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Das Neue an der Neuen Musik als hinterfragbare Größe

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Ein „Mail-Wechsel“ zwischen Prof. Thomas Buchholz und dem Komponisten Thomas C. Heyde
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Sehr geehrter Herr Heyde,

Nicht ohne ein gewisses Schmunzeln habe ich Ihren Rundbrief gelesen. Ich bedaure ja außerordentlich, dass es Ihrer Musik so sehr an Präsenz mangelt. Sie wissen ja, dass durch die Jury-Entscheidung beim Händel-Kompositionswettbewerb in Halle Ihnen ein Förderpreis zugedacht wurde. Und ich denke, dass wir in der Jury sehr genau die Partituren durchgegangen sind. Es ist aber manchmal nicht einfach, alles sofort hörend zu erfassen, was so junge Komponisten in bestem Glauben an das Gute und vielleicht auch Einzigartige ihrer Schöpfungen so notieren. Und in unserer Preisvergabe haben wir auch hinterfragbaren Notaten durchaus die beste Absicht unterstellt. Das Ensemble „Sur Plus“ hatte sich ja bei der Uraufführung mit Engagement allen prämierten Werken gleichermaßen hingegeben. Was also, so frage ich mich, löst Ihre Bestürzung aus? Lassen sie mich wenigstens zu einigen Punkten Ihres Schreibens Anmerkungen machen:

1. Sie haben nicht Unrecht, wenn Sie feststellen, dass bei den etablierten Festivals immer wieder gleiche Komponistennamen auftauchen. Nun sind diese Komponisten sicherlich nicht unwert gespielt zu werden. Ein bisschen mehr Engagement für junge Komponisten kann ich mir gut vorstellen, aber eben nicht nur für junge Komponisten. Es gibt immer viel zu entdecken. Und Konzerte mit Werken armenischer Komponisten wie Mansurjan, Sograbjan oder Israeljan haben so manche Überraschung bei den Hallischen Musiktagen gebracht. Nur Sie konnte ich dort nicht entdecken. Kennen sie das alles schon? Oder haben Sie nur Ihren eigenen Namen im Programm vermisst?

2. Das Neue der Neuen Musik ist immer wieder eine hinterfragbare Größe für die Wertung gewesen. Dass Sie jung sind und offenbar Ihre Sturm- und-Drang-Periode auszuleben versuchen ist noch kein Argument für das Besondere, dass sie ja so vermissen. So manche musikalischen Novitätenkabinette haben sich als Flop erwiesen. „Die Tradition zieht von Epoche zu Epoche ein anderes Gewand über, aber das Publikum weiß nichts von ihrer wahren Gestalt und erkennt sie niemals unter ihren Verkleidungen.“, meint Cocteau. Ich will damit sagen, dass bei den vielen Partituren junger Komponisten, die mir so durch die Finger gehen, so oft die Frage nach dem Handwerk aufkommt. Hehre Philosophien, groß dimensionierte Gedanken und dabei so wenig musikalische Praxis. Und die Übernahme traditioneller Musik kann selbst in exorbitanten Notationen nicht kaschiert werden. Natürlich können sie auch außergewöhnliche Instrumente einsetzen oder mit der Elektronik herumspielen, doch so kann ja das vermeintlich Neue nicht sein. Ein wirklich eigener Geist schafft Neues immer auf einer Ebene, wo sich Rationalität und Emotionalität die Hand reichen. Aber diese Kunst beherrschen nur wenige Komponisten.

3. Das Unwissen greift um sich und wird auch die verirrten Medien nicht verschonen. Wenn man über Jahrzehnte eine Definition des Neuen in der Musik nur an kompositionstechnischen Neuerungen festgemacht hat, dann ist ein Grundstein gelegt für Fragestellungen, die uns in der Kritik zu Donaueschingen begegnen. Man ist so abgestumpft, dass man nur noch den großen Umbruch erwartet. Die dem Neuen innewohnende Invarianz erkennt man nicht. Was also soll denn das „Andere“ sein, dem man nach Ihrer Aussage eine Chance geben soll?

