geil“ finden, was wir machen.