Stuttgart – „Kriminal-Tango“ im Kopfbahnhofgebäude zwischen Lautsprecheransagen und gefährlich tief fliegenden Tauben, gospel-verpoppte „The Lord is my shepherd“-Gesänge im Sitzungssaal des Rathauses, und auf dem sonnenbeschienenen Schlossplatz: Mitmach-Singen mit dem fantastischen Männergesangsquintett Füenf, das dem Publikum seine „Schwabenhymne“ beibringt: „Wir haben nicht so viel Esprit wie die Berliner / dafür sind unsre Treppenhäuser cleaner“. Kurz: Die Bandbreite parallel laufender Konzerte beim Deutschen Chorfest, das seit 2008 alle vier Jahre vom Deutschen Chorverband veranstaltet wird und in diesem Jahr vom 26. bis 29. Mai in Stuttgart stattfand, war riesig.
Die Orientierung und Zusammenstellung einer eigenen Route durch die vielen, mal kostenlosen, mal kostenpflichtigen Konzerte von Laien- und Profiensembles an ganz unterschiedlichen Orten brauchte seine Zeit. Aber dank hervorragender Organisation lief das Wandeln zwischen den Events sehr gut, denn es gab kaum Zeitverzögerungen und damit keine Abweichungen vom kleinteiligen Gesamtprogramm. In 715 Veranstaltungen traten über 400 (vorwiegend deutsche) Ensembles aller Stilrichtungen und insgesamt etwa 15.000 Sängerinnen und Sänger auf.
Laut Chorverband zog es an allen vier Tagen jeweils 100.000 Besucherinnen und Besucher in die Konzerte. Das alles blieb unüberhörbar und belebte das Klangbild Stuttgarts ungemein – auch außerhalb der offiziellen Veranstaltungen: Da hörte man Singduelle im Restaurant „Vinum“ an der Liederhalle und „Atemlos durch die Nacht“ aus dem Stegreif im vierstimmigen Chorsatz, spontan gesungen von gut gelaunten Jugendlichen in der Klett-Passage am Hauptbahnhof. Das Festivalmotto „Stuttgart ist ganz Chor“ offenbarte sich auch in manchen U-Bahn-Linien: Aus den Lautsprechern tönten die Haltestellenansagen gesungen und in Evergreens verpackt: etwa „Haupt-, Haupt-, Hauptbahnhof“ auf „Dsching-Dsching-Dschingis Khan“.
Mitsingen angesagt
Und so manche Zuhörer summten vor sich hin, wenn sie die Veranstaltungen in den Kirchen, auf dem Schlossplatz, in der Liederhalle und im Theaterhaus verließen: Nachklänge der diversen Singalongs, deren spektakulärster wohl der „größte Online-Chor aller Zeiten“ war: Eine Aktion, zu der der Deutsche Chorverband und der Südwestrundfunk im Vorfeld des Chorfestes aufgerufen hatten. Karaoke-Videos auf John Lennons „Imagine“ sollten eingesendet werden. Daraus wurde dann technisch aufwendig ein Video zusammengeschnitten und erstmals beim Chorfest auf dem Schlossplatz präsentiert – wo dann natürlich auch wieder die Stimmbänder kräftig bewegt werden durften.
Auch die auftretenden Ensembles forderten in ihren Konzerten immer wieder zum Mitsingen auf. Etwa im Spätprogramm mit solistisch vorgetragenen, klavierbegleiteten Wiegen- und Schlafliedern: Da sang etwa die wunderbare Sopranistin Sarah Wegener herzergreifend eine Bearbeitung von Felix Mendelssohn Bartholdys „Denn er hat seinen Engeln befohlen“. Aber dann dürfte das Publikum wieder enthusiastisch einstimmen in „Der Mond ist aufgegangen“ oder in den Kanon „O wie wohl ist mir am Abend“, wobei das besungene „Bim-Bam“ punktgenau im Glockengeläut der Stiftskirche landete.
Zwischen Chortrubel und Chorbesinnlichkeit gab es auch besonders umworbene, zahlungspflichtige Festkonzerte, unter denen der Abend in der ausverkauften Stiftskirche zunächst wie eine Veranstaltung eines Kirchentages wirkte. Prälat Ulrich Mack, Regionalbischof von Stuttgart, lobte die Landeshauptstadt als kirchenchorreichste Stadt, die 170 evangelische Chöre beherberge: „Schwaben singen gern, weil das zum Christsein gehört.“ Natürlich sei ein gesungenes Gotteslob schöner als ein nur gesprochenes. Da hat der Mann Recht, was im Anschluss Kirchenmusikdirektor Kay Johannsen und seine Ensembles Stimmkunst und Stiftsbarock in Werken Johann Sebas-tian Bachs, wie etwa der Pfingstkantate BWV 34 „O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe“, eindrücklich bewiesen. Das Konzert war Teil des Mammutprojekts „Bach:vokal“, in dem Johannsen und seine Ensembles zwischen 2011 und 2021 das gesamte Vokalwerk Bachs aufführen wollen.