4. Musiker haben zu allen Zeiten geteilte Meinungen über das ihnen vorgesetzte Neue gehabt. Sie werden mir aber glauben müssen, dass es nicht nur Bequemlichkeit ist, wenn ein Chortenor nicht unbedingt ausprobieren möchte wie ein hohes C klingt, während sein Kopf in einem Eimer mit Vanillesoße steckt. Mittlerweile interessiert es wohl auch das Publikum nicht mehr. Manchmal passiert es, dass ein Komponist aus Unwissen über die Technik eines Instruments etwas entdeckt, das funktioniert und einen tollen Klangeffekt ergibt. Aber das ist ja nun kein Grund, gute Ideen nur dort zu suchen, wo mangelnde Erfahrung und kühne Experimentierlust sich paaren. Welches Glück für so manchen Tonschöpfer, dass er seine Vorstellungen nicht selbst klingend machen muss! Ungewohnte Spielweisen zu trainieren, dazu sind die Musiker offenbar nur noch bereit, wenn das klangliche Ergebnis der Mühe lohnt. Und diese Ökonomie von Aufwand und Nutzen kann ich nur zu gut verstehen. Natürlich entzünden sich die fixen Geister schnell daran, dass sie Verrat an der Kunst vermuten, wo es doch um die Kunst geht. Nämlich um die Kunst des Komponierens. Als künstlerischer Leiter der Hallischen Musiktage weiß ich sehr wohl, wovon ich hier spreche.

5. Sprachlosigkeit – eine Kunst, die Sie offenbar nicht befallen hat. Wortgewand versuchen Sie anderen die Schuld zu geben für den Mangel an Neuem. Fangen wir doch mal bitte bei den Komponisten selbst an. Die junge Generation, für die Sie einstehen, weil Sie sich zu ihr gehörig fühlen, ist sehr unterschiedlich strukturiert. Die wenigsten sind ruhige und besonnene Arbeiter. Einige sind begabt, aber ungeduldig (das Los der Begabten zu allen Zeiten), die meisten sind Schreihälse für ihre eigene Sache. Sie verhalten sich wie die Politiker, die gerade zur Opposition gehören. Wenn sie dann ihr Schreien zur Verantwortung tragen sollen, scheitern sie kläglich an genau dem, was sie zuvor an anderen kritisierten. Und so sind die Großen oft auch die Stillen, jene, die nicht so viel Aufhebens um ihre Person machen.

6. Verlage sind Geschäftsunternehmen. Demzufolge sind sie an den Markt gebunden. Die Kleinverlage sind oft nicht die Haupteinnahmequelle des Verlegers. Die großen Verlage aber müssen Gewinne erwirtschaften. Ihre Ideen in allen Ehren, aber so funktioniert das nicht. Warum verkauft sich die Neue Musik nicht?

7. Die Ursachen für den Mangel an Präsenz der Neuen Musik in der Gesellschaft sind vielfältig. Zuerst ist da der Mangel an musischer Bildung und kreativer Ausbildung anzuführen. Haben Sie sich als Komponist einmal über den Mangel an gutem Musikunterricht in den Schulen und Musikschulen Gedanken gemacht? Dort werden sie erfahren, warum so mancher mit künstlerischen Dingen nichts anfangen kann. Er weiß nichts darüber.

Schreiben Sie Neue Musik für Kinder; versuchen Sie es, ohne Ihren Stil zu verlassen und Sie werden merken, was Ihr Stil außer „schwer spielbar“ an musikalischer Substanz hat. Festivals haben die Musik in die Nische gedrängt. Noch vor Jahren frohlockten einige Komponisten darüber, dass Sie der „bürgerliche“ Konzertsaal ablehnt. Da kamen die Inseln der Besseren. Und nun ist der Eklat da. Das Podium wird immer kleiner und das Gerangel um Aufführungen immer größer. Ich will nicht gleich als faschistoider Bücherverbrenner gelten, darum erspare ich mir die Adressen der Stücke, die ich für die Publikumsflucht mitverantwortlich machen könnte.

Abschließend möchte ich Ihnen zurufen: Komponieren Sie mit Engagement und Wissen, dann wird Ihnen die Zeit und das allmächtige Schicksal helfen, Ihren Weg zu finden. In das Horn der Pressesensationalisten zu blasen, davon ist noch keine gute Musik geworden. Der Mangel an Ideen hat Ursachen – nicht nur bei Verlagen, Veranstaltern und Produzenten. Vielleicht sollten wir auch das bedenken.

