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Der Kammerchor der Hochschule für Musik Detmold (Erster Peisträger beim Deutschen Chorwettbewerb 2014) bildet den Studiochor für den chor.com-Workshop mit Anne Kohler (rechts). Foto: HfM Detmold
Der Kammerchor der Hochschule für Musik Detmold (Erster Peisträger beim Deutschen Chorwettbewerb 2014) bildet den Studiochor für den chor.com-Workshop mit Anne Kohler (rechts). Foto: HfM Detmold
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Qualitätvolle und machbare Stücke sind Mangelware

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Anne Kohler im Gespräch über zeitgenössische Chormusik, einem Schwerpunkt des Branchentreffs chor.com 2015
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Vom 1. bis 4. Oktober findet in Dortmund die dritte Ausgabe der chor.com statt. Ein Schwerpunkt des Branchentreffs liegt in diesem Jahr auf zeitgenössischer Chormusik. So führt etwa das SWR Vokalensemble unter der Leitung von Rupert Huber am Freitag, den 2. Oktober in St. Marien neue Werke auf, die vom Deutschen Chorverband, dem Initiator und Veranstalter der chor.com, in Auftrag gegeben wurden. Des Weiteren leitet Anne Kohler, Professorin für Chorleitung an der Hochschule für Musik Detmold, einen Intensivkurs Chordirigieren mit dem Thema „Zeit-Genossen! Expeditionen ins 20. und 21. Jahrhundert“ (Abschlusskonzert am 3. Oktober im Großen Saal des Orchesterzentrums NRW). Juan Martin Koch befragte die Chorleiterin zum Schwerpunkt ihres Workshops.

neue musikzeitung: Unter anderem mit Ihrem Intensivkurs Chordirigieren und Auftragskompositionen setzt die chor.com dieses Jahr ein bewusstes Zeichen in Sachen zeitgenössische Musik. Inwiefern hat die Chorszene da Aufholbedarf?

Anne Kohler: Freie Laienchorszene und Kirchenmusik orientieren sich gern an Bekanntem aus vergangenen Jahrhunderten, wodurch der Zustrom von Zuhörerschaft im Konzert gesichert und die zu Recht als Meisterwerke abendländischer Chormusik bekannten Stücke als Kulturgut und zur Erbauung gepflegt werden. Das ist insofern gut und sinnvoll, als wir auf diese Art Verbindung zu unseren kulturellen und religiösen Wurzeln halten, einen Bildungsauftrag erfüllen und die großen Vokalwerke älterer Epochen zu faszinierend lebendigen Botschaftern aus der Vergangenheit erwecken. Gerade die historische Aufführungspraxis geht hier mit Quellenstudium und dem Spiel auf historischen Instrumenten interessante Wege. Da aber jede Kunst Abbild und Ausdruck ihrer Zeit ist, so verwundert es, dass wir uns im musikalischen Bereich dem Neuen und Aktuellen gegenüber eher skeptisch und hilflos verhalten. Es fehlt hier in meinen Augen an qualitätvollen, machbaren und spannenden Stücken. Die Repertoirekenntnis der Chorleiter scheint unzureichend und die Zahl der Komponisten, die einschätzen können, was ambitionierte Laienchöre zu leisten imstande sind, wirkt gering. Viele Chöre stürzen sich auf klangschöne, aber vom kompositorischen Gehalt eher banal wirkende Stücke. Insofern freut es mich, dass die diesjährige chor.com in diesem Bereich einen Schwerpunkt setzt.

nmz: Hat die Zurückhaltung von Chorleitern/-innen damit zu tun, dass die Repertoirekenntnis zu gering ist, oder man von dem abgeschreckt ist, was man kennt?

