Der 1996 gegründete Chor Cantus Domus ist ein ungewöhnliches Ensemble, das Brücken schlägt zwischen verschiedenen Musikwelten, zwischen Klassik und Pop. Der Chor singt große Oratorien ebenso wie Popsongs. Dazu tritt er nicht nur in klassischen Konzertsälen auf, sondern auch bei Veranstaltungen wie etwa dem Kaltern Pop Festival in Südtirol. Sein Erkennungsmerkmal sind die „Konzept-Konzerte“, mit denen Cantus Domus Aufsehen erregt. Dieses neue Konzertformat weicht durch die Einbeziehung von Tanz, Szene und Elektronik sowie durch ungewohnte Auftrittsorte von der Norm ab.
Das erste Konzept-Konzert fand 2008 unter dem Titel „Singingpool“ im Stadtbad Berlin-Steglitz statt. In einer ehemaligen Brauerei kam zusammen mit dem dänischen Elektronikkünstler Mads Brauer eine neue Version von Frank Martins doppelchöriger Messe zur Aufführung. Bachs h-Moll-Messe erklang im Berliner Kraftwerk, Artur Honeggers Oratorium „König David“ im Kesselhaus der Kindl-Brauerei. Zu diesen Konzerten gehören jeweils eine dramaturgisch durchdachte Inszenierung und oft auswendig einstudierter Gesang. Die Verwischung der Grenzen zwischen Bühne und Publikum ermöglicht neue Hörerlebnisse.
Dirigent dieses jungen Chores, der 2009 und 2017 beim Chorwettbewerb des Landesmusikrats Berlin den 1. Preis erhielt, ist Ralf Sochaczewsky. Nach einer Ausbildung an der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ wurde er vom Dirigentenforum des Deutschen Musikrates gefördert. Internationale Erfahrung erwarb er als Assistant Conductor Vladimir Jurowskis beim London Philharmonic Orchestra, an der Münchner Staatsoper, dem Bolschoi-Theater Moskau und dem Glyndebourne Festival. Nach einer Assistentenzeit beim Chor des Niederländischen Rundfunks luden ihn renommierte Vokalensembles wie der RIAS Kammerchor, der Berliner Rundfunkchor oder der Choeur de Radio France zur Zusammenarbeit ein. Der vielseitig interessierte und gebildete Musiker befasste sich als Barockgeiger auch mit der historischen Aufführungspraxis und arbeitete außerdem mit Popgruppen und -künstlern wie Damien Rice, Bon Iver oder Tocotronic zusammen. Diese reichen Erfahrungen bringt Ralf Sochaczewsky in den Musikausschuss des Berliner Chorverbandes und ins Präsidium des Landesmusikrats ein, natürlich auch in die Projekte von Cantus Domus.
Die Komponistin Julia Wolfe
Bei seinen internationalen Projekten traf Sochaczewsky den Dirigentenkollegen André de Ridder, der ebenfalls viel im Crossover-Bereich zwischen Klassik, Minimal Music und Pop arbeitet. Durch dessen Empfehlung erhielt Sochaczewsky das Angebot, 2016 in Dänemark das Vokalensemble des Dänischen Rundfunks und die Bang on a Can All-Stars bei der europäischen Erstaufführung der Komposition „Anthracite Fields“ von Julia Wolfe zu leiten. Dieses Oratorium entstand im Auftrag eines großen Laienchors, des Mendelssohn Club Philadelphia. Die 1958 geborene Komponistin stammt selbst aus dieser Hauptstadt des US-Bundesstaats Pennsylvania. Nach einem Sozialgeschichtsstudium an den Universitäten von Yale und Princeton kam sie zur Musik und gehörte 1987 zu den Mitbegründern des Bang on a Can Festivals für Neue Musik. Wesentlich wurde für sie der Kontakt zum Orkest de Volharding (zu Deutsch „Ausdauer“) in Amsterdam, in dem klassisch ausgebildete Musiker mit Jazzmusikern zusammenarbeiten. Das politische Engagement dieses Blasorchesters und die Begegnung mit dessen Mitbegründer Louis Andriessen hinterließen bei der Komponistin starke Eindrücke. So kam es 1992 zur Gründung des Ensembles „Bang on a Can All-Stars“.