Prof. Thomas Buchholz

 


Antwort von Thomas C. Heyde

Sehr geehrter Herr Prof. Buchholz,

Ich bin ja ein durchaus sehr humorvoller Mensch (und Humor ist nicht nur, wenn man trotzdem lacht, sondern auch und bekanntermaßen eine Form des Abstands) aber ich muss mich von Ihnen nicht behandeln lassen, als wäre ich ihr Tonsatzschüler. Die fast kaum noch zu bewältigenden Reaktionen auf unser Schreiben waren jedenfalls durchweg konstruktiv, vor allem auch deswegen, weil viele wissen, dass ich mich genau wie Peter Köszeghi im Allgemeinen mehr für die anderen „Jungen“ und „Alten“, als denn für mich einsetze. Wissen Sie, es gibt tatsächlich Leute, junge Leute, denen es um eine Sache geht, weswegen ich auch Ihr „Ich bedaure ja außerordentlich, dass es Ihrer Musik so sehr an Präsenz mangelt“ nur mit der Bemerkung versehe, dass ich ausnahmslos von ALLEN Interpreten des Ensemble „Sur Plus“ gebeten wurde, unbedingt für sie zu schreiben und dass ich mich genau wie Peter Köszeghi eigentlich überhaupt nicht über mangelnde Präsenz beklagen kann. Sei’s drum – dieses Thema ist müßig und mir fällt da immer wieder nur das Gleichnis vom „Stachel im Auge deines Bruders...“ ein...

Ich erinnere mich noch gut, dass wir uns vor gar nicht so langer Zeit einmal hier in Leipzig über den Weg liefen, und Sie voller Engagement zu mir sagten: „man müsste mal wieder ein Treffen junger Komponisten machen, um die Szene ein bisschen aufzumischen“. Wahrscheinlich meinten Sie wohl eher ein „Handwerkskurs für solide Musik“, wenn ich mir so Ihre „Vorschläge“ anschaue. Ich ahne ja, wohin ihre oft geforderte handwerkliche Solidität hinzielt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie hier einen Streit vom Zaune brechen wollen, der vor 20 Jahren ausgefochten wurde und dahingehend entschieden ist, dass gerade die jungen Komponisten nach einer langen Dürrezeit ihrer „Freiheit“ in jeder Hinsicht zum Ausdruck verhalfen – nun kommen natürlich noch die ganzen Medien und die neuen Themen und die postmoderne Gesellschaft hinzu et cetera und da kann ich schon auch sehr gut verstehen, dass es einem (oder Ihnen?) manchmal ganz anders wird. Bleibt eigentlich nur, sich auf die solide Handwerklichkeit und „euch fehlt ja völlig die Praxis“ (Himmel, Herr Buchholz, wo leben Sie denn, das sind doch nun wirklich alte Hüte) oder auf die Klüngelei „spielt doch mal meinen Schüler“ zurückzuziehen. Oder?

Nehmen Sie es mir bitte nicht allzu übel, aber wir haben uns hier Ihre unbekannten armenischen Komponisten genau unter die Lupe genommen, aber da war leider nichts drunter, wo man hätte sagen können: verkanntes Genie.

Sicher, alles handwerklich sehr sauber – und auf so etwas legen ja vor allem meine Kollegen Sannemüller und Schenker schon als Praktiker auch sehr großen Wert – aber eben nichts, was nach Eigenheit, aussergewöhlich, unbequem, zeitthematisch oder gar Avantgarde aussah. Und dass ich dann nicht zum Eröffnungskonzert wenigstens war, wo ja unser Ensemble gespielt hat – dies hatte den Grund, dass ich zur gleichen Zeit bei den „Dresdner Tagen“ war, um eine Uraufführung von mir zu realisieren. Apropos: In gewisser Weise bin ich jedenfalls froh, dass ich in Halle ein ganz akademisches Stück von mir aufgeführt habe – ich glaube meine letzte Uraufführung mit so viel Technik und Technikern und dann auch noch „Schweineherzen im Aquarienbecken“, hätte wohl Ihre Forderung nach Handwerk nicht ganz befriedigen können. Oder das letzte, was ich von Köszeghi gehört habe: 20 Minuten verzerrtes Blockflötentrio – ungeheuer spannend – tolle Interpreten: Kann man so etwas hören, wenn man Death Metal nicht kennt? Wahrscheinlich nicht oder man will sich beunruhigen lassen oder erfrischen... Nein, verehrter Herr Professor: Halle ist eine schöne Stadt und Sie haben ihre Musiktage...