Kohler: Wie Rupert Huber in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Neuen Chorzeit“ andeutet, schwankt die zeitgenössische Chorliteratur einerseits zwischen an Filmmusik orientiertem, chorisch gut realisierbarem Kitsch, peinlich ordinären popmusikalischen Elementen im Bereich „Neues Geistliches Lied“ und andererseits stimmlich extrem anspruchsvollen und komplexen Stücken, die ausschließlich von Profichören umsetzbar sind. Bis auf wenige Ausnahmen fehlt uns in Deutschland eine interessante Mitte, die originelle und handwerklich gut gemachte, mittelschwere Stücke für Chöre schreibt. Unter anderem könnte es daran liegen, dass die Kompositionsstudenten an deutschen Hochschulen wenig Kontakt zum Arbeitsfeld Chor haben. In Skandinavien singen die Komponisten jahrelang selber im Chor und arbeiten eng mit Dirigenten zusammen. Ein anderer Grund liegt vielleicht in der überintellektuell wirkenden Angst vor Gebrach der Dur-Moll-Tonalität. Nach dem großen Umbruch um 1920, der Erfindung von Atonalität und Zwölftonmusik, graphischer Notation und Aleatorik haftet tonal gedachten Werken zu Unrecht ein unangenehmer Beigeschmack an, der sie trotz kompositorischer Qualitäten zuweilen in eine Sackgasse manövriert. Anders sieht es mittlerweile im Bereich Literatur für Jazzchor aus. Hier kann man von einer rasanten Weiterentwicklung des Komponierens und Arrangierens sprechen. Das Angebot an Arrangements und Arrangierkursen ist groß, jede A-Capella-Gruppe lebt von den Stücken ihres Hausarrangeurs. Hier ist die Zahl der Uraufführungen gigantisch hoch. Noten müssen geschützt werden, damit sie nicht unerlaubt weitergegeben und kopiert werden.

nmz: Welchen Tipp haben Sie für Chorleiter/-innen auf entsprechender Werksuche?

Kohler: Durchforsten Sie Konzertprogramme anderer Chöre. Suchen Sie Kontakt zu Komponisten – diese sind oft sehr dankbar, wenn Chöre ihre Werke in Proben ausprobieren oder aufführen. Nutzen Sie Angebote der Verlage, Probeseiten der Noten zur Verfügung zu stellen und Hörproben ins Netz zu stellen. Scheuen Sie vor Youtube als Informationsplattform nicht zurück. Besuchen Sie internationale Chorwettbewerbe. Haben Sie den Mut, Auftragskompositionen an Komponistinnen und Komponisten Ihrer Wahl zu vergeben. Schärfen Sie Ihr Qualitätsbewusstsein an Meisterwerken der Chormusik und verlangen Sie von den Komponisten, dass Parameter wie formale Geschlossenheit, Spannungsverlauf, Wort-Ton-Verhältnis, Melodik, stimmliche Realisierbarkeit, klangliche Disposition, rhythmische Kreativität, Humor et cetera auf hohem Niveau behandelt werden.

nmz: Wie ist die Werkauswahl für Ihren Kurs entstanden?

Kohler: Meine Grundidee war, in Zehn-Jahresschritten durch das 20. und 21. Jahrhundert zu gehen und in einer Art Retrospektive ausgewählte und mir aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen besonders kostbar erscheinende Chorwerke chronologisch hintereinander zu stellen. Hier werden sowohl nationale Gegensätze als auch Unterschiede in der musikgeschichtlichen Entwicklung deutlich. Während Anton Webern die Grenzen der Tonalität zu sprengen versucht, schreibt Rachmaninow ein Stück, das zu 80 Prozent aus F-Dur-Klängen besteht. Beide Stücke sind herrliche Musik. Das Programm ist allerdings kein repräsentativer Querschnitt geworden – dafür fehlen zu viele wichtige Strömungen und Komponisten.

nmz: Welche Herausforderungen stellen die Kompositionen, stimmlich und im Bezug auf ihre Einstudierung dar?