Zentrale Events des Chorfestes waren die beiden „Nachtklang“-Konzerte. Für ein 35-Euro-Ticket konnte man an zwei Abenden jeweils zwischen 30 Konzerten, klassischen Chören, Vocal Bands, Vokalsolisten-ensembles und Jazzchören wählen und sich seine eigene Route zusammenstellen. Darunter Berühmtheiten wie das französische A-cappella-Oktett The Swingles. Elektronisch verstärkt gaben die Goldkehlen im Beet-hovensaal der Liederhalle etwa Claude Debussys „Claire de lune“ zum Bes-ten. Mit der nötigen Ironie verpackt, erfreute das Herrensextett Die Singphoniker mit seiner formidablen Programm „Franz Schubert und Georg Kreisler – zwei Wiener Liedermacher“ in der voll besetzten Leonhardskirche ihr Publikum. Die gute Laune fand ihren Höhepunkt in Kreislers „Das Mädchen mit den drei blauen Augen“ und „Mein Weib will mich verlassen – Gott sei Dank!“
Wer sich aber für Frieder Bernius und seinen Kammerchor Stuttgart im Hegelsaal der Liederhalle entschieden hatte, konnte sich besonders glücklich schätzen, wie jener Zuhörer, der schwärmte: „Das ist der schönste Mahler, den ich je gehört habe!“ In der Tat: Die vollkommene Schönheit, in der etwa Gustav Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ in der Bearbeitung für 16-stimmigen Chor von Clytus Gottwald und später auch Anton Bruckners e-Moll-Messe erklang, hatte etwas Utopisches, zeigten sich hier doch menschliche Stimmen in kaum zu steigernder Harmonie und perfekter Kommunikation.
Bewegend und klangschön präsentierte sich der Deutsche Jugendkammerchor unter der Leitung Florian Benfers im Mozartsaal der Liederhalle mit deutschen, südamerikanischen, englischen Wiegen- und Abendliedern – mit viel Witz garniert, wenn etwa das Publikum für den Mitsingkanon „Komm stiller Abend, hernieder“ in Brillen-, Nichtbrillen- und Kontaktlinsenträger eingeteilt wurde.
Ohnehin beeindruckten beim Chorfest nicht nur die Ensembles selbst, sondern vor allem auch die vielen Chorleiter/-innen, die ihre ganze Energie und Musikliebe im Alltag bündeln, um die unterschiedlichsten Stimmen jeden Alters auf harmonische Linie zu bringen – gerade was Laien-Chöre betrifft. In diesem Sinne schwer beeindruckend war der Auftritt von 200 Grundschülerinnen und -schülern aus Baden-Württemberg, die unter dem Motto „SingRomantik“ unter der Leitung der humorigen und ungeheuer mitreißenden Vokalpädagogin Friedhilde Trüün im Beethovensaal allerlei für Kinderchor bearbeitete romantische Musik sangen: von Smetanas „Moldau“ über Mendelssohn Bartholdys „Leise zieht durch mein Gemüt“ bis hin zu Rossinis Wilhelm-Tell-Ouvertüre, die von den Kids sogar szenisch dargestellt wurde, die auch ansonsten mit ungeheurer Energie, Disziplin und Spaß bei der Sache waren. Toll!
Multikultureller Abschluss
Wer noch immer nicht genug hatte, konnte dann auch noch in den öffentlich zugänglichen Chorwettbewerb in elf unterschiedlichen Kategorien (von Alter bis zu Neuer Musik, von der Romantik bis zum Jazz und Pop, vom Vokalensemble bis zum Jugendchor) hineinhören. Über 109 Ensembles hatten sich dafür in diesem Jahr angemeldet.
Beendet wurde das Chorfest dann multikulturell: mit einem „Heimatabend“ der ganz besonderen Art, dem Berliner Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“, in dem in Deutschland lebende Musiker aus unterschiedlichen Nationen Musik ihrer Heimat aufführten. Lieder aus Serbien, Syrien, Kuba, Griechenland konnte man da hören, einen koreanischen Frauenchor aus Stuttgart, die Gruppe La Caravane du Maghreb mit marokkanischer Volksmusik, den wunderbaren Quan Ho Chor Berlin, der mit seiner überaus charmanten szenischen Darstellung und schön ironischem Wechselgesang zwischen zwei Damen und einem Herrn erfreute. An der Vielfalt der farbenfrohen, fantasievollen Gewänder, in denen sich die Ensembles präsentierten, könnte sich die deutsche Chorszene, die sich bis jetzt meist einheitlich dunkel und neutral kleidet, durchaus mal ein Vorbild nehmen!