Ich führe hier demnächst im Rahmen des Herbstfestivals (www.herbstfestival.com) junge Komponistinnen und Komponisten auf, die eben genau diese von Ihnen geforderte Handwerklichkeit nicht vorweisen können – ich suche immer sehr nach solchen Leuten – zum Beispiel: Johanna Jellici, erfolgreiche Jazzsängerin, hoch begabte Klangkünstlerin und spannende Komponistin ohne Scheuklappen (...); Mela Meierhans, Schweizer Komponistin, mit deutlich politischer Aussage in ihrem Stück (hat nie Komposition studiert, weswegen sie wohl auch so spannende Konzepte mit anderen Medien macht); Julius Popp (Medienkünstler und Webdesigner) – vor allem bisher Klanginstallationen unter Einbeziehung des Publikums; Daniel Smutny, Frankfurter Komponist (Zender- und Rihm-Schüler), der die Interpreten aus dem Konzertsaal verbannt und autonom nach Klick-Tracks spielen lässt – nur das Publikum hört dann das Endergebnis – hat natürlich etwas mit virtuellen Räumen zu tun... So könnt’ ich noch lang weitermachen...

Nein, verehrter Herr Prof. Buchholz, die Zeit der Handwerksmusik für Kammerensemble oder weniger, mit 8 bis 15 Minuten Länge und wo alle Töne stimmen und alles so ist, wie es in den Jugendjahren Neuer Musik war, diese Zeit ist vorbei.

Ich habe keine Lust mehr auf akademische Musik (obwohl ich von Akademien ungeheuer viel halte), weil sie keinen mehr interessiert und wo man sich nur untereinander die Hände schüttelt und doch heimlich gähnt. Aber ich (und viele andere meiner Generation) habe auch keine Lust auf Elitefestivals wie zum Beispiel Donaueschingen, weil sie die Szene, das Neue, das Unerhörte nicht mehr repräsentieren, sondern nur noch hilflos ein paar Stars und Sternchen herumreichen und sich nicht die (wahrhaft große) Mühe machen, auf Entdeckungsreise zu gehen, wie dies noch vor etlichen Jahren der Fall war. Man muss keine Angst vor den „Neuen Medien“ haben, nicht vor philosophischen oder politischen Themen, nicht vor der Fragestellung, ob sich eine bestimmte Art der Neuen Musik nicht generell überlebt hat, nicht, ob sich das Bild des Komponisten in der heutigen Zeit gewandelt hat. Man muss nur Angst bekommen, wenn da die Inhalte fehlen (und da wo Neues entsteht, entstehen auch viele inhaltsleere Werke, das liegt in der Natur der Sache. In der Natur der Sache liegt allerdings nicht, dass die konservativen Geister gerade solche Werke zum Anlass ihrer generellen Schmährufe nehmen.). Dass sich Medien und Mittel ändern in der Musik, dies ist nichts Neues und es ist auch nichts Neues, dass es Leute gibt, die das mit „Sie können ja an Ihrer Elektronik herumspielen“ abtun. Aber es ist nun wirklich auch ein alter Hut, dass es keine Interpreten gibt, die nicht auch für anderes offen wären. Ich kann da jedenfalls nicht klagen. Sie können mir ja mal mitteilen, was für ein Stück das ist, wo ein Chortenor ein hohes C singen muss, während sein Kopf in einem Eimer mit Vanillesoße steckt. Das mach ich dann bestimmt mal in einem meiner Konzerte...

Wissen Sie – und dies sage ich ohne allen Sarkasmus und mit tiefem Ernst, solange ich nachts nicht schlafen kann, weil mir die „Sache“ Neue Musik immer im Kopf rumspukt, solange höre ich auch nicht auf für die „Sache“ und ihre Durchsetzung zu streiten (oft muss ich aber auch gar nicht streiten, weil ich auf so viele offene Ohren treffe). Diese Nacht werde ich wohl nicht schlafen können, weil das, um das es mir geht und für das ich mich als Komponist Thomas Chr. Heyde fast vollständig zurücknehmen würde doch immer mal wieder erklärt werden will gegenüber Menschen, die anscheinend noch nicht einmal beunruhigt sind.

Und, verehrter Herr Buchholz, zu Juryentscheidungen äußere ich mich mal lieber nicht. Ihr Einsatz für die Musik armenischer Komponisten/-innen ist jedenfalls ganz vorbildlich... Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich weiterhin so wohl fühlen, wie Sie dies anscheinend im Moment tun, und ich muss ehrlich sagen, dass ich fast ein wenig neidisch bin.