Kohler: In der Einstudierung muss sich die Methodik am Werkcharakter und an dessen chorpraktischen Schwierigkeiten orientieren. Bei Webern und Rihm nimmt das Hören und Singen der exakten Tonhöhen viel Raum ein, bei Rachmaninow zählt von Beginn an die Beschäftigung mit der warmen Klanglichkeit und den großen dynamischen Bögen. Das Stabat Mater von Penderecki verlangt vom Sänger rhythmische Präzision und das Halten langer, hoher Töne sowie den Umgang mit Clustern. Mir ist es wichtig, diese Schwierigkeiten methodisch so zu meistern, dass der Chor nicht abgesungen oder gelangweilt ist.

nmz: Mit Murray Schafers „Chant to bring back the wolf“ ist auch ein Werk mit Performance-Elementen dabei. Welche Rolle spielt ganz allgemein die Bühnenpräsenz für die Wirkung der Stücke?

Kohler: Bühnenpräsenz ist heutzutage ein stark strapaziertes Wort und darf nicht mit Inszenierung verwechselt werden. Wir bringen neuerdings gerne Musik zu Gehör UND zu Gesicht, weil unsere visuell gesteuerte Medienwelt den Menschen durch Reizüberflutung am Zuhören hindert. Das alleinige Hören erscheint uns nicht mehr attraktiv genug zu sein. Wenn jemand jedoch differenziert und emotional musiziert, ist Bühnenpräsenz automatisch gegeben, da der Musiker ganz im Hier und Jetzt Ausdruck lebt. Eigentlich wäre es mir lieber, wenn wir das Zuhören neu lernen würden, anstatt der Gier des Auges durch immer umfassendere Inszenierungen Rechnung zu tragen. Bühnenpräsenz oder das, was man dafür hält, ist in der Gefahr, leeres Gehampel zu sein, sobald sie dem Werk etwas hinzufügen möchte, das nicht aus der Emotion der Musik kommt.

nmz: Gibt es Schnittpunkte mit dem Bereich Jazz/Pop, die man einsetzen könnte, um den Zugang für die Sängerinnen und Sänger (und fürs Publikum) zu erleichtern?

Kohler: Das Publikum braucht für manche Werke einen erklärenden Zugang, sei es anhand einer kurzen Moderation oder eines passenden lyrischen Textes. Diese Weise von Musikvermittlung und Zwiegespräch mit dem Publikum ist im Jazzclub oder Rockkonzert eine Selbstverständlichkeit. Auch ein gutes Programmbuch kann Anlass zum besseren Verständnis der Werke sein. Für die Chorsänger selber ist es anfangs manchmal ungewohnt, die lang erkämpfte, wohltönende Belcanto-Stimmgebung zu verlassen und durch andersartige Töne oder Geräusche zu ersetzen. Aber nach ersten Berührungsängsten wird der eher spielerische Umgang mit Stimme als sinnlich und befreiend empfunden.

nmz: Welche Erfahrungen machen Sie mit Neuer Chormusik im Rahmen Ihrer Hochschultätigkeit?

Kohler: Wie immer gibt es am Anfang Skepsis und am Ende nach harter Probenarbeit sehr erfüllende und aufregende Momente. Das spiegeln gerade die mit klassischer Musik unerfahrenen Konzertbesucher wieder. Neulich äußerte ein Maschinenbaustudent, der Regers Geistliche Gesänge und die Messe von Frank Martin langweilig fand, großes Vergnügen an Wolfgang Rihms „Raumauge“, einer spannenden Komposition für mehrere Schlagzeuger, mit doppelchörig sprechenden und brüllenden Männerchor und singenden Frauen.

nmz: Mit dem Kammerchor der HfM Detmold steht den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern ein versierter Studiochor zur Verfügung. Ist das repräsentativ für die Arbeit mit weniger erfahrenen Chören?

Kohler: Der Kammerchor der HfM ist vielleicht nicht ganz repräsentativ für die Arbeit mit Laienchören. Aber er ist wiederum weit von einem Profi-Chor entfernt und seine Sänger/-innen sind genauso auf effektive Probenmethodik, verständliches Dirigat und vor allem auf die lebendige innere musikalische Vorstellung der Dirigenten angewiesen, wie die Mitglieder aus Kantorei, Schulchor oder Gesangverein.

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