Während die Arbeitswelt in der Neuen Musik sonst meist ausgeblendet wird, hat sich Julia Wolfe schon 2009 in ihrer Komposition „Steel Hammer“ mit dem als Helden verehrten Bahnarbeiter John Henry befasst. Auch in „Anthracite Fields“ widmet sie sich einem Kapitel aus der Geschichte der US-amerikanischen Arbeiter, nämlich den Kohle-Kumpeln von Pennsylvania. Dazu untersuchte die Komponistin deren Geschichte, besuchte Minen und interviewte pensionierte Minenarbeiter. Aus diesen Interviews, Berichten über Arbeitsunfällen und der Ansprache eines Gewerkschaftsführers stellte sie den Text ihres fünfteiligen Oratoriums zusammen. Ihr Ziel war es dabei, „die Menschen zu ehren, die in der Anthrazit-Kohlenregion von Pennsylvania durchhielten und ausharrten in einer Zeit, als diese Industrie die Nation versorgte“.
Das Werk im Stil des Post-Minimalismus ist geschrieben für Chor und die sechsköpfigen Bang on a Can All-Stars. Ergänzend gibt es eine Videoprojektion mit Zeichnungen, Filmen und Fotos, die teilweise aus Projekten des New Deal stammen. In diesem Arbeitsbeschaffungsprogramm des US-Präsidenten Roosevelt hatten Künstler die Welt der Arbeiter entdeckt. Julia Wolfe knüpft daran an. Die Uraufführung ihres Oratoriums 2014 in Philadelphia fand eine so starke Resonanz, dass die Komponistin 2015 dafür mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.
Auch die deutsche Erstaufführung, die in Anwesenheit der Komponistin in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg stattfand, wurde mit stehenden Ovationen gefeiert. Das lag ebenso am Werk wie an der professionellen Darbietung durch Cantus Domus, die Bang on a Can All-Stars und Ralf Sochaczewsky. Zu Beginn sang der Chor Auszüge aus einer langen Opferliste von Bergwerksunfällen. Die mechanisierte Reihung von Namen bildete einen Kontrast zu einem Abschnitt über die Entstehung der Kohle, eindrucksvoll dargestellt durch Repetitionsmuster der Minimal Music. Die Verlangsamung des wiederholten Wortes „pressure“ gegen durchlaufende Viertel („heat“) machte die Zunahme des Drucks nachfühlbar, bis schließlich beim lange ausgehaltenen Wort „time“ die Zeit zum Stillstand kam. Die rhythmische Präzision des Chores ließ sich auch im schlagkräftigen zweiten Satz („Breaker Boys“) bewundern, welcher der Kinderarbeit gewidmet war. Auf der Rede eines Gewerkschaftsführers, der staatliche Fürsorge für die Opferfamilien forderte, beruht der dritte Satz („Speech“), in dem Soli und Chor mit wachsendem Nachdruck wechselten.
Nachdenken über Kohle und Klima
Das Oratorium endet aber nicht mit solchen politischen Forderungen, sondern lädt mit zwei weiteren Sätzen zum Nachdenken ein. In „Flowers“ über die von den Bergleuten liebevoll gepflegten Blumengärten wich das Schwarzweiß der wesentlich zur Wirkung beitragenden Videoprojektion (Jeff Sugg) farbigen Blumenbildern. Barack Obama hat die Zahl der Kohlekraftwerke in den USA beträchtlich reduziert. Da aber bis dahin Elektrizität vor allem durch Kohle erzeugt wurde, widmet sich der letzte Satz („Appliances“) strombetriebenen Haushaltsgeräten und der Werbung für saubere Anthrazit-Kohle. Durch raffinierte rhythmische Überlagerungen, von Cantus Domus unter der souveränen Leitung ihres Dirigenten konzentriert ausgeführt, geriet die lange Liste in einen reizvollen Schwebezustand, wurde aber zu maschinenhaftem Lärm, als Bilder von Fließbandarbeitern zu sehen waren.
Nicht nur für die USA, wo Donald Trump nach der Kündigung des Klimaabkommens die Kohleförderung wiederbeleben möchte, ist das Thema des Oratoriums von großer Aktualität. Auch in Deutschland hat sich die Debatte um die Braunkohle intensiviert. „Kunst muss einen politischen Anspruch haben, Fragen stellen und zum Denken anregen“, meint dazu Ralf Sochaczewsky. Das Programmheft zu „Anthracite Fields“ enthielt deshalb auch Beiträge zur Geschichte der Kohleförderung und zum Zusammenhang von Kohle und Klima. Um ein neues und junges Publikum zu erreichen – „möglichst auch solche Zuhörer, die anderer Meinung sind als wir“ –, wurden die Eintrittspreise reduziert. Stilistische Neugier verbindet sich bei Cantus Domus mit dem Interesse an gesellschaftlichen Fragen. Julia Wolfes Oratorium passte ausgezeichnet in dieses Konzept. Für 2019 plant der Chor eine neue Version von Schumanns „Paradies und Peri“, die unter Mitwirkung eines spanisch-syrischen Gambisten unser Bild von Orient und Islam kritisch in Frage stellen soll.