Thomas C. Heyde

 


Antwort von Prof. Buchholz

Lieber Herr Heyde,
Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir zu antworten. Es liegt in der Sache selbst begründet, dass ich wohl zu einigen Ihrer aufgeregten Aussagen einen gänzlich anderen Standpunkt vertrete. Daher will ich auch nicht näher darauf eingehen.
Lassen Sie uns aber in diesem Streit auch das sehen, was die „Sache“, von der sie sprechen, vielleicht positiv beflügeln könnte. Und vielleicht, da fasse ich mich an die eigene Nase, wollen wir Sarkasmus und Beleidigungen Genüge sein lassen. Das hilft weder ihrer noch meiner Schlaflosigkeit. Ich bin ein vollkommener Gegner akademischer Zeigefingermusik. Solche hat es wohl zu allen Zeiten gegeben und Ihre Wirkung war letztendlich die, die wir in heutigen Tonsatzschulen reflektiert finden.

Da gäbe es viel historischen Ballast zu entrümpeln. Aber ich bin auch dagegen, sofort das Kind mit dem Bade auszugießen. Mir geht es darum, dass man das, was man als Komponist tut, auch weiß. Ich widerspreche den Anwandlungen puren Instinktes, der dem Geniekult des 19. Jahrhunderts näher ist, als mancher so glauben möge.

Wenn Sie armenische Werke geschaut haben, dann weiß ich erstens nicht welche und zweitens auch nicht, wie diese Sichtung aussah.  Gelegentlich werde ich aber die Möglichkeit haben, mit meinen Freunden Matthias Sannemüller und Gert Schenker darüber zu sprechen. Denn auch bei den Subkaukasiern gibt es schlechte Komponisten. Vorsichtig wäre ich allerdings, ein Urteil über Genialität zu fällen.

Vielmehr ist für mich die Frage, ob solche Musik ein eigenes Gesicht hat, so sie doch in einer ganz anderen Tradition verwurzelt ist. Meine Beobachtung ist vielmehr die, dass es entgegen vieler anderer Meinungen so etwas wie nationale Avantgardismen gibt. Übrigens haben wir in Halle auch finnische, englische und russische Musik geboten, die meine Beobachtung stützt. Ich bin da etwas toleranter und vor allem bemühter, das in einer Arbeit eines Komponisten zu finden, was nicht gleich durch äußere Dinge auffällig ist. Die von Ihnen beschriebenen Konzepte Neuer Musik finde ich durchaus interessant. Ich wage nur zu bezweifeln, ob das die Krise überlebt. Sie kennen sicherlich die abwertende Bemerkung Nonos gegenüber der Musik von Schostakovitsch. Die Zeit hat ihr Urteil gesprochen, wenn man die Aufführungszahlen anschaut. Und ich finde die Musik Nonos wirklich bedeutend.

Ob die Zeit der Kammermusiken á 15 Minuten vorbei ist, weiß ich nicht. Sicherlich im Stile ältlicher Moderne, aber so generell kann man weder der geschlossenen Form noch der Dauer oder der Besetzung das Grablied singen. Da bin ich einfach vorsichtig mit solchen Pauschalen. Ich verstehe aber wirklich, was Sie meinen. Der Terminus „Handwerk“ ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts oft als Pendant des Künstlerischen interpretiert worden. Natürlich ging es immer um den Kampf gegen Plagiaten. Das hat uns dazu geführt, Handwerk und Kunst in unserem Denken deutlich zu trennen; so deutlich, wie noch zu keiner Zeit. Und das elementare Ergebnis waren die Yamaha-Methoden, wo jeder mit Tönen herumfummelt, wie es ihm passt. Die Maschine rückt alles in das eingespeiste Modell. Anbieter von Musiksoftware propagieren Kompositionsprogramme, die jede auch noch so blödsinnige Melodie mit Bach’scher Choralharmonik zu „veredeln“ sucht. Tun, was man nicht weiß, wie der animalische Instinkt. Haben Sie sich mal das mangelnde Potenzial der Musikausbildung betrachtet? Immer die gleiche Bequemlichkeit. MIDI-Synthesizer, Klangmodulatoren und andere eigentlich gute Dinge werden zu Spielzeugen von Menschen, die nicht nur keine einzige Note lesen können (was vielleicht schon wieder eine Tugend sein soll), sondern auch sonst kaum musikalisches Empfinden haben.

