Dass Violinst*innen penibel, zielstrebig und fleißig sind, ist ein abgedroschenes Klischee. Tatsächlich warnt die international tätige Geigensolistin und -professorin Tanja Becker-Bender davor, dass ein kopfloses oder auf Quantität versteiftes Üben sogar Schaden anrichten kann. Welche Übestrategien sich für sie bewährt haben und was sie anderen Übenden empfiehlt, erzählt sie im Interview mit Valeska Müller.
„Dem Gelingen eine Chance geben“
Valeska Müller: Was muss jede Ihrer Übesessions beinhalten und welche Ziele setzen Sie sich dabei?
Tanja Becker-Bender: Mir ist es wichtig, egal ob eine ausgiebige oder nur eine knappe Übesession ansteht, immer eine persönliche Verbindung mit dem Instrument zu haben. Ich fange oft damit an, die „Stimme“ des Instruments aus dem Körper heraus mit langen Tönen zu aktivieren und die nächsten Schritte daraus weiterzuentwickeln. Dafür habe ich eine Reihe verschiedener Übungen zur Auswahl. Natürlich will die Durchlässigkeit der Bewegungen und des ganzen Spielapparats auch wachgerufen werden. Beim Streichinstrument ertastet man die Tonhöhe mit den Fingerkuppen äußerst sensibel – die Ohren müssen also quasi in die Fingerspitzen wandern. Dafür nutze ich einige Akkordkombinationen, um das Feingefühl immer wieder neu zu justieren. Nachdem man den Körper und das Instrument wachgerufen hat, geht es dann aber natürlich um andere Fragen: An welchem Repertoire arbeite ich in diesem Moment? Habe ich ein ganz neues Werk vor mir, dessen Welt ich noch gar nicht kenne? Das Entdecken neuer oder wenig bekannter Werke hat zum Glück ja kein Ende… Oder tauche ich wieder in die Welt eines bekannten Stückes ein und möchte es frisch entdecken? Für mich ist es wichtig zu spüren, was in dem Werk gesagt wird, was die Motivation und innere Notwendigkeit des Komponisten war und was auch ganz eigen und neu in diesem Werk ist. Dabei geht es sowohl um ein intuitives aber auch um ein bewusstes Erfassen des Werkes.
Valeska Müller: Wie schaffen Sie es, das Üben über Wochen zu strukturieren?
Tanja Becker-Bender: Mein Ziel ist immer, im Konzert größtmögliche Freiheit zu haben, zu erzählen und die Musik fließen zu lassen. Dafür muss man auch die Konstruktion des Werkes erfasst haben, innerlich alle anderen Stimmen mitspielen können, Details im Kontext einordnen und neben der dafür notwendigen sachlichen Arbeit auch die erste Frische und Begeisterung erhalten. Für mich ist es gut, früh auswendig zu lernen, um die verschiedenen Ebenen nach und nach aufzubauen. So entsteht von innen heraus auch die Bereitschaft zur Spontanität im Konzert, auch im Zusammenspiel mit anderen. Am Anfang steht aber die ganz klare Arbeit: Meine Partituren sind oft bunte Farbkästen, in denen ich bestimmte Harmonien mit Farben in Verbindung setze, einzelne Stimmen heraushebe oder quasi architektonisch „Wegmarken“ nachvollziehe, um vieles bewusst zu machen, bevor es wieder unterbewusst werden kann.
Valeska Müller: Sie unterrichten als Professorin an der HfMT Hamburg. Wie bringen Sie Studierenden dort „richtiges“ Üben bei?
