Brett Yang und Eddy Chen, besser bekannt als TwoSet Violin, gehören mit über vier Millionen YouTube-Abonnenten zu den international reichweitenstärksten Comedians der Klassik-Szene. Eine Konstante im Œuvre der beiden Profi-Geiger sind die Verweise auf den fiktiven Altmeister „Ling Ling“ der – so heißt es – täglich bis zu 40 Stunden geübt haben soll. Nur logisch, dass auch auf den Fanartikeln der beiden ein kurzer bestimmender Ausdruck nicht fehlen darf: „Practice“. Diese Späße funktionieren, weil sie damit weltweit einen Nerv der (Klassik-)Szene treffen. Wer Musik machen will, muss üben. Und auch wenn man glaubt, dass es mittlerweile Allgemeinwissen ist, dass der Übeertrag mehr von der Qualität statt der Quantität abhängt, kann man sie noch durch die Übezellen und Musikhochschulflure geistern hören: das schlechte Gewissen und den Zweifel, dass man vielleicht doch erfolgreicher wäre, wenn man eben 40 Stunden am Tag üben würde. Wenn das allerdings keine Option ist: Wo lernt man, gut zu üben – und was ist „üben“ eigentlich?
Der komplizierte Weg zum Schlüssel des Musizierens
Dass die Antworten auf diese Fragen wesentlicher Bestandteil für eine gute Musiker*innen-Ausbildung sind, erkennen auch immer mehr Musikhochschulen und sorgen für entsprechende Angebote oder Personal. Hauke Siewertsen von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover ist so ein Beispiel, auch wenn seine Aufgaben am Institut für Musikermedizin auf den ersten Blick nicht danach aussehen: Der studierte Cellist, Musiker*innen-Coach, Sportwissenschaftler und -psychologe unterrichtet, so steht es auf der Homepage der Hochschule, im Bereich Physio- und Psychoprophylaxe und managt die hochschuleigenen Bewegungsangebote. Nach den gesuchten Antworten auf die Übe-Fragen klingt das nicht direkt. Das liegt aber womöglich an einem zu engen Übe-Begriff: „Mir begegnen immer wieder Musiker*innen, die nur die Momente als Üben bezeichnen, in denen sie auch tatsächlich am Instrument Töne produzieren“, berichtet Siewertsen der neuen musikzeitung von seinen Erfahrungen aus Hochschullehre und Workshops. Weiter erklärt er, dass das aktive Spielen nur ein Aspekt von vielen sei, deren Gesamtheit durch diese Ansicht aber zu wenig Aufmerksamkeit bekäme. Mit seinem Angebot greift er dieses Potenzial auf und fokussiert viele der unterrepräsentierten Aspekte, die aber erheblich zu einem effektiven und effizienten Üben beitragen. Da stellt sich natürlich die Frage, woraus Üben eigentlich besteht.
Auf der Suche nach dem absoluten Kern des Übens stößt man auf Eckart Altenmüllers Definition. Die formuliert der Neurologe und Koryphäe der Musikermedizin in seinem Artikel „Hirnphysiologische Grundlagen des Übens“ folgendermaßen:
„Üben ist eine zielgerichtete musikalische Betätigung, die dem Erwerb, der Verfeinerung und dem Erhalt sensomotorischer, auditiver, visueller, struktureller und emotionaler Repräsentationen von Musik dient.“ Dazu ergänzt er ausdrücklich: „Üben setzt dabei nicht immer motorische Tätigkeit voraus, sondern kann auch als rein gedankliche Aktivierung und Verfeinerung dieser Repräsentationen geschehen. Wir sprechen dann von mentalem Üben. Durch Üben werden auch die körperlichen Voraussetzungen zur Realisierung der mentalen Repräsentationen in Wechselwirkung vom zentralen Nervensystem und Körperperipherie erworben.“
Vereinfacht ausgedrückt sind unter Üben also alle Prozesse zu verstehen, bei denen man versucht, musikalische Gedanken und die für ihre Klangerzeugung nötigen Bewegungsabläufe in den Kopf und Körper zu kriegen. Das angepeilte Ziel wäre dann die Fähigkeit ein bestimmtes Werk, Genre oder ganz allgemein den eigenen Vorstellungen entsprechend musizieren zu können.