Nun will ich mich aber gern belehren lassen, dass es darunter auch jene gibt, die über nötige Fantasie und Kreativität verfügen, aus dem Wenigen etwas Interessantes zu machen. Wenn sie aber kaum im Stande sind, ihre Klangvorstellungen zu notieren, dann frage ich mich ernsthaft, warum solche Begabten dieses grundlegende Handwerk nicht einfach erlernen wollen.

Mangelndes Partiturstudium hat uns letztlich in der Neuen Musik zu einem Notationspluralismus geführt, der es nicht mehr gestattet, eine Konvention für die Notation einfachster Dinge wie Mikrotonalität festzumachen. Das hat doch nun wirklich weder mit Akademismus noch mit Kunst zu tun. Das ist nur der Mangel an Praxis. Ich finde es nicht unbedingt überzeugend, wenn ein Chortenor ein hohes C im Eimer vortragen muss. Dabei frage ich mich nur, ob der Komponist aus Mangel an Technik oder aus Mangel an Einfall zu diesem Blödsinn greift. Erinnern Sie sich an die Performance des Österreichers Wolfgang Flatz, der Anfang des Jahres in Berlin eine gehäutete tote Kuh aus einem Hubschrauber in eine Baugrube werfen ließ, bei deren Aufprall ein Feuerwerk zündete. Während dieser Aktion hing der Künstler mit ausgebreiteten Armen an der Seilwinde eines Krans mit den Wundmalen Christi versehen. Den Sinn seiner Aktion kommentierte er damit, dass es sein Anliegen war, „die merkwürdige Angst der Menschen vor der Begegnung mit Fleisch“ zu veranschaulichen. Und nun wird es kleinbürgerlich: Der „Verein Tierversuchsgegner Berlin und Brandenburg“ kritisierte die Aktion als ein „Beispiel für die zunehmende Verrohung des Menschen im Umgang mit Tieren“. Der Kurator des Museums der Gegenwart „Hamburger Bahnhof“ sagte, dass die Aktion veraltet sei und in die Tradition der 60er- und 70-er-Jahre gehörte. Warum sprach niemand über die Kunst? Ich finde übrigens die Begrifflichkeit „Museum der Gegenwart“ sehr beachtenswert. Übrigens Juryentscheidung: Haben Sie die Tatsache von der genarrten Jury durch die Komponisten Frost und Daams gehört, die ein völliges Narrenstück einreichten und den Hauptpreis dafür gewannen. Das war so blamabel, dass sogar der „Spiegel“ darüber berichtete, der ja offenbar nicht unbedingt ein offenes Blatt für Neue Musik ist. Manchmal schämt man sich für solche Dinge. Das bereitet mir schlaflose Nächte.

Und solche Beispiele könnte ich fortsetzen. Donaueschingen ist nun im Kampf gegen die Tradition seiner eigenen Tradition erlegen. Ob das Bequemlichkeit ist oder der Druck der Finanziers, kann ich nicht einschätzen. Ihren Sarkasmus über die Musiktage in Halle habe ich verstanden. Sie haben auch etwas Recht. Aber die Zwänge nach vollen Sälen sind so groß, dass man Kompromisse machen muss. Halle ist nicht Leipzig, hat keine Musikhochschule und eine künstlerisch völlig antiquierte Universität. Die Konzerte mit dem Elektronischen Studio Freiburg, Helmut Lachenmann oder Isang Yun waren fast leer.

