Ein besonderes Erlebnis ist das jährliche Leipziger Symposion zur Kinder- und Jugendstimme auf jeden Fall. Wo sonst werden in so konsequenter Weise Vertreter medizinischer, sängerischer und pädagogischer Ausbildungen, Studiengänge und Berufe zusammengebracht? Und wo sonst erlebt man eine so freundliche, von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Atmosphäre, eine derart gründliche Organisation und eine derart disziplinierte Hörerschaft, die willig und interessiert einem dicht getakteten Programm folgt?
Fast alle Veranstaltungen und auch die Imbiss-Pausen finden ihren Platz im traditionsreichen Musikhochschulgebäude an der Leipziger Grassistraße. Nur fürs Mittagessen wird in die Mensa des Studentenwerks am Petersteinweg ausgewichen, und einer der vier zweistündigen Praxisworkshops ist in einen Saal der benachbarten Universitätsbibliothek ausgelagert. Jeden Tag beginnt das Programm mit einer konzertanten oder einer singenden Einstimmung, und Klang und Gesang geleiten die Teilnehmer auch wieder hinaus. Vielseitiger Anregungen darf man gewiss sein.
Mit dem Motto „Stimme – Leistung – Gesellschaft“ hatten sich Michael Fuchs und die Sektion Phoniatrie und Audiologie des Universitätsklinikums Leipzig, die Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, der Arbeitskreis Musik in der Jugend und der Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen diesmal ein ebenso aktuelles wie breites und schwieriges Themengebiet vorgenommen. Inwieweit die zunehmende Leistungsorientierung der Gesellschaft der Stimme und dem Selbstbild von Kindern und Jugendlichen zuträglich ist, ist eine spannende Frage. Wirklich befriedigende Antworten blieben aus. Der eigentlich zentrale Vortrag des Leipziger Psychiaters und Psychotherapeuten Michael Kroll wurde im engen Zeitkorsett selbst zum Opfer der zitierten Tendenz zur Beschleunigung und verwirrte das Publikum mit einer Fülle von Aussagen und Folien. Zu spät kam im Anschluss die Einsicht des Tagungsleiters: „Wir müssen diesem Thema mehr Zeit einräumen.“
Dass viele Kinder und Jugendliche in renommierten Ensembles mit den Anforderungen gut zurechtkommen, zeigten die Beispiele aus der Praxis. Der MDR-Kinderchor bestritt ein souverän vorgetragenes, ansprechendes und vielseitiges Abschlusskonzert, nachdem sein Leiter Ulrich Kaiser zuvor unter dem Titel „Ringelpiez oder Leistungsdruck?“ sehr lebendig über die gemeinsame Arbeit berichtet hatte. Die Knaben des Staats- und Domchores Berlin zeigten mit ihrem Leiter Kai-Uwe Jirka und ihrer Stimmbildnerin Judith Kamphues Ausschnitte aus dem auch inhaltlich anspruchsvollen Programm „Ich bin der Wind – Kinderlieder von 1750 bis heute“ und ließen sich zu ihrer Arbeit befragen.
Einen interessanten Kontrapunkt zu deutschen Erfahrungen bot Ronny Krippner mit seinem Beitrag über die Ausbildungs- und Arbeitsstrukturen in der englischen Knabenchor-Tradition. Fast täglicher Chordienst im Even-Song, eine enorme Repertoirebreite, Routine im Blattsingen, aber auch Beschränkung auf die Sopranstimme (mit Erwachsenen in Alt, Tenor und Bass), vierteljährliches Chorgeld als Anerkennungshonorar, das Chorsingen als gesellschaftliche Aufstiegschance in der englischen Klassengesellschaft, viele Sänger mit Migrationshintergrund, aber auch die privat zu bezahlende Behandlung durch den Hals-Nasen-Ohrenarzt – hier tat sich für den Großteil des Publikums eine ganz andere Welt auf.
Wie schwierig es andererseits in Leipzig war, die Arbeit des 800 Jahre alten, renommierten Thomanerchores und der Thomasschule im „forum thomanum“ nachhaltig zu verankern, zeigte der Vortrag des langjährigen Thomas-Pfarrers Christian Wolff. Auch lange nach der friedlichen Revolution von 1989 warf die atheistische Staatsdoktrin der DDR noch ihren Schatten. Andererseits wirkte und wirkt die Zugehörigkeit zum Thomanerchor auch prägend. Fuchs freute sich, zum Konzert am Samstagabend mit dem Leipziger Ensemble Amarcord ehemalige Sangeskollegen zu begrüßen. Für ihr abwechslungsreiches und witziges A-cappella-Programm, das von Renaissance-Madrigalen über die Leipziger Romantik zu einer musikalischen Weltreise in Volksliedern führte, erhielt die Fünf-Mann-Truppe begeisterten Beifall.
Wie sehr der Umgang mit der Stimme auch den Umgang mit dem Menschen beinhaltet, wurde immer wieder deutlich. Die Hamburger Philosophin Ina Schmidt besorgte die Einführung unter dem Thema „Auf der Suche nach der eigenen Stimme – innere Meisterschaft oder Leistung als Lebensform?“ Die Frage des rechten Umgangs miteinander wurde lebendig im Gespräch, das Barbara Haack als Mediatorin und Yoshihisa Matthias Kinoshita als erfahrener Kinderchorleiter miteinander führten. Auf das mangelnde Bewusstsein für die Stimme in Politik und Gesellschaft machte die ehemalige saarländische Gesundheitsministerin Regina Görner aufmerksam. Die Leistungsbewertung war Thema etlicher Vorträge aus verschiedenen Blickwinkeln, und auch die Leipziger HNO-Klinik brachte sich mehrfach ein. Besonders Fuchs’ Vortrag über eine laufende Studie zu auditiven und stimmlichen Fähigkeiten bei Leipziger Grundschulkindern verspricht auch musikpädagogisch spannende Ergebnisse. Was am Ende fehlte, war der Versuch eines Resümees; die Teilnehmer wurden mit einem bunten Mosaik von Informationen und Erfahrungen in den Sonntagnachmittag entlassen. Könnte man am Ende nicht noch einmal einen erfahrenen HNO-Arzt und einen versierten Gesangspädagogen als Kommentatoren-Duo zu Wort kommen lassen?