Wie viel mehr die Tätigkeit des Musizierens als die reine körperliche Aktivität des Spielens oder Singens beinhaltet, wird schon dadurch deutlich, dass von fünf Aspekten in Altenmüllers Definition allein der sensomotorische auf die gezielten Bewegungen des Körpers verweist. Diese Ansicht findet sich auch in dem Praxis-Handbuch „Optimal Üben“, das Barocktrompeterin Susan Williams für das Netzwerk Musikhochschulen verfasst und herausgegeben hat. Das zusammengetragene Wissen zu Theorie, Praxis und dem Aneignen guten Übens ergänzt zu Altenmüllers Definition dabei einen wesentlichen Punkt: den Umstand des Auftritts oder der Präsentation, als das worauf das Üben hinarbeitet. Das wirkt vielleicht profan, allerdings haben mehrere Studierende von verschiedenen Hochschulen auf Anfrage bestätigt, dass in der Realität von vielen Übenden das Auftrittstraining tatsächlich nicht zwangsläufig zum Üben dazu gehört.
Um sowohl die Interpretation oder Performance als auch das eigene Nervenkostüm für das Konzert vorzubereiten, eignet es sich, sich bei Methoden zu bedienen, zu denen die Sportpsychologie in den letzten Jahrzehnten ausführlich geforscht hat: das mentale Training. „Tatsächlich gibt es – auch aus den Reihen der Musik – eine gute Studienlage, dass eine Kombination aus körperlichem und mentalem Üben den am längsten anhaltenden Effekt zu haben scheint“, berichtet Hauke Siewertsen. In vielen Bereichen gibt es tatsächlich keine evidenzbasierte Forschung zur Effektivität von Übe-Methoden in der Musik. Das ist auch einer der Gründe, warum Siewertsen – wegen der Musik – Sportwissenschaft und angewandte Sportpsychologie studiert hat. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Übeprozesse knüpfe daher oft an die zuvor gemachten Erkenntnisse aus dem Sportbereich an. Das erklärt auch, wie beschwerlich der Weg ist, den diese Informationen gehen müssen.
In Musikschulen, Konservatorien und Musikhochschulen ist von solchen Strukturen auch aktuell noch nichts zu sehen. Das heißt allerdings nicht, dass jede*r Studierende ohne Kontakt zu musikpsychologisch fundiertem Üben auf Gedeih und Verderb verloren ist. „In meinen Seminaren und Workshops begegnen mir immer wieder Studierende und Lehrende, die auch auf einen ganzen Blumenstrauß an Übe- und Auftrittstrainingsmethoden zurückgreifen können, die durchaus dem Forschungsstand entsprechen“, diese aber nie bewusst gelernt oder systematisiert hätten, so Siewertsen.
Es hängt also an den jeweiligen Hochschulen oder einzelnen Lehrenden, ob Studierende die Chance haben, ohne eigenes Experimentieren und Recherchieren die kostbaren Informationen, die zu ihrer individuellen Übe- oder Konzertvorbereitungs-Routine führen, von den zahlreichen teils kontraproduktiven Dogmen zu trennen.
Interessant ist bei all den teils in der Musikszene entwickelten, teils aus der Sportpsychologie entlehnten Übe-Prinzipien, wie sinnvoll geplanten Einheiten mit Pausen, variierendem Üben, bewussten mentalen Übephasen, dem Springen innerhalb des zu übenden Materials, der Pflege eines produktiven Geisteszustands, genügend Schlaf, realistisch gesetzten Zielen, produktiver Selbsteinschätzung, dem Finden der eigenen Motivation und dem Etablieren einer förderlichen Feedbackkultur, dass diese fast ausschließlich das Ziel haben, den herkömmlichen Übeprozess zu optimieren. Dabei legt ein Blick auf Gesetzmäßigkeiten des Sports auch die Frage nahe, ob neben dem methodischen Inhalt nicht auch grundsätzliche Sachen, wie das typische Übe-Setting in den Fokus gerückt werden sollten. Auf die Unterschiede zwischen dem Training im Sport und dem musikalischen Üben angesprochen, stellt Hauke Siewertsen fest: „musikalisches Üben findet oft alleine statt, das Training im Sportbereich eher in der Gruppe. Das hat auch Einflüsse auf die Motivation: Der hier greifende Hawthorne-Effekt beschreibt, dass man unter Beobachtung aktiver ist und effektiver arbeitet.“ Vielleicht wird es in der nächsten Generation also Standard sein, auch einen Teil aller Phasen des Übeprozesses sich gegenseitig coachend zu zweit oder in Gruppen zu bestreiten.
Bis dahin werden Übe-Enthusiast*innen, die Musikpsychologie und suchend-reflektierte Lehrende wie aus den nebenstehenden Interviews weiter die Möglichkeiten guten und individualisierten Übens erproben und vermitteln. Wie man an dem Einblick in die „Sieben Quadratmeter“ der Übezellen-Realität zur Rechten aber sehen kann, ist es trotz der Zunahme von Übe-Professionalisierung wohl noch ein langer Weg, bis niemand mehr den Witz vom 40 Stunden-„Ling Ling“ versteht.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!