Wenn ich nun noch mit unbekannten Namen käme, was ist dann? Das Land streicht einfach die Gelder, wenn die Besucherzahlen abnehmen. Sponsoren wie die Sparkasse sind gnädig, mehr auch nicht. Der Vorstandsvorsitzende dieser Stadt- und Saalkreis-Sparkasse in Halle teilte mir in einem Gespräch mit, wie sehr er die Klassik liebe und daher auch ein Konzertabo gehabt hätte. Dieses habe er zurückgegeben, als in drei von fünf Konzerten Schönberg gespielt wurde. Die Oberbürgermeisterin von Halle teilte mit, dass sich die Stadt nur für die Musiktage engagiere, wenn innerstädtische Interessen damit berührt würden, was heißt, dass Künstlerensembles der Stadt auftreten sollten. Das Land gibt Geld, fordert aber, dass wir dem Kulturvertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Republik Armenien durch Konzerte mit armenischer Musik entsprechen sollten. Dafür gab es im letzten Jahr sogar einen Sonderbonus des Auswärtigen Amtes, mit dem der Flug eines Chores mit 35 Mitgliedern finanziert wurde und einen Bonus für die Unterbringung des Chores in Hotels für eine ganze Woche. Der Chor war aber super. Nur bot er keine so genannte Avantgarde. Die Marktkirche mit 500 Plätzen war voll! Alle waren zufrieden. Im Ergebnis konnte ich für drei Kollegen (Th. Müller, W. Stendel und A. Filonenko) die Finanzen für ein Auftragswerk aushandeln und trotz der Haushaltskürzungen blieben in diesem Jahr die Musiktage auf dem finanziellen Zuwendungs-Niveau des Vorjahres. Wenn ich Ihnen die Liste der privaten Sponsoren und ihrer Anteile sende, dann würden Sie vielleicht verstehen, wieso ich mir Experimente nur in beschränktester Auswahl leisten kann. Diese Situation ist aber für viele Festivals ähnlich. Das macht die gesamte Sache besonders schwer. Jedes Jahr zittere ich bei der Auflistung der Publikumszahlen. Ich weigere mich, wenn Sie mir die Position des Ruhenden zuschieben wollen, der angeblich nur den abgesicherten Modus kennt.

Wenn Sie bei Ihrer Kritik an den Festival-Veranstaltern diese finanziellen Probleme in Ihre Kollegenschelte aufnähmen, wäre der Blick wenigstens nicht so einseitig. Und das ist es, was mich an Ihrem Rundbrief so sehr störte und warum ich Ihre teilweise berechtigte Kritik nicht ungeteilt unterschreiben möchte. Es geht eben nicht nur um das Neue schlechthin sondern um die Gefahr des Qualitätsverlusts. Und nun noch zu den angesprochenen ästhetischen Problemen, die uns offenbar trennen. Ich fühle mich nicht als Avantgardist im Sinne einer Revolte gegen das vermeintlich Überlebte. Die heutige Gesellschaft ist derart plural geworden, dass ich ohnehin nicht feststellen kann, dass die Summation neuer Ideen wirklich so neu sei. Außerdem weiß ich immer nicht, warum das fortschrittsfanatische Europa nicht längst den dazu passenden Typ des fortschrittsabhängigen Homo sapiens kreiert hat. Vielmehr findet überall ein Rückzug statt, den ich bedenklich finde. Die glücklichen neuen Ohren (Zender) sind leider nicht gewachsen. Also bin ich skeptisch gegenüber Begriffen wie „unerhört“, „unbequem“ und „außergewöhnlich“.

Und bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie ja nicht aus Ihren Träumen wecken, aber auch Ihr Schreiben enthält Sprach-Hülsen wie „spannend-tolle Interpreten“, „hoch begabte Klangkünstlerin“, „spannende Komponistin“, „zeitthematisch“, „hoch-gradig intellektuell“ und so weiter ist das Neue damit zu fassen? Man findet diese Worte zu oft, als dass sie mir Angst machen würden. Sie beunruhigen mich aus ganz anderen Gründen, denn sie reflektieren das manipulierbar gewordene Subjekt mit dem Anspruch eines Über-Ichs. Der vor 20 Jahren angeblich ausgefochtene Streit ist nie beendet worden. Es gab keine Verliehrer und keine Gewinner. Er begann im 19. Jahrhundert mit dem Ästhetiker Hanslik im Streit, der mit den Antipoden Wagner und Brahms umrissen werden darf, aber wirklich zwei Lager meint. Das setzt sich mit Nono und Schostakovitsch fort und fand einen letzten Höhepunkt im Streit zwischen Lachenmann und Henze.