Tanja Becker-Bender: Üben ist natürlich etwas Individuelles, weil jeder seine eigene Persönlichkeit, Stärken und vielleicht auch Sorgen mitbringt. Für mich ist es im Unterricht wichtig zu vermitteln, dass Üben einen positiven Geist braucht, der nicht mit negativen Emotionen wie Ungeduld, Druck oder Wut einhergeht. Man darf sich nicht ärgern über das, was noch nicht geht, weil sonst Ängste auch etabliert und eingeübt werden können. Es gibt von Franz Liszt einen wunderbaren Leitspruch, den man sich immer wieder vorsagen kann: „Es geht nicht um das Üben der Technik, sondern um die Technik des Übens.“ Also, welche Methoden verwende ich, um mein Können und meinen Horizont in dem Moment weiterzuentwickeln? Aus meiner Sicht muss man zuerst dem Gelingen eine Chance geben. Das heißt natürlich auch, sich Werkzeuge anzueignen wie „Modelle zu bauen“, Schwierigkeiten zunächst zu reduzieren (zum Beispiel linke und rechte Hand einzeln üben), sowie fassbare Einheiten zu erarbeiten. Wichtig ist es vor allem auch, beim Üben immer hellwach zu sein und sich sehr gut zuzuhören. Ein Aufnahmegerät hilft, innere und äußere Wahrnehmung zusammenzubringen. Wenn man nicht mehr aufmerksam gegenüber dem sein kann, was man tut, dann ist es besser, eine Pause zu machen. Ein häufiger Fehler ist es, so lange an einem Problem zu bohren, bis man ungeduldig wird, nicht mehr wahrnimmt, was man tut und schlechte Muster einübt. Dieses monotone Wiederholen ist gefährlich. Wiederholen an und für sich ist wichtig, aber ich beobachte, dass Wiederholungen gerne zu schnell hintereinander und ohne klare Vorstellung davon, was man verändern will, erfolgen. Das stumpft die Wahrnehmung ab, sowohl gegenüber dem Gehör als auch gegenüber dem Bewegungsapparat – und da könnte sicherlich auch eine von vielen Quellen von Schmerzen oder sogar Erkrankungen liegen.
Valeska Müller: Gibt es überhaupt so etwas wie ein „richtiges“ Üben?
Tanja Becker-Bender: Das Üben ist, wie jeder kreative Prozess, sehr persönlich und es wird dafür viele richtige Wege geben. Alles, was konstruktiv ist, bei dem man mit sich und der Materie respektvoll umgeht und wo man geduldig und hartnäckig einen Schritt nach dem anderen macht, würde ich als gelingendes Üben bezeichnen. Aber alles, was Muster auf ungesunde Weise festschreibt, kann körperlich, künstlerisch und psychologisch wirklich gefährlich sein.
Valeska Müller: Würden Sie sagen, dass Sport wichtig ist, um das Üben als Profimusikerin zu schaffen?
Valeska Müller: Gibt es denn Gemeinsamkeiten zwischen dem Sport machen und dem Üben in der Musik? Kann man beim Üben vom Sport lernen?
Tanja Becker-Bender: Ich glaube, alles, was auf höchstem Niveau geschieht, können nur die wenigen wirklich komplett erfassen, die es machen. Eine Gemeinsamkeit ist sicherlich die Hartnäckigkeit, mit der man an etwas arbeitet und es schrittweise aufbaut. Zudem hat man in der jüngeren Zeit in der Musik angefangen, mentales Training von den Sportlern zu übernehmen. In beiden Gruppen, bei Sportlern und bei Musikern, muss man Leistungen im entscheidenden Moment abrufen können. Mentales Üben kann dabei sehr hilfreich sein, zum Beispiel, um ein Stück ohne das Instrument in Gedanken durchzuspielen, auch mit der genauen Vorstellung, wie sich Griffe und Bogenkontakt anfühlen. Diese Arbeit kann sehr gut dazu beitragen, im Konzertmoment die notwendige Stabilität zu haben.
Valeska Müller: Mentales Üben ist natürlich eine reine Kopfsache. Aber würden Sie normales Üben als Sport bezeichnen?
Tanja Becker-Bender: Da müsste ich wirklich fragen: Was ist Sport? Der Körper kann natürlich ins Schwitzen geraten, wenn man wirklich sehr engagiert übt. Aber ich glaube, dass die Kalorien, die man verbrennt, doch nicht die gleichen sind wie beim Joggen. Die Muskeln sind sehr wach und werden in ihrer Präzision extrem gefordert. Es sind aber doch eben nur sehr kleine Muskeln. Vor allem ist unser musikalisches Üben sehr fordernde geistige Arbeit.
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