Mahnkopf hat dann noch eine recht aggressive Schrift nachgereicht und dann wurde es ruhiger. Mit Pärt und Gorecki hatte man sich abgefunden, nun kamen die Techniker mit den neuen Medien. Aber im Überblick dieser Entwicklung ging es doch nie um die Mittel der Klangerzeugung, sondern um ästhetische Positionen im Bezug auf das als Varietät begriffene Verhältnis zur Tradition. Beide Blöcke beriefen und berufen sich auf die Tradition, nur unterscheiden sich ihre Definitionen. Selbst die Negation der Tradition interpretiert ein Verhältnis zu ihr. Da man damit nicht weiterkam, brachte Schönberg den Begriff des Handwerklichen ins Spiel. Die Herkunft dieser Bemerkung verschweigend warfen sich nun die einen mangelnde Inspiration und die anderen mangelndes Handwerk vor die Füße. Aber das war ebenso ergebnislos wie die Traditionstheorie. Die Sowjets brachten dann neue Aspekte in die Diskussion, in denen die musikalischen Mittel gesellschaftlich determiniert wären. Der Gipfel des Unsinns war dann die Theorie des sozialistischen Realismus, der von der „Ideologierelevanz des musikalischen Materials“ ausging. Das war ja eindeutig gegen die zweite Wiener Schule und die neuen Ideen aus Darmstadt gerichtet. Schönberg war aber Jude und im Dritten Reich galt seine Musik als entartet. So musste man einen Modus Vivendi finden, in dem man formulierte, dass Schönbergs Zwölfton-Methode die Häßlichkeit der spätbürgerlich-dekadenten Gesellschaft spiegele. Wenn ich Ihre Antwort lese, wo Sie mir vorhalten, ich hätte Angst vor den neuen Medien der Elektronik unter anderem, dann kommen mir natürlich diese Gedanken einer Ideologierelevanz sogleich in den Sinn, als sei das Postulat des Neuen unmittelbar damit verbunden, welche Mittel (Medien) ein Komponist anwendet. Sie gestatten mir meine Skepsis allein aus einer historischen Erfahrung und Beobachtung in der DDR und dem Umgang mit deren Ästheten, von denen noch einige wenige in unserem Verband Mitglied sind. Und noch eines lassen sie mich bitte anmerken: Alle diese ästhetischen Diskussionen haben weder dazu beigetragen, die Musik der zweiten Wiener Schule oder den damaligen Darmstädter Serialismus salonfähig zu machen noch ihn abzuschaffen. In Ihrem Protestbrief gegen Donaueschingen halten Sie sich leider mit so vielen Dingen an einer brüchigen Oberfläche auf, dass ich damit wenig Aussicht auf Erfolg verbinden kann. Sie wollen eine Musik mit den Eigenschaften „unbequem, zeitthematisch, außergewöhnlich und avantgardistisch“. In einer Demokratie werden Sie aber damit auskommen müssen, dass es eine große Mehrheit gibt, die Ihre Auffassungen über Musik nicht teilt. Und das ist der springende Punkt. Denn entweder sind Sie ein absurder Außenseiter oder der Mehrheit des Volkes fehlt eine künstlerische Allgemeinbildung. Darum fand ich, dass die Komponisten mehr tun müssen, wenn sie etwas bewirken wollen. Der Angriff auf veraltete Strukturen muss an der Wurzel erfolgen und nicht an den Sprossen.

Der innovative Niedergang von Donaueschingen unter anderen Festivals hat gesellschaftliche Ursachen. Die werden sicherlich nicht augenfälliger, wenn man eine tote Kuh aus einem Hubschrauber wirft oder einen Tenor im Blecheimer singen lässt. Wenn Sie mit Ihrer Musik immer nur zeitthematisch sein wollten, liefen Sie ja der Zeit und ihren Erscheinungen hinterher. Als Motor aber sollten Sie selbst zur Zeiterscheinung werden. Sie wissen doch, dass jede Mode mit ihrem ersten Auftreten schon unmodern ist. Das hängt mit der Relativität der Zeit zusammen.

Ich habe Ihnen das mit Respekt und ohne bösartige Absicht geschrieben. Vielleicht werden Sie später merken, dass die kleine Zeit unseres Lebens mehr von uns fordern kann, als wir glauben ertragen zu können. Manche Dinge würden dann sehr klein werden. Ich würde Donaueschingen nicht angreifen.

Es lohnt der Mühe nicht. Wenn es wirklich etwas Besseres gibt, und die Zeit reif ist für dieses Bessere, dann wird es das Gute überstrahlen. An dem Besseren zu arbeiten ist nach meiner Meinung die einzige Alternative zu Protestbriefen und öffentlichem Ereifern über Misslungenes. Lassen Sie sich nicht irre machen von lauten Zustimmungen. Es ist sehr leicht, die Schwielen an den Händen des Ruderers zu loben, wenn man selbst nicht rudert. Wenn ich nicht wüsste, dass Sie das Talent zu einem guten Komponisten haben, hätte ich mir nicht die Mühe meiner Schreiben gemacht. Wichtig waren bisher immer die, die mir widersprachen. Sie waren die Einzigen die mich ernst nahmen.

Ich wünsche Ihnen Glück!

Thomas Buchholz

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